Wiedergutmachung in Guatemala
In den achtziger Jahren fand in Guatemala ein Bürgerkrieg statt, unter dem vor allem die Mayabevölkerung litt. Zehn Jahre sind es her, seit Guerilla und Armee die Waffen nieder legten. Die Aussöhnung zwischen den Gegnern kommt nur schleppend voran. Das Programm zur Wiedergutmachung ist aber das in ganz Lateinamerika bisher ehrgeizigste und finanziell stärkste seiner Art.
von Richard Bauer
Eine eigenartige Stimmung herrscht auf der idyllischen Waldlichtung außerhalb von Comalapa, einem Marktflecken weit im Hinterland von Guatemala gelegen. Ein halbes Dutzend Mayafrauen haben sich auf dem Gras niedergelassen, ein paar Vögel zwitschern im Geäst. Die Frauen starren vor sich hin, von Zeit zu Zeit heben sie schüchtern den Blick und mustern die fremden Besucher. Dann beginnen sie reihum zu erzählen. Die Tränen sind ihnen zuvörderst. Was sie verbindet, ist die Trauer um den im Bürgerkrieg verlorenen Sohn, den Bruder, den Vater oder den Ehemann. Alle wollen sie das Gleiche, nämlich Gewissheit über den Verbleib ihrer Angehörigen und ein christliches Begräbnis. "Wir sahen, wie sie unsere Männer abführten, aber wir wissen nicht, wie und wo sie getötet wurden", sagt Doña Carmen, eine verhärmte fünfzigjährige Witwe mit drei Kindern.
Trotz aller Drohungen und Einschüchterungen ehemaliger Paramilitärs und Armeeangehöriger haben die Frauen eine Vereinigung von Hinterbliebenen gegründet, der heute 200 Witwen und Waisen aus der Umgebung angehören. Vor allem Männer wurden von Soldaten oder Paramilitärs, in geringerem Masse von Guerilleros, verhaftet oder verschleppt und einzeln oder gruppenweise in Massakern umgebracht. Wo sie bestattet liegen, ist nur in wenigen Fällen geklärt. Laut offiziellen Angaben sind 96 Prozent der Opfer des in den 1960er Jahren angefangenen Konflikts Angehörige der verschiedenen Mayavölker.
Diese machen auch heute noch knapp die Hälfte der Bevölkerung Guatemalas aus. Fast ein Viertel aller Kriegsopfer waren Frauen, die in den entlegenen Landgebieten, nicht beachtet von der Bevölkerung in der Hauptstadt und den internationalen Medien, der brutalen Repression der Armee schonungslos preisgegeben waren. Der Not gehorchend haben gerade Frauen während der Kriegswirren zunehmend soziale Führungsrollen übernommen. Sie haben sich organisiert, sind öffentlich aufgetreten. Heute fordern sie Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für erlittenes Leid.
Das Wäldchen von Comalapa ist zu einem informellen Wallfahrtsort geworden, seit ruchbar wurde, dass hier Hunderte, ja vielleicht Tausende Tote verscharrt wurden. Wo jetzt wieder Bäume und Sträucher wachsen, hatte die guatemaltekische Armee in den 1980er Jahren ein Durchgangslager zur Bekämpfung der Linksguerilla eingerichtet. Als Gefängnis und Folterzentrum soll die Militärbasis gedient haben. Davon ist die Dorfbevölkerung überzeugt. Auch gibt es Indizien dafür, dass hier amerikanische Militärberater wirkten und die Einsatzdoktrin von der "verbrannten Erde" aus dem Vietnamkrieg predigten. Das Lager befand sich an der strategisch wichtigen Straßenverbindung zwischen der Hauptstadt Guatemala-City und dem Bergland von Quiché, seiner Zeit eine Hochburg der Guerilleros. Ende der neunziger Jahre räumten die Militärs die Installationen und säuberten das Gelände. Drei Lastwagen voll mit Leichenteilen wurden bei Nacht und Nebel abgeführt, heißt es. Später, beim Bau der nahe gelegenen Hauptstrasse wurden weitere Wagenladungen mit Erde als Auffüllmaterial wegtransportiert.
