Ruandas Justiz- und Gefängniswesen kann die Folgen des Völkermordes von 1994 nicht bewältigen
Die Gefängnisse Ruandas sind seit 1994 restlos überfüllt; das Land kommt mit der juristischen Aufarbeitung des Völkermordes nicht recht voran. Nun sollen die Personen, denen weniger schwerwiegende Taten vorgeworfen werden, vor traditionellen Laiengerichten erscheinen. Um das Los der Untersuchungsgefangenen zu verbessern, haben sich inzwischen auch internationale nichtstaatliche Organisationen im Gefängniswesen engagiert.
von Barbara Vital-Durand
Ende März 1999 saßen nach Angaben des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) 123.462 Häftlinge in Ruandas Gefängnissen. Das sind zwei Prozent der Gesamtbevölkerung des Landes; diese Zahl schließt die Insassen der Kommunalgefängnisse (cachots communaux) ein. Die überwiegende Mehrheit von ihnen wird beschuldigt, sich am Völkermord gegen die Tutsi-Bevölkerung und moderate Hutu-Vertreter beteiligt zu haben.
Vor dem Völkermord 1994 wurde die Kapazität der Gefängnisse Ruandas auf 10.000 geschätzt, es gab knapp über 8400 Gefangene. Jetzt sind sie vollkommen überbelegt; die internationalen Standards für die Behandlung von Gefangenen werden in jeder Hinsicht unterschritten. Überall schlafen Menschen, manchmal draußen in der Kälte und im Regen, überall hängen persönliche Habseligkeiten von Gefangenen. In einem der Kommunalgefängnisse starben noch 1998 innerhalb von neun Monaten 30 Prozent der Häftlinge wegen schlechter Haftbedingungen.
Gefangene werden in Ruanda in vier Kategorien eingeteilt: Zur ersten Gruppe gehören Personen, die beschuldigt werden, den Völkermord organisiert oder besonders scheußliche Morde begangen zu haben; zur zweiten Kategorie werden Menschen gerechnet, die Andere umgebracht haben sollen; in der dritten Gruppe sind Personen, die für Übergriffe ohne Todesfolge angeklagt werden sollen; Kategorie vier sind Gefangene, die beschuldigt werden, Eigentumsdelikte begangen zu haben.
Trotz großer Anstrengungen der ruandischen Behörden und Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft sind bisher nur wenige Gerichtsverfahren abgeschlossen worden. Bis Anfang 2000 wurden nur 1500 wegen Völkermord Angeklagte verurteilt. Die vorgesehene Entlassung von Tätern der untersten Kategorie kommt nur so schleppend voran, dass das Gefängnissystem kaum entlastet wird. Im Gefängnis von Nsinda waren im Januar 1999 zum Beispiel von 12.328 Gefangenen nur sechs verurteilt. Und noch immer sitzen zu Unrecht Beschuldigte im Knast. Selbst das Justizministerium gesteht zu, dass ungefähr zwanzig Prozent der wegen Beteiligung am Völkermord Inhaftierten unschuldig sind.
Um den Prozess der Gerichtsverhandlungen zu beschleunigen, werden jetzt alternative Justizsysteme in Betracht gezogen, die aber noch nicht funktionieren. Ab Mitte des Jahres 2000 sollen Gacaca genannte traditionelle Gerichte auch für Häftlinge zuständig sein, die der Beteiligung am Völkermord angeklagt werden. Ausgenommen sind lediglich die Gefangenen der ersten Kategorie.
Die Mitglieder der Gacacas werden von den Kommunen gewählt. Traditionell waren diese Gerichte nur für kleine alltägliche Konflikte zuständig - Familienangelegenheiten, Streitigkeiten um Vieh und Ähnliches. Ziel der traditionellen Gacacas war es, einen Kompromiss zwischen den verschiedenen Parteien zu finden, nicht einen Schuldigen auszumachen und zu bestrafen (vgl. "der überblick" 1/96).
