Kleine Geschichte der Korruption
Korruption ist so alt und so vielfältig wie die Menschheit. Das Wort kommt von dem Lateinischen corruptio beziehungsweise corrumpere und wird in der Regel mit Verderben übersetzt. Man kann die aktive Bedeutung von Verführung und Bestechung von der passiven Bedeutung als Sittenverfall, Verwahrlosung oder Bestechlichkeit unterscheiden. Wenn man auf die Wurzel des Verbs rumpere zurückgreift, so kommt die Bedeutung "brechen, zerreißen, stürzen" zum Vorschein, also auch zusammenbrechen, zusammenstürzen, zerbrechen einer Ordnung.
von Ulrich von Alemann
Die traditionelle Bedeutung von Korruption von der Antike bis in die Neuzeit stellt eher auf einen Prozess oder Zustand eines Gemeinwesens ab, ein Verderben oder Verderbtsein, Zusammenbrechen oder Untergang von Werten und (Staats-)Strukturen, statt auf die (korrupte) Handlung von einzelnen Individuen. Aber Korruption ist noch viel älter als die klassische Antike.
Durch das ganze Alte Testament zieht sich die Unterscheidung des Guten, Gerechten, am Gemeinwohl Orientierten gegen das Böse, Verderbte, den Frevel, die Habgier, und eben das ist die Korruption. Im Zweiten Buch Mose 23,8 heißt es: "Du sollst dich nicht durch Geschenke bestechen lassen; denn Geschenke machen die Sehenden blind und verdrehen die Sache derer, die im Recht sind." Auch im Neuen Testament spielt der Kampf Jesu gegen die Korruption eine große Rolle.
Korruption ist aber keinesfalls als ein typisches Phänomen des griechisch-römischen oder christlich-jüdischen Abendlandes anzusehen. Im alten China sollte nach der Lehre von Konfuzius der Herrscher als Vaterfigur Vorbild sittlicher Vollkommenheit sein, der Staat auf moralischen Prinzipien beruhen und die Beamten diese Vorbildfunktion nach unten weitertragen. Korruption wurde verurteilt, nicht so sehr, weil sie dem Volk materiellen Schaden verursache, sondern weil sie die Moral schädige und damit das Ansehen des Herrschers beinträchtige: "Der gerechte, unbestechliche Beamte war in China stets ein Idealbild," betont der Politikwissenschaftler Thomas Heberer. Aber weil Fehlverhalten nur zu oft auftrat, wurden schon früh Gegenmaßnahmen entwickelt, etwa das Kontrollinstrument des Zensorrates, zu dessen Aufgaben die Überwachung der Beamten und die Untersuchung von Missständen zählte. Der Zensorrat entstand bereits in der vom 11. Jahrhundert bis 256 vor Christus herrschenden Zhou-Dynastie.
In der griechisch-römischen Antike stand Korruption ebenfalls für Niedergang von Sitte und Moral zugunsten des Eigeninteresses. Schon Thukydides sah den Untergang des attischen Seebundes darin, dass Fraktionen ihre eigensüchtigen Interessen über das Ganze stellten, auswärtige Mächte einschalteten und damit den eigenen Staat zugrunde richteten. Platon wollte unbestechliche Philosophen herrschen sehen, die reine Idealisten seien. Bei der Ämterauswahl wurden im klassischen Hellas Vor- Zu aller Zeit, an jedem Ort Kleine Geschichte der Korruption richtungen gegen Simonie, Nepotismus und Wählerbestechung dadurch getroffen, dass Ämter durch Losentscheid vergeben wurden, um jeglicher Günstlingswirtschaft und Patronage einen Riegel vorzuschieben. Aristoteles sah einen Niedergang des Gemeinwesens zwar in der materiellen Ungleichheit, deren Umverteilung aber nichts ausrichte, wenn nicht die altruistische Einstellung zum Gemeinwesen Platz greife. In der polis, dem antiken griechischen Stadtstaat, partizipierten nur freie, also materiell gänzlich unabhängige Bürger mit eigenem oikos (Gutshaus), die kein Gehalt für Staatsämter bezogen. So auch in der Römischen Republik, wo sie gegebenenfalls nach der Amtszeit mit einer einträglichen Provinzverwaltung "entlohnt" wurden.
In der Römischen Republik entstand eine ausgefeilte und oft verschärfte Gesetzgebung gegen die Wählerbestechung, das heißt den ambitus, und es gab spektakuläre Prozesse in Korruptionsfällen. Neben der Wählerbestechung grassierten die Richterbestechung und natürlich die gemeine Beamtenbestechung. Im spätrömischen Staat muss die Verrohung der Sitten ein solches Ausmaß angenommen haben, dass Kaiser Konstantin dagegen ein Gesetz erließ, das einem "wilden Zornesschrei" glich, wie es der Historiker Otto Seeck ausdrückte. Auch im Mittelalter grassierte reichlich Klientelismus, Patronage, Nepotismus und Simonie, aber es ist fraglich, ob dies als Korruption zu bezeichnen ist. Denn die Wahlbestechung bei der Wahl des Kaisers durch die deutschen Kurfürsten war eine anerkannte und übliche Praxis. Das war deshalb kaum Korruption. Hier verkauften de facto souveräne Monarchen dem ihre Stimme, den sie für den Nützlichsten hielten. Im Frankreich des Ancien Regime grassierte die persönliche Bereicherung bei Hofe derart, dass König Ludwig XV. zum Herzog von Choiseul resigniert bemerkte: "Mein lieber Freund, die Stehlereien in meinem Hause sind enorm. (...) Alle Minister, die ich gehabt habe, haben versucht, dem Einhalt zu gebieten, aber erschreckt von der Schwierigkeit der Ausführung, haben sie das Projekt stets fallen gelassen. (...) Also beruhigen Sie sich und lassen Sie ein unheilbares Laster weiter währen."
