Von der Nothilfe zum Wiederaufbau in Liberia und Sierra Leone
Liberia und Sierra Leone kämpfen mit den Folgen langer und grausamer Bürgerkriege. In Liberia endeten die Kämpfe im Sommer 2003; zahlreiche Flüchtlinge sind noch auf Nothilfe angewiesen. Für Oktober stehen nun die ersten Wahlen nach dem Krieg an. Im Nachbarland Sierra Leone, wo der Krieg bereits Anfang 2002 endete, machen sich die Menschen an den Wiederaufbau.
von Helge Bendl
Dieser Blick war einmal Hunderte von US-Dollar wert. Strand und Meer sieht man von hier oben, in der Ferne blinken Frachtschiffe im Hafen, und zu Füßen liegt einem das Häusermeer von Monrovia, der Hauptstadt von Liberia. Das Hotel Intercontinental war einmal das beste Haus des Landes, nur die reichsten Geschäftsleute konnten sich diesen Blick einst leisten. Doch im ehemaligen Swimmingpool modern nun Müll und Fäkalien, das Parkett ist längst als Feuerholz verbrannt, den Aufzug haben Schrotthändler zu Geld gemacht. Wer hier heute haust, hat nicht einmal die wenigen Cent, um das Trinkwasser zu bezahlen, das der Händler in kleinen Kanistern den Hügel hinaufträgt. In den 210 Zimmern des Hotel Intercontinental leben heute 1300 Flüchtlinge ohne Strom, ohne Toilette, ohne Privatsphäre. Sie schlafen zusammengepfercht auf dem Boden und kochen auf dem Balkon. Nur den Blick bekommen sie umsonst.
"Willkommen in Monrovia!" Henry Saar hat früher einmal im Hotel Intercontinental gearbeitet, erst als Kellner, später als Kassier, dann kletterte er in der Buchhaltung noch ein paar Mal die Karriereleiter hinauf. Sein Chef war Deutscher, und ein paar Begrüßungsfloskeln hat sich Henry Saar noch gemerkt, auch wenn er sie nicht mehr braucht. Zahlungskräftige Ausländer gibt es schon lange nicht mehr. Aufgrund der exponierten Lage auf dem Hügel über der Stadt war es ein beliebtes Ziel im Bürgerkrieg. Und in den 14 Jahre dauernden Kämpfen zwischen verschiedenen Rebellengruppen und mal loyalen, mal weniger loyalen Teilen der Armee ging fast alles zu Bruch. Heute wohnt der 47-Jährige hier mit seiner Frau und vier Kindern auf ein paar Quadratmetern, leidet an Diabetes und klagt über die Regierung und die Vereinten Nationen (UN). Hilfe gebe es keine, weil das Hotel nicht offiziell als Flüchtlingscamp anerkannt sei. Die Vertriebenen haben es einfach in Besitz genommen, wie so viele Gebäude in der Stadt. Nun organisieren sie sich selbst: Für die 685 Kinder bauen sie das ehemalige Casino zu einer Schule um, den Zement stiftet ein Bauunternehmer.
Monrovia erwacht. Immer noch sieht man mehr ausgebrannte Ruinen als intakte Häuser, und Energie haben nur diejenigen, die sich einen Generator leisten können. Aber die ständige Furcht aus den Kriegsjahren scheint von den Menschen abgefallen zu sein. Unten am Fluss pulsiert wieder der Markt. Ein Labyrinth aus verschachtelten Holzverschlägen, in dem Zehntausende Menschen leben, arbeiten oder hoffen, Arbeit zu finden. Alte Reissäcke werden hier zu Taschen umgenäht, Ölfässer zu Schubkarren geschweißt. Geldwechsler türmen Stapel von Banknoten vor sich auf, US-Dollar gegen Liberianische Dollar, der Kurs steht 1:57. "Sieh, mein Geld! Ich bin so reich wie Charles Taylor!", ruft einer mit breitem Grinsen. Taylor, der heute international geächtete und ins Exil geflüchtete Ex-Präsident des Landes, hatte nicht nur persönlich gut an den Bodenschätzen seines Landes verdient Diamanten und Tropenholz finanzierten allen Parteien die Waffen für den Bürgerkrieg. Eine 15.000 Mann starke UN-Truppe sorgt in Liberia für ein gewisses Maß an Sicherheit und hat Zehntausende von Kämpfern entwaffnet. Von Ruhe, Ordnung und Stabilität kann man trotzdem noch nicht sprechen.
