Landwirte unter Anpassungsdruck
von Rudolf Buntzel
Seit Generationen sind es Inder, Kenianer oder Mexikaner gewohnt, ihre Lebensmittel auf den offenen Märkten, in kleinen Läden an der Ecke und von Straßenhändlern zu kaufen. Diese Kleinsthändler wiederum beziehen ihre Waren vom Großmarkt, von privaten Zwischenhändlern oder direkt von den Erzeugern. Doch in den letzten zehn Jahren hat in Asien und Lateinamerika mit geringerer Heftigkeit auch in Afrika ein radikaler Wandel im Lebensmittelhandel eingesetzt, der in Europa und Nordamerika schon lange vor sich geht: die Supermarktisierung der Lebensmittelmärkte. Mit dem Unterschied allerdings, dass das, was in Europa und Nordamerika ein Prozess von 30 bis 40 Jahren war, hier in einer höchstens zwei Dekaden abläuft.
In manchen Entwicklungsländern sind die Lebensmittelketten einheimische Firmen, in anderen sind es Niederlassungen ausländischer Supermarktkonzerne, oder eine Mischung beider. Die großen multinationalen Supermarktketten wie Wal-Mart, Carrefour, Woolworth und Metro, haben zum großen Sprung in die Entwicklungsländer angesetzt. Ein Lebensmittelmarkt von der Größe Indiens (300 Milliarden Euro Umsatz) ist einfach zu verlockend.
Das starke Wirtschaftswachstum und die Modernisierung der Gesellschaften sind der Motor der Entwicklung hin zur Selbstbedienung mit Einkaufswagen und Kasse am Ausgang. Urbanisierung, Motorisierung, anspruchsvollere Käufer, ein höherer Beschäftigungsgrad der Frauen, die Zeitersparnis, wenn alles unter einem Dach zum Kaufen vereint ist: Das sind die Faktoren, die auf Konsumentenseite das Einkaufsverhalten der Bessergestellten verändert haben. Die anderen Teile der Gesellschaft ziehen wohl oder übel mit. Denn die Supermärkte haben sich nicht nur unter den städtischen Mittelschichten ausgebreitet, sondern finden längst schon erfolgreich Kunden bei den Niedrigeinkommensbeziehern.
Ihre Marktmacht, ihre effizienten Beschaffungssysteme, das effektive Regalmanagement und ihre offensiven Verkaufsmethoden erlauben es, dass die Waren zum Teil billiger als auf den althergebrachten Märkten angeboten werden. Das gilt zumindest für die nicht verderblichen, stark weiterverarbeiteten Lebensmittel. Bei den Frischeprodukten tun sich die Supermärkte in Entwicklungsländern noch recht schwer. Doch schon jetzt beeinträchtigt die umfassende Umwälzung der Lebensmittel- und Agrarvermarktung die Verdienstmöglichkeiten der Straßen- und Kleinhändler.
Zu Beginn beziehen die in ein Land eindringenden Supermärkte ihre Waren noch konventionell auf den Großmärkten. Doch wenn sie groß genug und auf dem Markt etabliert sind, haben sie die Tendenz, die Großmärkte zu umgehen und ihre Versorgung über Agenten selbst zu organisieren. Dann geht ihr wachsender Marktanteil auch auf Kosten der bisherigen Großmärkte und Zwischenhändler. Die Großmärkte versuchen ihrerseits, sich dem neuen Trend anzupassen und im Sinne der Agenten zu wirken. Das widerspricht aber ihrem ursprünglichen Charakter: als Auffangbecken für alle vermarktungsfähigen Waren, als Forum der Preisfestsetzung bei strikter Nichteinmischung in die Produktion selbst.
Mit der Supermarktrevolution geht die Reorganisation der Agrarvermarktung einher. Ausschlaggebend dafür sind die typischen Tendenzen in der Beschaffungspolitik der Supermärkte: 1.) Sie versorgen ihre Niederlassungen durch ein zentrales Beschaffungswesen mit einem oder wenigen Logistikzentren. 2.) Sie wollen zentrale Kontrolle über die Wertschöpfungskette, um ein strenges System der Belieferung zu gewährleisten. 3.) Sie führen eigene Sicherheits- und Qualitätsstandards ein, die sie selbst überwachen.