Nun sollen von der Präfektur bis zum kleinsten Dorf auf jeder Verwaltungsebene Ruandas Gacacas eingerichtet werden. Es soll insgesamt tausend geben; 268.000 Personen sollen ihnen angehören. Das Prinzip der Gacacas besteht darin, alle an einem Verbrechen Beteiligten - Opfer, Angeklagte und Zeugen - zu versammeln, um herauszufinden, was wirklich passiert ist: Wer ist tot, wer hat ihn oder sie getötet, was wurde von wem gestohlen? Anders als beim traditionellen Gacaca wird am Ende ein Urteil stehen. Die Todesstrafe ist ausgeschlossen. Das Gacaca soll dem Verurteilten vorschlagen können, dass die Hälfte seiner Strafe in Gemeinwesenarbeit umgewandelt wird.
In weiten Teilen der Bevölkerung wird die Anwendung der Gacacas auf Verbrechen des Völkermordes kritisiert. So wäre es für bestimmte traumatisierte Opfer, insbesondere vergewaltigte Frauen, oft unmöglich, ihren Fall in der Öffentlichkeit darzustellen. Außerdem wird das starke Misstrauen in der Bevölkerung und ihre Spaltung in zwei Lager als großes Hindernis gesehen, dass in den Gacacas überhaupt die Wahrheit ans Licht kommt.
Mit dem Rückgriff auf die Gacacas, so die Befürworter dagegen, wird für die Opfer ein Forum geschaffen, auf dem sie ihr Leid öffentlich klagen können, was auch eine kathartische Wirkung haben kann. Gleichzeitig können in diesem Rahmen Entschuldigungen ausgesprochen werden. So könne ein Dialog entstehen, der auch Aussöhnung ermögliche.
Die nahezu 125.000 Gefangenen Ruandas kosten viel Geld und Personal. Trotz der großen Anstrengungen, die der Staat und die Gefängnisverwaltung zur Verbesserung des Managements unternommen haben, ist Unterstützung von außen weiter notwendig. Das Rote Kreuz versorgt die Hälfte der Häftlinge mit Essen, Prison Reform International (PRI) konzentriert sich auf die Arbeit in den großen Gefängnissen, während die Schweizer Organisation Dignité en Detention (Würde in der Gefangenschaft) in einigen kommunalen cachots kleinere Projekte unterhält.
PRI hat die die Bedingungen für die Projekte und Rollen der Partner in einem Memorandum of Understanding mit der rwandischen Regierung festgelegt. Dabei hat PRI auf seinem unabhängigen Status bestanden. Für die sensiblen Fragen in Ruanda ist es andererseits wichtig, dass sich eine Beziehung größten Vertrauens zwischen den Partnern aufbaut. Das ist dem kleinen Team von PRI mit der Gefängnisverwaltung gut gelungen.
Die Behörden sind mit der Betreuung der Gefangenen eindeutig überfordert: Auf 175 Gefangene kommt in Ruanda nur ein Wärter. Deshalb wurde unter den Gefangenen eine Hierarchie geschaffen: Die Gefängnisverwaltung ernennt Zellenchefs, die für Ordnung sorgen sollen. In den Zellen sind die Gefangenen selbst organisiert und auch an den immer wieder bekannt werdenden Fällen von Korruption oft maßgeblich beteiligt.
Bisher stammten die meisten Wächter aus dem Militär; keiner hat jemals eine Ausbildung für den Strafvollzug erhalten. Daher ist es unerlässlich, ihnen einige Grundregeln der Menschenrechte und der Behandlung von Häftlingen sowie der Gefängnisverwaltung beizubringen. Die Regierung hat zwar vor einigen Monaten beschlossen, die ehemaligen Soldaten durch Zivilisten zu ersetzen, aber es wird noch einige Zeit dauern, bis dieser Prozess abgeschlossen ist.