Im Oktober soll zum ersten Mal seit Ende des Krieges im Jahr 2003 neu gewählt werden, für die UN ein wichtiges Signal. Doch noch immer leben viele zehntausend Menschen in Flüchtlingscamps, noch immer werden sie vom UN-Welternährungsprogramm notdürftig mit Öl und Reis, Salz und Erbsen versorgt. Weil das für eine auch nur annähernd ausgewogene Ernährung nicht reicht, ist hier die Diakonie Katastrophenhilfe (DKH) aktiv. "Wir haben am Anfang als Notration sehr viel Trockenfisch verteilt. Das war aber nur der erste Schritt. Wichtig sind mehrere Initiativen zur Ernährungssicherung", sagt Birgit Heinloth. Die DKH-Vertreterin aus Monrovia ist häufig im Landesinneren unterwegs, um zu prüfen, ob den Menschen wirklich geholfen wird.
Zum Beispiel in Salala. 26.000 Flüchtlinge leben in diesem Lager, in Lehmhütten und meist mit nicht mehr Besitz, als in ein kleines Stoffbündel passt. Mit Unterstützung der DKH wurden hier in den vergangenen Monaten viele Dutzend Frauen mit Saatgut und Arbeitsgeräten unterstützt, so dass sie kleine Gärten anlegen konnten. "Viele allein erziehende Mütter können auf diese Weise nicht nur besser für sich und ihre Kinder sorgen", sagt Birgit Heinloth. "Sie können das, was sie nicht selbst verbrauchen, auch verkaufen und so ein wenig Geld erwirtschaften." Die wenigen liberianischen Dollar, die sie dabei erhalten, reichen zwar nicht, um ein Haus neu aufzubauen. Aber das Geld sorgt für Motivation und Selbstbewusststein. "Es ist toll zu sehen, wie die Frauen nun aufstehen, ihre Rechte einfordern und sich wieder selbst um ihre Zukunft kümmern." Langsam verschwindet die Lethargie, die Frauen wollen in ihre Heimat zurückkehren. "Wir müssen Geduld haben mit den Menschen und sie immer wieder bestärken, dass sie eine Zukunft haben. Sie mussten über zehn Jahre lang immer wieder fliehen und sich verstecken, um nicht umgebracht zu werden."
In ganz Liberia ist die Diakonie Katastrophenhilfe als Koordinator für die Nothilfe aktiv und stützt sich bei der Arbeit vor Ort auf verschiedene lokale Partner. Viele Brunnen und Latrinen wurden so gebaut, um den Ausbruch von Krankheiten zu verhindern. "Wir bemühen uns, nicht nur die Dörfer zu erreichen, die nahe an den wichtigen Straßen liegen. Dort sind viele Hilfsorganisationen tätig. Aber im Hinterland ist Unterstützung oft noch nötiger", sagt Birgit Heinloth. Mit Geld aus Deutschland wurden Schulen wieder Instand gesetzt und Brücken gebaut.
Im Lofa County an der Grenze zu Sierra Leone schließlich laufen mehrere Projekte in Zusammenarbeit mit dem Lutherischen Weltbund. Weil die Bauern wegen des Bürgerkriegs über zehn Jahre lang ihre Reisfelder nicht bewirtschaften konnten, hat die Natur sich die Flächen zurückerobert alles ist überwuchert. Macheten oder Hacken kann sich hier niemand kaufen. Woher soll man auch das Geld haben, wenn man gerade aus einem Flüchtlingslager kommt? Damit sie auf den Feldern wieder Reis anbauen können, erhalten sie in den Projekten der DKH Saatgut und Arbeitsmaterial. Für geleistete Arbeiten wird Geld bezahlt, damit sich die Familien bis zur Ernte über Wasser halten können.
"Wir möchten die Menschen nicht zu Empfängern von Hilfe degradieren und sie dauerhaft abhängig machen. Sie sollen wieder lernen, verantwortlich zu handeln und für die Zukunft zu planen", sagt Projektmanager Rufus Siafa. Sein ganzer Stolz sind mehrere Becken mit Süßwasserfischen. Die kleinen Sämlinge werden dieser Tage an Dorfgemeinschaften verteilt. Parallel läuft seit einiger Zeit ein Trainingsprogramm, so dass die Frauen und Männer künftig selbst die Verantwortung für die Fischzucht übernehmen können. Läuft alles nach Plan, werden bald auch weitere Dörfer in den Genuss des Programms kommen ein Teil der neu geschlüpften Jungfische soll jedes Jahr an die Nachbarn weitergegeben werden.
Vom Lofa County in Liberia sind es nur ein paar Kilometer bis zur Grenze. Die von Liberias früherem Präsidenten Charles Taylor unterstützten Rebellen der Revolutionary United Front (RUF) marschierten 1991 ins Nachbarland Sierra Leone ein, um die Diamantenminen der Region unter ihre Kontrolle zu bringen. Seitdem herrschte in beiden Ländern Bürgerkrieg, zeitweise kämpfte fast ein Dutzend Rebellengruppen um die Macht. Die Fronten verliefen mitten durch die Dörfer und auch durch die Familien.
