Im Südosten Nigerias leiden Nachkommen von Sklaven noch heute unter Diskriminierung
Generationen nach Abschaffung der Sklaverei in Afrika werden in Südost-Nigeria immer noch Menschen aufgrund der Tatsache diskriminiert, dass ihre Vorfahren Sklaven waren. Ihnen werden zum Beispiel vollwertige Landrechte vorenthalten, und bei der (turnusmäßigen) Besetzung der Position des "traditionellen Herrschers" werden sie übergangen. Auch an manchen traditionellen Ritualen dürfen sie nicht teilnehmen. Das führt mancherorts auch zu politischen Konflikten - bis hin zu blutiger Gewalt.
von Axel Harneit-Sievers
Unweit von Enugu in Südost-Nigeria brach im November 1995 in einer aus drei Dörfern bestehenden Gemeinschaft namens Oruku Krieg aus: In einem der drei Dörfer, Umuode, gab die Regierung einen Empfang für Bart Nnaji, einen aus Umuode stammenden Informatiker, der in den USA eine steile akademische Karriere gemacht hatte. Jugendliche aus den beiden anderen Dörfern Orukus griffen die Festversammlung an. Bei Auseinandersetzungen in den folgenden Wochen und Monaten wurden mehrere Menschen getötet und Teile Umuodes zerstört. Zahlreiche Einwohner flohen über die Grenzen Orukus und lebten noch Jahre später in einem Flüchtlingslager in Akpuoga-Nike. Verschiedene Kommissionen und Vermittlungsinitiativen haben seither den Frieden wiederherzustellen versucht. Der am weitesten reichende Vorschlag besteht in der Umsiedlung Umuodes in größerer Entfernung von den beiden anderen Dörfern, doch konnte bisher keine endgültige Einigung darüber erzielt werden, welches Land die Bewohner von Umuode erhalten sollten.
Es gibt zahlreiche gewaltsame kommunale Konflikte in Nigeria, und oft geht es dabei um Landbesitz. Doch der Konflikt in Oruku hat den besonderen Hintergrund, dass die Bewohner Umuodes von ihren Nachbarn als Abkömmlinge von Sklaven betrachtet werden. Ihnen werden keine vollwertigen Landrechte und auch nicht die Besetzung der Position des "traditionellen Herrschers" zugebilligt, die ihnen turnusgemäß zustehen würde. Der Überfall auf den Regierungsempfang im November 1995 war auch eine Reaktion auf das, was Angehörige der anderen Dörfer Orukus als Anmaßung der "Sklavenabkömmlinge" aus Umuode betrachteten.
Ebenso wie in Oruku leben auch in anderen Dörfern und Dorfgruppen der Nkanu Local Government Area (LGA) und benachbarter Kommunen in Enugu State zahlreiche Menschen, die von Sklaven abstammen. Mancherorts bilden sie die Mehrheit der Bevölkerung, anderswo - wie in Oruku - handelt es sich zumindest um zahlenmäßig starke Minderheiten. Sie werden auf Igbo als ohu oder awbia (Sklave) bezeichnet. Der Sprachgebrauch unterscheidet nicht zwischen den wirklichen Sklaven der Vergangenheit und ihren heutigen Nachkommen. Im Englischen werden meist weniger verletzende Bezeichnungen wie settlers oder strangers (Siedler, Fremde) verwendet, wobei Menschen mit Ortskenntnis die weitergehende Bedeutung solcher Begriffe durchaus bewusst ist.
Viele "Freigeborene" (amadi oder diala in Igbo), wie sie sich selbst nennen, betrachten awbia als Menschen zweiter Klasse und sprechen mit deutlicher Arroganz über sie. Weist ein amadi einen awbia auf seine Herkunft hin, kommt dies einer Beleidigung gleich. Ehen zwischen Mitgliedern beider Gruppen werden von vielen amadi grundsätzlich abgelehnt und kommen in der Praxis selten vor. Oft bestreiten amadi den awbia das Recht auf Übernahme besonderer traditioneller Titel oder auf Durchführung bestimmter Rituale - insbesondere des sogenannten igede, eines Tanzes mit einer speziellen Trommelbegleitung, der bei Begräbnisfeierlichkeiten aufgeführt wird. Darüber hinaus bestreiten amadi den awbia bisweilen das volle Landeigentum. Im Vordergrund steht dabei meist nicht das Recht auf Landnutzung für Zwecke der Agrarproduktion selbst. Kritisch ist vielmehr die Frage, ob awbia Land auch verkaufen dürfen. Teile des fraglichen Landes befinden sich im Einzugsbereich der seit der Kolonialzeit stark expandierenden Regionalmetropole Enugu und sind somit auch auf dem Grundstücksmarkt wertvoll.