PRIs Arbeit konzentriert sich auf drei Punkte: Ausbildung und Training des gesamten Gefängnispersonals vom Wärter bis zum Direktor; verschiedene Konstruktions- und Produktionsprogramme für die Gefangenen; und finanzielle und logistische Unterstützung der Gefängnisverwaltung - zum Beispiel die Bezahlung eines Teils des Personals, neue Ausstattung für das Justizministerium oder die Einrichtung von Managementgruppen und deren Unterstützung.
Zunächst rekrutiert PRI die ruandischen Ausbilder für das Projekt. Mit diesen gemeinsam wird in einem einwöchigen Seminar ein Ausbildungsprogramm erarbeitet. Dieses führen ein Mitarbeiter von PRI und die rwandischen Ausbilder mit einer Gruppe von höchstens zehn Wärtern über mehrere Tage durch. Das Gefängnispersonal wird mit grundlegenden Dokumenten des Menschenrechtsschutzes bekannt gemacht und erhält zum Beispiel PRIs Making Standards Work in der Landessprache. Die Dokumente erklären dem Gefängnispersonal insbesondere, wie die Minimalregeln der Vereinten Nationen zur Behandlung von Häftlingen zu verstehen sind und angewendet werden müssen. Im nächsten Schritt des Programms werden mobile Ausbildungsteams von drei Personen ausgebildet, die im ganzen Land in den Gefängnissen Seminare für das Personal durchführen sollen.
Ein weiterer Arbeitszweig von PRI sind Bau- und Produktionstätigkeiten. In Remera und Butare wurde eine Ziegelei aufgebaut, die 70.000 Backsteine hergestellt hat. PRI finanzierte das Holz für die Brennerei. Die meisten Steine wurden verkauft oder für die Rekonstruktion der Häuser der Gefängniswächter benutzt. Danach lief das Projekt leider aus - auch weil die beiden Gefängnisdirektoren von Butare I wegen Korruption inhaftiert wurden und der Direktor von Butare II nach Byumba versetzt wurde.
In Butare haben Gefangene unter der Leitung von PRI eine Fischfarm aufgebaut. Hier wurden dreizehn Teiche gesäubert und renoviert. PRI ließ das Wasser analysieren, kaufte die notwendigen Handwerkszeuge, Säuberungsmittel, das Fischfutter, die Jungfische und bezahlte die Löhne der Wächter, die auf die Seen aufpassen sollten. In Cyangugu kaufte PRI zehn Schweine und bezahlte deren Futter sowie Material für einen Schweinestall und die tierärztliche Behandlung. Die Schweine vermehrten sich, im Februar 1999 waren es 64 Schweine, von denen 52 verkauft werden konnten. In Myiove bauten Gefangene einen Stall, einen Wassertank und eine Hühnerfarm. Als die Bauarbeiten im August 1999 beendet waren, erstand PRI 200 Hühner. In Cyangugu baute PRI eine Nähwerkstatt auf und stellte Möbel, Stoffe, Nähmaschinen und andere Werkzeuge. Langsam steigt die Zahl der Aufträge, im September 1999 arbeiteten Gefangene an 15 Maschinen, später soll die Kapazität auf 30 steigen.
Auch im Zentralgefängnis von Kigali PCK und in Butare I und II stellte PRI die Werkzeuge zur Renovierung der dortigen Holzwerkstätten zur Verfügung. Danach kamen die notwendigen Maschinen, um die Werkstätten funktionsfähig zu machen. Zwischen Mai und Juli 1999 machte die Werkstatt in Kigali bereits 1.267.200 rwandische Francs (7200 Mark) Gewinn. Außerdem hat PRI verschiedene Projekte aufgebaut, in denen Gemüse, Bananen, Kaffee und Sorghum angebaut und dann auf den Märkten verkauft werden. Hier ist allerdings Vorsicht geboten: Wenn dieselben Produkte auch von den ansässigen Bauern produziert werden, kann die Konkurrenz aus dem Knast auch auf Ablehnung stoßen.
Für ihre Arbeit erhalten die Gefangenen 100 rwandische Francs (ungefähr 50 Pfennig) am Tag, die Wächter erhalten 500 rwandische Francs. Der Lohn der Häftlinge wird auf ein Bankkonto eingezahlt, in jedem Gefängnis ist ein Sozialarbeiter für die Konten der Gefangenen zuständig.