Das bringt für Landwirte, die an diesem schnell wachsenden Binnenmarktsegment beteiligt sein wollen, große Veränderungen mit sich. Aus ist es mit der bisherigen Flexibilität, zufällig anfallende Überschüsse auf den Markt zu bringen oder eine beliebige Produktionsmethode anzuwenden. Um ins Geschäft zu kommen, müssen verbindliche Verträge eingegangen werden, müssen bestimmte Lieferfristen und Mengen eingehalten werden, muss nach genauen Vorgaben über Saatgut, Düngung, Schädlingsbekämpfung und Erntegutbehandlung gewirtschaftet werden, gelten Vorschriften der "besten landwirtschaftlichen Praxis", müssen die Vorgänge auf dem Betrieb bis ins Kleinste dokumentiert werden, müssen sich die Kleinbauern zu Erzeugergemeinschaften zusammentun, geht mit der Ware ein System der Rückverfolgung entlang der ganzen Produktions- und Handelskette einher.
Eine solche Kommandowirtschaft dient dem einen Zweck: dem spezifischen System der Supermarktoperation optimal zuzuarbeiten. Das System zeichnet sich aus durch hohe Qualitäts- und Sicherheitsversprechen, durch Markenprodukte, schlanke Lagerhaltungspolitik, modernste Technologien des elektronischen Logistikmanagements und Datenaustausch.
Landwirte, die zum Beispiel tropische Produkte, Blumen, Gemüse oder Obst für den Export angebaut haben, kennen das System hinlänglich. Das Agieren der Supermärkte auf den einheimischen Lebensmittelmärkten der Entwicklungsländer verwischt die bislang bestehenden Unterschiede zwischen den Anforderungen für den Export und denen für den Binnenmarkt. Das geschieht unabhängig davon, ob es sich um ein inländisches oder ein ausländisches Unternehmen handelt. Es gibt nur wenige empirische Studien über die Auswirkungen der Supermärkte auf die Kleinbauern. Da man aber einiges über die Auswirkungen dieses Systems beim Export weiß, lassen sich von daher gewisse Schlüsse ziehen.
Mit der Supermarktisierung der Lebensmittelmärkte der Entwicklungsländer geht die große Gefahr einher, dass die vielen kleinen Bauernbetriebe von ihren eigenen, angestammten Märkten verdrängt und entweder durch neue Großstrukturen in der Landwirtschaft oder durch Lebensmittelimporte ersetzt werden. Es bleibt ihnen nur, sich den Vorgaben von außen anzupassen. Die neuen Anforderungen der Agrarvermarktung haben eine starke Schlagseite zu Lasten der Kleinbauern.
Die aufwändigen Systeme der Instruktionen, Informationsübertragung und der Dokumentation sind für schreib- und leseunkundige Bauern nicht geeignet. Mit den hohen Kosten des Informationstransfers entlang der Produktions- und Vermarktungskette gehen erhebliche Skalenerträge einher: je größer der Anbieter, desto geringer die Kosten pro Stück. Für die Supermarktfirmen gilt: je geringer die Anzahl der Anbieter, desto geringer die Kosten der Überwachung und Erfassung; desto wahrscheinlicher auch die Homogenität der Ware, auf die es den Ketten und den bei ihnen unter Vertrag stehenden verarbeitenden Betrieben ankommt. Die Supermärkte wollen bevorzugte Lieferanten. Das Prinzip des Ausschlusses ist für das System konstitutiv.
Die Schere zwischen dem, was die Supermärkte fordern, und dem, was Kleinbauern liefern können, wird immer größer. Die Ketten bestimmen durch ihr Einkaufsverhalten, ob die Masse der Kleinbauern von der heimischen Nahrungsmittelversorgung verdrängt wird. Wie viel sie noch absetzen können, schwankt naturgemäß von Land zu Land, weil der Grad der Durchdringung durch Supermärkte sehr unterschiedlich ist.
Es wäre überzogen, für die rapide Restrukturierung der Märkte allein die Supermärkte verantwortlich zu machen. Sie sind nur die Vorboten einer Entwicklung, vielleicht auch der Treibriemen. Im Fleischbereich zum Beispiel geht die vertikale Integration der Bauern in die Wertschöpfungskette mittels Vertragsmast von den Schlachthöfen aus. Hier sind die heiklen Hygienebedingungen, die notwendig kurzen Versorgungswege der Lebendviehvermarktung bei gleichzeitiger Massenerzeugung und -verarbeitung bestimmend. Auch viele andere verarbeitende Betriebe arbeiten zunehmend mit den gleichen Systemmerkmalen: Vertragsanbau, private Qualitäts- und Sicherheitsstandards und strenge Produktionsvorschriften. Das sind die Tendenzen einer globalisierten Ernährungswirtschaft.