Diese Konfliktkonstellation besteht wohlgemerkt innerhalb einer Gesellschaft, in der die Sklaverei als Institution in der frühen Kolonialzeit offiziell und spätestens in den 1930-40er Jahren auch effektiv abgeschafft wurde. Die Sklaven-Nachkommen sind heute weder von den Nachkommen der Herren wirtschaftlich abhängig, noch werden sie von letzteren ausgebeutet. Im Gegenteil wird im Igboland oft behauptet, dass viele awbia heute wirtschaftlich besser dastehen als die amadi. Ob dies wirklich stimmt oder allein ein weiteres Stereotyp in der wechselseitigen Wahrnehmung ist, muss dahingestellt bleiben.
Anders als etwa in Mauretanien besteht die Sklaverei heute in den Dörfern im Raum Enugu nicht etwa als soziale Institution oder als wirtschaftliches Ausbeutungsverhältnis weiter. In diesem Sinne gibt es im heutigen Südost-Nigeria tatsächlich keine Sklaven mehr. Aber es gibt nach wie vor Menschen, die stigmatisiert und diskriminiert werden, weil ihre Vorfahren Sklaven waren. Dabei wird heute das historische Faktum der Sklaverei in den alltäglichen Beziehungen der Menschen untereinander und auf symbolische Weise immer wieder reproduziert und aktualisiert. Das aus der historischen Sklaverei begründete Stigma vergiftet so noch Generationen später die Beziehungen zwischen den Nachkommen von Sklaven und Herren - bis hin zu Gewaltausbrüchen wie in Oruku.
Die Geschichte der Region ist von der Sklaverei geprägt: Die "Bucht von Biafra" bildete bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts eine Schwerpunktregion des Sklavenhandels. Von Hafenstädten wie Calabar, Bonny und Brass wurden vor allem im 17. und 18. Jahrhundert Hunderttausende von Menschen als Sklaven in die Karibik, nach Brasilien und in die USA verschleppt, viele von ihnen aus dem heutigen Igboland. Zahlreiche weitere Sklaven verblieben aber in der Region selbst. Das effektive Verbot des transatlantischen Sklavenhandels in den 1840er Jahren beendete diese Sklaverei innerhalb Südost-Nigerias selbst zunächst nicht. Es hat im Gegenteil womöglich sogar eine Ausweitung des lokalen Einsatzes von Sklaven mit sich gebracht, weil die existierenden Mechanismen der "Sklavenproduktion" - eine hohe Bevölkerungsdichte und ein dichtgewobenes Handelsnetz - weiterbestanden, jetzt jedoch der überseeische "Absatzmarkt" fehlte. Außerdem bot der "legitime Handel" des 19. Jahrhunderts (in Südost-Nigeria vor allem mit Palmöl und Palmkernen) Einsatzmöglichkeiten auch für Sklavenarbeit.
Anders als im dicht besiedelten zentralen und südlichen Igboland war die Bevölkerungsdichte im Norden und Nordosten relativ niedrig, sodass es dort vergleichsweise viel freies Land gab. Mancherorts - zum Beispiel in Nike - siedelten die Herren bereits im 19. Jahrhundert ihre Sklaven in getrennten tributpflichtigen Dörfern an, die zugleich als militärische Vorposten zur Warnung und Verteidigung im Kriegsfall fungierten.
Mit der britischen Kolonisierung der Region bis zum Ersten Weltkrieg wurden Versklavung und Sklavenhandel weitgehend beendet und die Sklaverei als Institution offiziell abgeschafft. Dennoch blieben die awbia noch viele Jahre in einer abhängigen Position. Sie blieben den von den Briten eingesetzten Häuptlingen und deren Gerichtsbarkeit untergeordnet und mussten über diese ihre Steuern entrichten. Dies galt selbst dort, wo awbia in getrennten Dörfern lebten. In den 1920er Jahren kam es zu Aufständen, als amadi versuchten, awbia zur Arbeit in den Kohlegruben von Enugu zu verpflichten und deren Löhne einzubehalten. Im weiteren Verlauf der Kolonialzeit bis in die 1950er Jahre konnten awbia sich vielerorts das Eigentum an dem Land sichern, das sie bewohnten und bearbeiteten. Darüber hinaus gründeten awbia mit Unterstützung der Kolonialverwaltung mehrere neue Dörfer - ein Prozess, der auch nach der Unabhängigkeit im Jahre 1960 fortdauerte. Die territoriale Trennung beider Gruppen (mit jeweils eigenem vollem Landeigentum) gilt im Raum Enugu bis heute als beste Strategie, die aus dem amadi-awbia-Gegensatz resultierenden Konflikte zu entschärfen.