Als das Programm im Juli 1998 startete, waren durchschnittlich 156 Häftlinge am Tag in dem einen oder anderen Projekt beschäftigt. Bis heute ist diese Beteiligung auf durchschnittlich 2091 Gefangene am Tag gestiegen. Wenn deren Arbeit sich zu rentieren beginnt, soll das Geld zur Bezahlung der benötigten Materialien und der Löhne für Wächter und Gefangene eingesetzt werden. Im Dezember 2000 werden die Projekte der ruandischen Regierung übergeben, welche dann die alleinige Verantwortung haben wird, sie weiterzuführen. Um dies zu erreichen, hat sich PRI bereits aus der Arbeit in den Gefängnissen zurückgezogen, wo das Programm gut läuft. Dort werden die Erträge zwischen dem Innenministerium und Gefängnis aufgeteilt und benutzt, um die Lebensbedingungen der Häftlinge und die Arbeitsbedingungen des Gefängnispersonals zu verbessern.
Um die Selbstständigkeit der Projekte und deren Produktivität zu fördern, hat PRI gemeinsam mit dem Justizministerium Vorschläge erarbeitet, wie das Management verbessert werden kann. Es wurde entschieden, in jedem Gefängnis ein Komitee einzurichten, welches sich aus dem Gefängnisdirektor, dem Vizedirektor, dem Buchhalter, einem Sozialarbeiter, einem Gefangenenvertreter und einem Personalvertreter zusammensetzt.
Auf eine Anfrage der ruandischen Regierung hat PRI im Januar 2000 ein Seminar über gemeinwesenorientierte Arbeit als Alternative zum Straffvollzug organisiert. Damit könnte erreicht werden, dass erstverurteilte Kleinkriminelle oder wegen geringer Vergehen Verurteilte, die zu weniger als einem oder zwei Jahren Haft verurteilt wurden, nicht ins Gefängnis müssen. Außerdem liegt der Schwerpunkt auf der Rehabilitation des Gefangenen und dient dem Interesse der Gesellschaft. Es hilft den Familien und Freunden des Verurteilten, die nicht mehr so stark von der Gesellschaft ausgeschlossen werden, weil einer der Ihren im Gefängnis sitzt. Letztlich werden auch die Gefängnisse und damit das Staatsbudget entlastet.
Sollten sich die Behörden für diesen Weg entscheiden, würden erstmals auch Schwerverbrecher auf diese Weise ihre Strafe verbüßen können. Da die öffentliche Meinung den Angeklagten des Völkermordes gegenüber ängstlich und feindlich eingestellt ist, ist das eine schwierige Entscheidung. 1998 hatte die Regierung immerhin den Mut, 10.000 Gefangene freizulassen, über die keine Akten für die Anklage vorlagen
Ein erfreulicher Nebeneffekt der PRI-Projekte ist, dass das Verhältnis der Bevölkerung zu den Gefangenen sich zu entspannen beginnt. Die Menschen sehen die Häftlinge bei der Arbeit und nehmen sie anders wahr. Als ein unabhängiger Experte im Juli 1999 in Ruanda war, um die Landwirtschafts- und Tierzuchtprojekte von PRI zu evaluieren, erzählten ihm Häftlinge in Rilima, dass die Bevölkerung der benachbarten Hügel eine "menschlichere" Wahrnehmung von ihnen hätte, seit sie ihre Produkte zum Markt bringen. Sie erklärten, es sei nun wieder normal geworden, sich zu grüßen, wohingegen die Menschen vorher beschämt auf den Boden gesehen hätten, wenn sie Gefangenen begegneten.
aus: der überblick 01/2000, Seite 71
AUTOR(EN):
Barbara Vital-Durand:
Barbara Vital-Durand ist im Pariser Büro der nichtstaatlichen Organisation "Penal Reform International" für Ruanda zuständig.