Rosalina Tuyuc, eine Mayafrau der Sprachgemeinschaft der Kaqchikel, zupft nachdenklich an ein paar Grashalmen. Sie ist skeptisch, dass man in der Nachbarschaft noch viele Gebeine findet. Da hinten liege ihr Vater, sagt sie und deutet mit dem Kopf in Richtung einer zwischen den Bäumen aufragenden weißen Wand. Diese verwehrt den Zugang zu einem von den Militärs über Jahrzehnte geheim gehaltenen Friedhof. Der heutige Besitzer, ein Offizier im Ruhestand, habe das Land eingezäunt, um zu verhindern, dass dort weiter nach Leichen gegraben werde. 17 Jahre lang habe die Armee in diesem Gebiet eine Operationsbasis für den Kampf gegen die Subversion betrieben. Doña Rosalina schätzt, dass im Umkreis der Waldlichtung 5000 Menschen umgebracht und verscharrt wurden. Bei einem Spaziergang im Wäldchen zeigt sie dem Besucher eine ganze Reihe von Ausgrabungsstätten, wo in den letzten Jahren über 200 Leichen exhumiert wurden.
Die Ausgrabungen sind Teil des Programa Nacional de Resarcimiento, einer von Regierung und Zivilgesellschaft getragenen Initiative zur Wiedergutmachung. Doña Rosalina verlor 1982, auf dem Höhepunkt des Bürgerkriegs, ihren Vater, später ihren Ehemann. In der breiten Öffentlichkeit bekannt wurde sie, als sie der amtierende Präsident Berger an die Spitze der Nationalen Kommission für Wiedergutmachung berief. Inzwischen steht sie auf einer Liste von sechs Guatemaltekinnen, die - nach der guatemaltekische Friedenpreisträgerin Rigoberta Menchú - ebenfalls für diesen Preis vorgeschlagen werden. In ihrer Jugend wirkte sie als Katechetin und Hilfskrankenschwester. Später gründete sie die Bewegung der Kriegswitwen, wurde als Abgeordnete ins Parlament gewählt und kandidierte 1999, allerdings erfolglos, für das Amt des Vizepräsidenten. Geht es nach ihren Plänen, so soll in Comalapa - wie auch an anderen Orten in Guatemala - eine Gedenkstätte für die Opfer des Bürgerkrieges entstehen.
Doch das Programm zur Wiedergutmachung - ein Wahlversprechen Bergers vor der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl im Jahr 2004 - umfasst weit mehr als die moralische Aussöhnung mit den Gräueln der Vergangenheit. In ganz Lateinamerika ist es das bisher ehrgeizigste und finanzstärkste seiner Art. Seit dessen Reorganisation im Jahre 2005 wird das Programm mit Geldern der deutschen Entwicklungshilfe und Beratern der "Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit" (GTZ) unterstützt. Diese hat beim Aufbau der sozialpsychologischen Beratungseinheiten mitgewirkt und vor allem mit Fachkräften die Management-Strukturen und die Verwaltungsabläufe der neuen Behörde verbessert. Für die kommenden drei Jahre sind zur Steigerung der Effizienz des Programms 750.000 Euro zugesagt worden.
Im Zentrum der Arbeit der Kommission steht die materielle Entschädigung Tausender Hinterbliebener durch den Staat. Das guatemaltekische Parlament entschied, pro Jahr 40 Millionen Dollar für Maßnahmen zur Wiedergutmachung zur Verfügung zu stellen, und dies während mindestens elf Jahren. Bei einem guten Dutzend über das ganze Land verteilten Zweigstellen und am Hauptsitz in Guatemala-Stadt können jetzt Geschädigte ihre Anträge einreichen. Davon haben bis heute knapp 25.000 Personen Gebrauch gemacht, eine bescheidene Zahl, wenn man bedenkt, dass eine offizielle Wahrheitskommission 1999 den Bürgerkrieg als eigentlichen Genozid an den Mayas bezeichnet und die Zahl der Opfer auf 200.000 geschätzt hat.