In der Kolonialzeit ersetzten einige amadi-Dörfer die Arbeitskraft ihrer ehemaligen Sklaven durch saisonale Lohnarbeit aus entfernteren Teilen des Igbolands. Seit Ende der 1950er Jahre profitierten einige wenige amadi-Dörfer (zum Beispiel das unmittelbar am nördlichen Stadtrand von Enugu gelegene Nike) durch Landverkäufe vom Wachstum der Regionalhauptstadt. Aber der soziale und wirtschaftliche Wandel der Kolonialzeit kam nicht allein den ehemaligen Herren zugute, sondern nutzte auch vielen Nachfahren der Sklaven. Manche awbia-Dörfer profitierten von der Nähe zur Enugu, indem sie sich auf die Nahrungsmittelproduktion zur Versorgung der Stadt spezialisierten. Überhaupt bot die Kolonialzeit im Igboland den awbia - wie auch anderen unterprivilegierten Gruppen der vorkolonialen Epoche - bisweilen gute Aufstiegsmöglichkeiten: Sie waren oft die ersten, die Missionsschulen besuchten, zum Teil wurden sie dorthin gar von ihren Herren geschickt, welche die Schulbildung ihrer eigenen Kinder als eher minderwertige Option gegenüber dem Rollenmodell des erfolgreichen Bauern betrachteten. Sozialer Aufstieg und Berufstätigkeit in der Stadt - dort, wo die eigene Herkunft anderen nicht unbedingt bekannt oder für sie irrelevant ist - bot zumindest einigen awbia die Chance, als Einzelne der Stigmatisierung zu entgehen.
Im Vergleich zu anderen Teilen des Igbolands sind Schulbesuch und Konversion zum Christentum im Raum Enugu allerdings bis heute insgesamt eher unterdurchschnittlich. Seit Jahren engagieren sich die Kirchen - vor allem die in der Region besonders starke katholische Kirche - in sozialen und infrastrukturellen Belangen. Sie tun dies nicht ausschließlich in awbia-Dörfern, aber dort mit besonderem Engagement. Die Kirchen versuchen damit, zum Abbau der Stigmatisierung von Sklaven-Nachfahren und der daraus resultierenden Konflikte beizutragen. Aber auch die Kirche selbst bleibt im Konfliktfall nicht unberührt, etwa wenn die Spaltung sich mitten durch die Gemeinde zieht und - wie aus Oruku berichtet wurde - awbia und amadi beim Gottesdienst in getrennten Sektionen des Kirchengebäudes sitzen.
Als Sklaven-Abkömmlinge stigmatisierte Gruppen der Igbo-Gesellschaft sind sozial erheblich geschädigt. Amadi nehmen für sich in Anspruch, Erstsiedler auf dem Land zu sein, das heißt in direkter Linie von einem mythischen Gründer abzustammen. In der Gedankenwelt der traditionellen Religion gibt ihnen dies eine besondere Verbindung zur Erdgottheit. Aufgrund des Sklaven-Status ihrer Vorfahren fehlt den awbia diese genealogische Verbindung. Sie fallen aus der Logik des Verwandtschaftssystems heraus, auf dessen Basis Igbo-Gemeinschaften ihre Lokalverfassung definieren. Eine Strategie zur Umgehung dieses Defizits ist die Begründung einer eigenen, genealogisch wie politisch "autonomen" Gemeinschaft.
Dabei hilft auch die große Politik, die im wichtigsten Öl exportierenden Land Schwarzafrikas von Auseinandersetzungen geprägt ist, bei denen es um die Verteilung des aus den Öl-Einnahmen gespeisten nationalen Kuchens geht. Diese Einnahmen werden zwischen Bundesregierung, Bundesstaaten und Kommunen (LAG) verteilt. Dabei bietet der "Besitz" einer "eigenen" Kommunalbehörde für die Bewohner nicht nur Prestige. Er bietet zugleich die Gewähr, dass ein Anteil der Öl-Einnahmen, aber auch Gelder beispielsweise für Infrastrukturinvestitionen oder Jobs sowie Aufträge der Regierung an Unternehmer auf lokaler Ebene ankommen. Dieser Mechanismus hat über mehrere Jahrzehnte hinweg zu einer Vervielfachung der Zahl der Bundesstaaten und LAG-Kommunen geführt. Im Igboland wurden seit den 1970er Jahren noch unterhalb der Ebene der LAG-Kommunen sogenannte autonome Gemeinschaften geschaffen, für die die eben skizzierten Mechanismen der Geldverteilung ebenfalls gelten. Jede von ihnen untersteht einem "traditionellen Herrscher" und bildet ein kleines "Königtum". Letzteres ist eine bemerkenswerte Neuerung in einer Gesellschaft, die in vorkolonialer Zeit gar kein Königtum besaß.