In Sierra Leone waren die Kämpfe offiziell 2002 beendet, doch bis die Milizen entwaffnet waren, dauerte es einige Zeit. Anders als in Liberia ist die Phase der Nothilfe abgeschlossen, die UN haben sich weitgehend zurückgezogen. Der Wiederaufbau läuft langsam an auch hier mit deutscher Hilfe. Doch wie können sich einstige Gegner wieder versöhnen? Im Kailahun-Distrikt, direkt an der Grenze zu Liberia, wollen von "Brot für die Welt" unterstützte Peace Clubs (Friedensclubs) die Menschen wieder zusammenbringen.
Sie holten ihn, da war er gerade 16 Jahre alt. Es war ein Fehler, noch einmal ins Dorf zurückzugehen, wo die Großmutter wartete. Die alte Frau konnte nicht mehr richtig gehen und wartete, dass man ihr half, wie die anderen Bewohner der Ortschaft Kigbali in den Busch zu fliehen. Fodie Kanneh, der treue Enkel, kam zurück, um sie zu retten, und wurde dabei von den marodierenden Rebellen der RUF geschnappt.
Was mit der Großmutter geschehen ist? Er weiß es nicht. Sie ist eben einfach verschwunden. Fodie Kanneh kam zuerst in ein Trainingscamp der Rebellen, musste hungern, wurde geschlagen. Acht Jahre lang ging das so, der Junge musste als Arbeitssklave Munitionskästen schleppen und mit Plündern Essen für die Kämpfer besorgen, er schlief im Schlamm und musste die Beute, vergewaltigte Frauen und Mädchen, von Lager zu Lager tragen.
Vielleicht ist noch viel mehr passiert, vielleicht musste Fodie Kanneh noch viel Schlimmeres durchmachen und viel schlimmere Dinge selbst tun. Doch darüber redet man nicht mit einem Fremden, nicht, wenn man nach dem Ende des Bürgerkrieges vor allem eines will: nach vorne blicken und vergessen, einfach vergessen. Eines Tages, nach acht langen Jahren, entkam Fodie Kanneh den Rebellen, da war er dann 24. Er schlug sich zurück zu seinem Dorf durch, hielt sich fern von allen fremden Menschen, die ja seine Feinde hätten sein können. Doch zurück in der Heimat glaubten ihm seine Nachbarn seine Geschichte nicht. "Ein Kollaborateur", hielt man ihm vor, "ein Mörder ". Die lokale Bürgerwehr, die Kamajor, prügelte ihn grün und blau. Und hätte sich nicht der Chief des Dorfes, Jusu Aruna, für ihn eingesetzt wer weiß, was sie dann noch mit ihm gemacht hätten.
"Wir müssen einander vergeben", sagt dieser Chief nachdenklich. Deswegen hat er auch dem Projekt namens Peace Club seinen Segen gegeben. Er ist eine Initiative der methodistischen Kirche (Methodist Church of Sierra Leone, MCSL), die von "Brot für die Welt" unterstützt wird. Männer und Frauen kommen hier alle paar Tage zusammen, immer mehr als zwanzig, das ist viel für ein kleines Dorf wie Kigbali. Sie putzen das Dorf, bauen Unterkünfte für die Kinder, legen Felder an. Manchmal spielen sie auch einfach nur Fußball oder singen, üben ein Theaterstück ein oder setzen sich zusammen, um zu überlegen, wie man Fodie Kanneh helfen kann, der immer noch kein eigenes Dach über dem Kopf hat, weil das Haus seines Vaters im Bürgerkrieg abgefackelt wurde. "Wir machen alles gemeinsam. Und deswegen kann sich hier niemand mehr vorstellen, dass wir eines Tages wieder gegeneinander kämpfen könnten." Mit dem Peace Club kommen endlich bessere Zeiten, hofft der Jusu Aruna. "Nur wenn Frieden herrscht, können wir unser Leben selbst in die Hand nehmen."
Seit Frieden herrscht, ist plötzlich auch Aufklärung möglich. Stippvisite in der Stadt Bo, in der rund zehntausend Menschen leben. Ein Jugendzentrum gab es hier lange nicht, bis die MCSL im Januar 2004 ein altes Missionsgebäude, das während des Kriegs zerstört wurde, neu aufbaute. Dass es sich lohnt, hier immer wieder vorbeizuschauen, hat sich schnell herumgesprochen. Junge Christen, Muslime, Atheisten: Alle kommen sie hierher, ausgegrenzt wird niemand.