Entschädigungen beantragen können all jene, die Ermordete oder Verschwundene in ihrer Familie haben oder die selber gefoltert oder sexuell missbraucht wurden. Pro getötetes Familienmitglied werden rund 3200 Dollar ausbezahlt. Wer selber geschädigt wurde, kann 2700 Dollar einfordern. Trotz materieller Abgeltung erlischt der Anspruch auf eine richterliche Verfolgung der Schuldigen nicht. Nach einigem Hin und Her verwarf man die Idee einer Witwen- oder Waisenrente. Der bürokratische Aufwand wäre zu groß gewesen. Statt dessen beschloss man das System der einmaligen Abfindung. Seit Beginn des Programms sind erst 4000 Schecks übergeben worden, meist anlässlich feierlicher öffentlicher Veranstaltungen in den Gemeinden. Für Doña Rosalina ist klar, dass man erst ganz am Anfang der Wiedergutmachung steht. Die Bearbeitung der Gesuche sei kompliziert. Viele Antragsteller, die meisten Frauen, besäßen keine schriftlichen Dokumente, weder eine Identitätskarte noch eine Heiratsurkunde noch ein Testament. Dies sei keine Folge des Bürgerkrieges, sondern Gewohnheit. "Noch heute leben viele Frauen wie isoliert. Nur der Mann geht zur Messe, er besucht den Wochenmarkt, er wählt und er reist von Dorf zu Dorf", sagt die Maya-Frau. Wo Dokumente fehlen, treten Zeugen an. Ein zeitlich befristetes Programm für Einträge in Geburts- und Heiratsregistern hat vor wenigen Monaten begonnen.
Die Kommission sei immer wieder kritisiert worden, weil sie die Wiedergutmachung auf die Übergabe von Schecks beschränke, sagt Doña Rosalina. Angesichts der krassen Armut, in der die meisten Hinterbliebenen von Bürgerkriegsopfern lebten, sei die wirtschaftliche Abgeltung für erlittenes Leid absolut gerechtfertigt. Viele Frauen, mit denen sie spreche, erzählten von Not und Krankheiten, von fehlender Beschäftigung und Elend als Folge des Todes oder Verschwindens eines Familienangehörigen. Das Leid habe viele Frauen gebrochen: "Schon mit 40 Jahren können sie nicht mehr arbeiten, sind sie ob all der Tränen, die sie geweint haben, erblindet." Mit Geld lasse sich ein Teil der Alltagsprobleme lösen. Das werde von den Hinterbliebenen vor allem geschätzt. Die moralische Wiedergutmachung, die psychosoziale Betreuung oder der Kampf gegen die Diskriminierung der indigenen Kultur, all das sei zweitrangig, sagt Doña Rosalina.
Vor zehn Jahren, am 29. Dezember 1996, ging mit dem Friedensschluss von Chapultepec der blutigste aller Bürgerkriege in Zentralamerika zu Ende. Die Guerilla wurde entwaffnet, die Armee reduziert. Doch die Aussöhnung mit der schrecklichen Vergangenheit geht in Guatemala nur schleppend voran. In diesem Kontext bedeutet die materielle Entschädigung der Hinterbliebenen von Bürgerkriegsopfern einen wahren Quantensprung. Frauenorganisationen haben es besonders begrüßt, dass Vergewaltigung und andere Formen sexueller Gewalt ausdrücklich als schwere Verbrechen bezeichnet werden, für die Entschädigungen eingefordert werden können.
Mit den Friedensverträgen wollte man eine gerechtere Gesellschaft und eine neue multikulturelle Nation begründen. In der Tat ging es den Konfliktparteien, vor allem den Sozialrebellen innerhalb der Guerillabewegung und ihren Sympathisanten in der Gesellschaft, nicht nur um das Ende des Mordens und Brandschatzens und die Entwaffnung und Wiedereingliederung der Guerilleros. Darüber hinaus hatte man den Ehrgeiz, ein Entwicklungsprogramm für eines der ärmsten Länder Lateinamerikas zu entwerfen und einen neuen contrat social für eine zutiefst gespaltene Gesellschaft zu unterschreiben. Man wollte wegkommen von der Patria del Criollo, der von Mischlingen beherrschten Republik, und den indigenen Völkern, allen voran den Mayas, ihren gleichberechtigten Platz in der Gesellschaft sichern.
aus: der überblick 01/2007, Seite 95
AUTOR(EN):
Richard Bauer
Richard Bauer ist Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung mit Sitz in Mexiko.