Nicht umsonst wird das Prescription Food System als Zukunftskonzept gehandelt. Der Begriff ist doppeldeutig. Zum einen verweist er auf prescription als ein "Rezept": In Zukunft werden wohl auch Lebensmittel so gehandelt, wie es bei Medikamenten längst selbstverständlich ist, nämlich mit Beipackzettel, Zertifikat, Gütesiegel, Sicherheitsversprechen. Das ergibt sich schon aus dem Trend, immer mehr Produktdifferenzierung durch Eigenschaften zu erzeugen, die so nicht unmittelbar ersichtlich sind. Zum anderen bedeutet der Begriff auch "Vorschrift". Die Landwirtschaft der Zukunft ist eingebettet in ein engmaschiges Netz von Kontrollen, Qualitätssicherungsprogrammen, Identitätssicherung der Ware, Rückverfolgbarkeit, Produktdifferenzierungsversuchen und so weiter. Welche Chancen haben die vielen Kleinbauern in Entwicklungsländern eigentlich noch, wenn das die Zukunftsmusik ist, nach der sie spielen müssen?
Der Ausschluss der Kleinbauern von dem Supermarktsystem hat aber auch Grenzen. In vielen Ländern gibt es die bevorzugten Großagrarier und Plantagen schon aufgrund der vorliegenden Agrarstruktur gar nicht. Hier haben die zentralisierten Strukturen gar keine andere Wahl, als ein Versorgungssystem mit den Kleinbetrieben aufzubauen, nicht gegen sie. Das ist zum Beispiel in China oder in weiten Teilen Afrikas der Fall. Bei arbeitsintensiven Sonderkulturen wie Früchten haben Kleinbetriebe mit ihren nicht-entlohnten Familienarbeitskräften einen Wettbewerbsvorteil. Oft muss sich ein Supermarktkonzern gegenüber der Regierung profilieren, um bestimmte politische Zugeständnisse zu erlangen; das kann er durch den bewussten Einbezug von Kleinbauern tun.
Die Supermarktketten engagieren sich zum Teil gezielt beim Aufbau von systemimmanenten kleinbäuerlichen Versorgungskanälen. Das passiert aber meist nur, wenn sie durch staatliche Leistungen darin massiv unterstützt werden. Auch die Entwicklungshilfe engagiert sich in diesem Bereich durch Public Private Partnership (PPP). Die Kleinbauern fit für die Globalisierung zu machen, das ist die gängige entwicklungspolitische Antwort auf die neuen Herausforderungen.
In den Aufbaujahren einer Supermarktversorgung muss viel investiert werden in die Schulung und Beratung der Bauern, in eine Versorgungsinfrastruktur, in die Agrarbetriebe selbst und vor allem in die Dokumentationssysteme. Die Bauern müssen sich zu Erzeugergemeinschaften zusammenschließen, um als Gruppe zertifiziert zu werden, gemeinsam zu operieren, ihr Angebot zu größeren Partien zusammenzufassen, haftbar zu werden und sich gegenseitig zu kontrollieren. Beispiele für solche Projekte der deutschen Entwicklungszusammenarbeit mit deutschen Supermarktketten gibt es bereits, etwa in der Zusammenarbeit der Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ) mit Metro in Indien.
In der Regel qualifizieren sich längst nicht alle Bauern für eine Teilnahme an diesem Marktsegment. Eine Untersuchung über Gemüsebauern in Kenia zeigt, dass die Belieferung der Supermärkte eine bessere Ausstattung an Bildung, Bewässerung, Betriebsorganisation und Kapital voraussetzt. Die hohen Anforderungen der Supermärkte an Produkte und Produktion bewirken, dass die Erzeugergemeinschaften, die Verträge mit den Supermärkten eingehen und über die abgelieferte Ware wachen, ihrerseits höchste Anforderungen an jeden neu dazukommenden Bauern stellen. So wurde berichtet, dass die Erzeugergemeinschaften der Tomatenbauern, die den europäischen Markt bedienen, nur noch studierte Landwirte aufnehmen.
Das Supermarktmodell führt auf jeden Fall zu einer harten Auslese unter den Bauern. Dabei ist weniger die Landausstattung oder das verfügbare Kapital ausschlaggebend, sondern die Kompetenz, das Vermögen in einem modernen Geschäftsleben zu bestehen, die Innovationsfreudigkeit und Wendigkeit. Das sind eher Faktoren der allgemeinen Bildung als einer spezifischen Investition. Deshalb ist es auch so schwierig, durch gezielte Programme kurzfristig günstige Bedingungen für die Kleinbauernbeteiligung zu schaffen. Es geht aber auch um die Bereitschaft von Landwirten, sich stark von einem einzigen Abnehmer abhängig zu machen und sich einem externen Kommando unterzuordnen. Das uralte ländliche Entwicklungskonzept aus den Modernisierungstheorien der 1960er Jahre der "progressive Farmer" feiert Wiederauferstehung.