Innerhalb solcher politischen Rahmenbedingungen macht es für die Menschen, die als Sklaven-Nachfahren stigmatisiert werden, Sinn, separate "autonome Gemeinschaften" anzustreben. Eine solche Strategie kommt zumindest für Gruppen in Frage, die zahlenmäßig stark genug sind - es müssen zumindest mehrere tausend Menschen sein - und über ein eigenes Territorium verfügen. Tatsächlich finden sich im Raum Enugu einige Beispiele für awbia-Dörfer, die eigene "autonome Gemeinschaften" gefordert und auch erhalten haben.
Bisweilen bedarf es einer einfallsreichen Geschichtsinterpretation, um solch einen autonomen Status zu begründen. Traditionelle Herrscher in Ugwogo und benachbarten awbia-Dörfern in Nike (Enugu East LAG) erzählen ihre Dorfgeschichte heute neu. Im Gegensatz zum Geschichtsbild der amadi argumentieren sie, ihre Vorfahren seien nicht als einzelne gekaufte Sklaven - ohne Verwandtschaftsbeziehungen und daher ohne Anbindung an das Land - nach Nike gekommen. Vielmehr seien ihre Vorfahren selbst Erstsiedler gewesen und erst zu einem späteren Zeitpunkt von den amadi militärisch unterjocht worden. Aus dem fundamentalen Stigma des awbia-Status, dem angesichts seiner religiösen Konnotationen mit weltlichen Mitteln kaum beizukommen ist, wird auf diese Weise ein Problem politischer Unterdrückung, dem mit politischen Mitteln - eben der Autonomie - begegnet werden kann.
Mehrere Generationen nach der offiziellen Aufhebung der Sklaverei in Südost-Nigeria werden Nachkommen von Sklaven noch immer als Menschen zweiter Klasse stigmatisiert. Dies betrifft nicht nur die awbia im Raum Enugu, sondern noch extremer die Nachfahren von "Kultsklaven" (osuin anderen Teilen des Igbolands. Dies sind Personen, deren Vorfahren irgendwann einmal einer traditionellen Gottheit geweiht wurden - "Sklaven" ohne Menschen-Herren, eine vom Rest der Gesellschaft mit tiefsitzenden Ängsten betrachtete Kaste mit erblichem Status.
Die von Kolonialverwaltern, Politikern und Intellektuellen gehegte Hoffnung, zeitlicher Abstand, Christianisierung und sozialer Wandel würden zum Verschwinden solcher Formen von Diskriminierung führen, haben sich nicht im erwarteten Umfang erfüllt. Strategien des Verschweigens blieben ebenfalls weitgehend wirkungslos: Bereits 1956 stellte die Regionalregierung Südost-Nigerias es unter Strafe, eine Person als Sklaven, osu oder ähnlich zu bezeichnen. Das Problem besteht jedoch weiter, und es wird in den Leserbriefspalten regionaler Zeitungen und in Artikeln nationaler Nachrichtenmagazine auch öffentlich diskutiert.
Immerhin haben einzelne Igbo-Gemeinschaften inzwischen offiziell den osuStatus für aufgehoben erklärt. An solchen Prozessen waren auch Personen beteiligt, die Definitionsmacht über Traditionen und lokale religiöse Rituale besitzen, etwa Priester traditioneller Gottheiten. Zugleich bemühen sich besonders die christlichen Kirchen um ein Ende der Diskriminierung. Sie vermitteln in Konfliktfällen wie Oruku und bemühen sich um Integration der stigmatisierten Gruppen in der christlichen Gemeinde und im Klerus.
Die Gegenwart der Sklaverei-Vergangenheit und ihre sozialen und politischen Folgen sind im Igboland Südost-Nigerias besonders drastisch ausgeprägt. Aber auch in anderen Regionen Afrikas ist durchaus noch bekannt, wessen Vorfahren Sklaven oder Herren waren. Mancherorts sind die Sklaven des vorkolonialen Afrika in die lokalen Verwandtschaftssysteme und deren Genealogien integriert worden - und damit "aus der Geschichte verschwunden". An der ostafrikanischen Küste haben Sklavennachfahren und andere Unterschichten im Verlauf des 20. Jahrhunderts zu einer neuen islamisch geprägten "Swahili"-Identität gefunden. Aber überall dort, wo Sklavennachfahren als identifizierbare große geschlossene Bevölkerungsgruppen erhalten geblieben sind, bleiben sie bis heute Risiken der Stigmatisierung und Diskriminierung ausgesetzt.
aus: der überblick 01/2002, Seite 22
AUTOR(EN):
Axel Harneit-Sievers:
Axel Harneit-Sievers ist Historiker und war lange wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum Moderner Orient in Berlin. Seit März 2002 leitet er das Länderbüro Nigeria der Heinrich-Böll-Stiftung in Lagos.