Mit dem in England aufkommenden Parlamentarismus des 17. Jahrhunderts war es kaum weniger arg als im absolutistischen Frankreich: Parlamentssitze wurden gekauft. Es war die Ära des corrupt parliament, wo die Abgeordneten sich von ein paar Dutzend oder im günstigsten Fall überhaupt keinen Wahlmännern aufstellen und "wählen" lassen konnten. Beklagt wurde nicht die Tatsache des Stimmenkaufs an sich, sondern dass die Preise horrend stiegen. Weil, wie oft in der Geschichte der Korruption, kein Unrechtsbewusstsein herrschte, sollte man eher von "Proto-Korruption" sprechen. Erst das Jahr 183 brachte mit dem Corrupt and Illegal Practices Act ein endgültiges gesetzliches Ende des "Korruptionsparlamentarismus" in Großbritannien. Allerdings sei durch die parlamentarische Korruption der Parlamentarismus insgesamt gegen die Prädominanz der Krone durchgesetzt worden, urteilt der Politikwissenschaftler Klaus von Beyme: "Die Korruption bekam somit eine positive Funktion."
Auch in den USA in der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert blühte die politische Korruption in Form von Stimmenkauf, ganz ähnlich dem ambitus im alten Rom. Gerade hier besteht für die Wirtschaftsgeschichte ein völlig unbearbeitetes Forschungsfeld: Warum fand die Industrialisierung in diesen Ländern und damit das größte Wirtschaftswachstum in der Geschichte zu einer Zeit statt, in der die Korruption nach heutigen Maßstäben blühte und eher das Wachstum behindern müsste? "Parteimaschinen" machten sich dieses klientelistische Verfahren zunutze. Senatoren und Abgeordnete hielten sich lokale Parteiorganisationen und -apparate als Hausmacht, um die Ämtervergabe zu kontrollieren. Hier wurden insbesondere auch unterprivilegierte Einwanderermassen aus Polen, Italien, Irland oder Deutschland instrumentalisiert allerdings erhielten diese damit auch eine Aufstiegs- und Partizipationschance, denn der Patron machte sich natürlich auch abhängig von seinen Wählern. Nicht minder korrupt wie die Parteien waren im Übrigen die amerikanischen Gewerkschaften bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts. Erst John F. Kennedy und sein Justizminister Robert Kennedy zerschlugen die teilweise kriminellen Machenschaften der Transportarbeitergewerkschaft "Teamsters".
In Deutschland wurde seit dem aufgeklärten Absolutismus der Mythos des unbestechlichen Beamten, insbesondere in Preußen, genährt. Im Gegensatz dazu existierte jedoch nicht nur Beamtenbestechung, sondern auch politische Korruption im großen Stil. Kaum etwas anderes, so betonte der Historiker und Journalist Paul Noack, war die großzügige Bezahlung des bayerischen Königs Ludwig II für seine Zustimmung zur Kaiserkrönung des preußischen Königs Wilhelm I im Jahr 1871, eingefädelt durch Bismarck und finanziert aus dubiosen Quellen. Er konnte hier auf alte Traditionen bei der Kürung des deutschen Kaisers zurückgreifen.
Wie noch jedes autoritäre Regime, das die Macht eroberte, hatte sich auch der Nationalsozialismus dem Kampf gegen die Korruption verschrieben. Selbst bei der Machtergreifung spielte die Skandalisierung von Korruption durch die Nazis eine ganz entscheidende Rolle. Danach wurde der Kampf gegen Korruption als Vorwand zu inneren Säuberungsaktionen genutzt. Aber ebenso natürlich gab es Korruption im großen Stil nicht nur bei der Ausbeutung der jüdischen Bevölkerung und auch bei ihrer Ausrottung, sondern auf allen Ebenen bis in die Spitze beim Parteiparvenü Hermann Göring. Aber es gab auch eine andere Seite: Im Kampf gegen den Nationalsozialismus wurden Nazis bestochen, geschmiert und bezahlt, wie es eben ging. Oskar Schindler ist für seine Bestechung von Nazifunktionären, um seine jüdischen Arbeiter zu retten, in die Filmgeschichte eingegangen.
Dieser kurze Streifzug durch die Geschichte zeigt, dass es Korruption zu allen Zeiten, an allen Orten und in allen Regimen gegeben hat. Und sie ist vielgestaltig kleine Beamte und große Staatsmänner, Regierungen, Parlamente, Parteien, Gewerkschaften und Kirchen können korrupt sein. Korruption kann etwa eine Aufstiegsleiter bedeuten oder als Notwehr gegen ein unmenschliches Regime eingesetzt werden. Korruption ist überall.
aus: der überblick 02/2006, Seite 22
AUTOR(EN):
Ulrich von Alemann
Ulrich von Alemann ist Professor für Politikwissenschaft an der Heinrich-
Heine-Universität Düsseldorf.