Die wenigen Bauern, die erfolgreich mitmachen, werden meist dafür entlohnt: durch bessere Preise für ihre Erzeugnisse, garantierte Absatzmengen, feste Verträge, betriebsindividuelle Beratung, Zugang zu Krediten, Zugehörigkeit zu einer ländlichen Elite, hohes Ansehen.
Doch die Vorteile können allzu schnell dahin schmelzen, wie die Erfahrungen mit Vertragslandwirtschaft in Europa, USA oder Brasilien zeigen. Die Bedingungen, zu denen einmal ein Einstieg in eine Spezialisierung attraktiv gemacht wurde, können sich schnell verändern und zum Nachteil der Vertragsbauern werden. Wegen ihrer Spezialisierung haben sie dann kaum andere Optionen, als notgedrungen mit den Knebelverträgen weiter zu machen. Die Supermärkte sind nicht zimperlich und nicht unbedingt darauf aus, Bauern langfristig Privilegien zu gewähren. Die gelegentlichen Proteste und Streiks von Vertragsbauern in den Schwellenländern zeugen von einer solchen Unzufriedenheit. Wer könnte die Supermärkte davon abhalten, Verträge mit den Bauern zu kündigen und plötzlich eigene Landwirtschaftsbetriebe aufzumachen?
Der Erfolg der Vertragsbauern geht teilweise auf Kosten anderer Landwirte. Sie können ihre Nachbarn beim Pachtpreis ausbooten. Der Teil ihrer Ernte, der Ausschuss wird, weil er den hohen Qualitätsanforderungen nicht entspricht, wird zu verminderten Preisen auf dem informellen Restmarkt abgesetzt und drückt dort die sowieso schon niedrigen Preise nochmals. Durch die Supermärkte wird viel Beschäftigung im Zwischenhandel und auf den informellen Märkten zerstört. Damit fallen insbesondere Verdienstmöglichkeiten für Frauen und damit ein Stück der familiären Versorgung weg. Der Preis, den die Armen auf dem Lande für den Erfolg der Supermärkte und ihre Zulieferer zahlen muss, kann hoch sein. Ob die städtischen Armen, die in den Supermärkten einkaufen, nun wirklich so viel besser dran sind, als würden sie sich weiterhin auf den informellen Märkten versorgen, wird nicht nachweisbar sein, denn die Option wird mit dem Modell gleichzeitig dem Verfall preisgegeben.
Doch all das hindert die Institutionen der Entwicklungszusammenarbeit nicht, die Anpassungsstrategie an Wertschöpfungsketten und Standardsetzung ins Zentrum der neuen Überlegungen für ländliche Entwicklung zu setzen. Der neue Zusammenschluss der staatlichen Entwicklungsministerien im Norden mit den internationalen Entwicklungsorganisationen der UN in der Global Donor Platform for Rural Development legt große Bedeutung drauf, ebenso der in Kürze erscheinende Weltentwicklungsbericht 2008 der Weltbank. Selbst für die Afrika-Profilbausteine zur "Agrarwirtschaftsförderung" des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) ist das der Schwerpunkt ländliche Entwicklung taucht schon gar nicht mehr auf. Armutsbekämpfung im Sinne der meisten NGOs etwa durch Verbesserung der Subsistenzlandwirtschaft, Stärkung von Livelihood-Ansätzen der Überlebensstrategien armer ländlicher Produzenten, standortgerechter Landbau oder die Durchsetzung des Rechts auf Nahrung ist nicht länger gefragt. Umgekehrt können sich die NGOs die Zuarbeit für Supermarktketten und PPPs nur schwerlich vorstellen. Sie geraten ins entwicklungspolitische Abseits, zuständig für die Ausgeschlossenen und Marginalisierten, mit immer geringeren Chancen einer kommerziellen Selbsthilfestrategie.
aus: der überblick 03/2007, Seite 36
AUTOR(EN):
Rudolf Buntzel
Dr. Rudolf Buntzel, Volkswirt, ist Beauftragter des Evangelischen Entwicklungsdienstes
(EED) für Welternährungsfragen
und Mitarbeiter im Referat "entwicklungspolitischer
Dialog".
Er ist Mitautor des Buches "Das globale
Huhn Hühnerbrust und Chicken-Wings: Wer
isst den Rest?", Verlag Brandes & Apsel, Frankfurt
2007.