Die Jungs üben ihre Kräfte an den Hanteln, die hier herumliegen, im Schatten eines kleinen Pavillons treffen sich jeden Tag die gleichen Mädchen, um zu kichern und die Jungs zu beobachten. Zu Essen gibt es hier auch immer etwas in der Cafeteria stehen Gleichaltrige in der Küche und am Tresen. Bei wichtigen Fußballspielen beschallt der Fernseher die ganze Nachbarschaft. Dann reichen die Plastikstühle bei weitem nicht aus, weil ein solches Ereignis niemand verpassen möchte. Das Jugendzentrum verlangt dann einen minimalen Eintritt. Zehn Prozent der Kosten, so das ehrgeizige Ziel, sollen nämlich selbst erwirtschaftet werden.
"Wir möchten Jugendliche anlocken und sie animieren, hier in einer angenehmen Atmosphäre ihre freie Zeit zu verbringen", sagt Joseph Ndanema von der MCSL. "Sie sollen hier eine friedliche neue Heimat finden unter dem Bürgerkrieg hatten sie ganz besonders zu leiden." Mit Aufklärungsprogrammen zu HIV/Aids locke man niemanden an. Das Jugendzentrum macht es deswegen umgekehrt. Und hat Erfolg mit diesem Konzept: Die 15- bis 30-Jährigen kommen zu einem Fernsehabend oder einer Theateraufführung und bleiben dann hängen.
"Am Anfang haben wir mit Einzelgesprächen begonnen und Jugendliche über die Gefahr von HIV/Aids informiert", erzählt Reginald Coulson, ein Sozialarbeiter des Jugendzentrums. Als Multiplikatoren haben diese Jugendlichen inzwischen eigene Gruppen gegründet jetzt wissen auch ihre Freunde Bescheid, wie man sich schützen kann. "Besonders die Mädchen werden viel mutiger, wenn man sie auf einmal ernst nimmt ", sagt der Tutor Salomon Tucker. Der 29-jährige war früher Lehrer und hatte die Idee, auch Kurse zum Lesen und Schreiben anzubieten. Über hundert junge Leute haben schon teilgenommen, 80 Prozent der Analphabeten sind Frauen.
Der Reihe nach stehen die Teilnehmer des Kurses auf und erzählen, was sie gelernt haben. Der eine fühlt sich nun sicherer, weil er nicht mehr Angst haben muss, beim Einkaufen betrogen zu werden. Die andere will vielleicht einmal einen eigenen Friseursalon eröffnen. Dann steht eine junge Frau auf. Theresa Zidan erzählt, dass sie neu im Alphabetisierungskurs ist und erst seit ein paar Tagen den Unterricht besucht. "Aber ich habe mich in dieser kurzen Zeit ziemlich verändert und bin auf einmal viel selbstbewusster ", sagt sie. Warum? "Ich kann jetzt endlich meinen eigenen Namen schreiben."
Selbstbewusstsein erlernt sich schwierig, wenn man immer vor der Macht der Waffen davonrennen musste und die Vorbilder fehlen, weil die politische Elite korrupt ist. Doch in Sierra Leones Hauptstadt Freetown, die nachts immer noch im Dunkel versinkt, weil es selbst Jahre nach Kriegsende noch keinen Strom für die eine Million Einwohner gibt, hat sich jüngst etwas bewegt. Ein vorher nicht bekannter Student veröffentlichte ein Album, und plötzlich war der 25-Jährige ein Star. Hunderttausend Menschen wollten ihn im Stadion singen hören das Sicherheitspersonal bekam es mit der Angst zu tun und rannte davon.
"Ich bin so populär, weil ich ausspreche, was viele bislang nicht auszusprechen wagten", lächelt Emmerson Bockarie. Der junge Mann ist beim Interview schüchtern. Doch wenn der Generator angeworfen ist und die Boxen dröhnen, dann bricht es aus ihm heraus. Er lästert über die Aussage des Staatspräsidenten, ab 2007 werde niemand im Land mehr Hunger leiden müssen. Er wirft Ärzten vor, Gebühren von ihren Patienten zu verlangen, bevor sie an die Untersuchung gehen. Er schimpft über bestechliche Politiker und heuchlerische Pfarrer. Jeder im Land kennt plötzlich diesen Mann, den "Bob Marley Afrikas", und überall hört man seine Songs. Und so tanzt und singt nicht nur die Stadt, sondern das ganze Land. Und hat plötzlich wieder ein klein wenig Hoffnung.
aus: der überblick 03/2005, Seite 70
AUTOR(EN):
Helge Bendl
Helge Bendl ist Autor bei der
Reportageagentur "Zeitenspiegel "
(www.zeitenspiegel.de).
Zusammen mit dem Fotografen Günter Vahlkampf hat er im Juni mit Vertretern
von "Brot für die Welt" und der Diakonie Katastrophenhilfe Liberia und
Sierra Leone besucht.