Alltagsriten der Korruption in der Demokratischen Republik Kongo
Die Korruption ist in unserer Gesellschaft in der Demokratischen Republik Kongo leider zur zweiten Natur geworden. Niemand kann sich völlig von der Korruption fernhalten. Warum ist sie Teil des Lebensstils geworden? Dazu gehört eine zweite Frage: Wie kann ein Kongolese gegenwärtig eigentlich überleben?
von Dudu Musway
Zur Zeit des Kalten Krieges hat der Westen den diktatorisch regierenden Präsidenten Mobutu Sese Seko unseres damals Zaire genannten Landes unterstützt. Seit etwa 1990 aber ist der große Geldstrom aus dem Ausland verebbt. Das Land fiel in eine tiefe Wirtschaftskrise, der Staat ist weitgehend zerfallen. Heute, so sagt man im Kongo, ist das Land ein Königreich. Ein Königreich der Überlebenskünstler. Von den Regierenden bis hin zu den Straßenkindern sind fast alle Leute Überlebenskünstler. Sie müssen einfallsreich sein, um im Amt zu bleiben oder etwas für ihr Überleben zu finden.
Im Jahr 1997, nach dem so genannten Befreiungskrieg, angeführt von Laurent- Désiré Kabila, der den Diktator Mobutu stürzte und sich selbst als Präsident einsetzte, war unser Staat praktisch ganz verschwunden. Die Staatskasse war leer. Heute noch verdient ein Staatsangestellter im Durchschnitt umgerechnet gerade mal rund 25 US-Dollar pro Monat, in unteren Rängen sogar nur 10 Dollar pro Monat. Und dieses monatliche Gehalt kommt mit großer Verspätung, meist sechs Monat später, im Tiefland und in entlegenen Regionen kann es bis zu einem Jahr dauern, bis die Gehälter ankommen. Mehr Rücksicht nimmt die Regierung allerdings wie schon unter Mobutu auf die Staatsbediensteten in der Hauptstadt Kinshasa, damit sie keine Unruhe in der Bevölkerung auslösen.
Laurent-Désiré Kabila, der Vater unseres jetzigen Präsidenten Joseph Kabila, hatte zunächst versucht, mit Beamten wie Soldaten und Polizisten in Kinshasa korrekt umzugehen und ihnen das monatliche Gehalt regelmäßig gezahlt. Anfangs verfügte er dafür dank Hilfe von den USA noch über ausreichend Geld für die allerdings geringen Gehälter. Aber es gab fast keine eigenen Staatseinnahmen aus dem Kongo selbst. Gewinne aus dem Abbau von Rohstoffen wie Kupfer und Koltan gehen überwiegend an Konzerne, mit denen Kabila schon als Rebell Lizenzverträge abgeschlossen hatte. Den Diamantenabbau kontrolliert zum überwiegenden Teil Simbabwes Präsident Mugabe als Gegenleistung für seine militärische Unterstützung. Ein anderer Teil der Gewinne fließt direkt in informelle Kanäle.
Inzwischen ist es wieder wie unter Mobutu. Denn der Vater Kabila ist an mächtigen Cliquen gescheitert. Das sind überwiegend Gruppen von Staatsbeschäftigten, die schon unter Mobutu auch ohne Gehalt zu bekommen einen vergleichsweise hohen Lebensstandard hatten, sich Villen und Luxuslimousinen leisteten, weil sie die Staatskasse anzapfen konnten. Diese wollten nicht unter Kabilas neuem Reglement mit pünktlichen, aber sehr niedrigen Gehältern leben. Sie haben alles getan, um ihn zu blockieren.
Dazu ein Beispiel aus dem Hafen in Matadi: Kabila hat versucht, alle hafen- und zollrelevanten Daten in einem Computersystem zu zentralisieren. So hätten alle Einnahmen zentral erfasst, kontrolliert und nach vorher festgelegtem Schlüssel auf die einzelnen Abteilungen aufgeteilt werden können, etwa 10 Prozent für die Kontrolle, 10 Prozent für Lagerung und Transport im Hafen. Aber denjenigen, die vorher dezentral unter der Hand abkassieren konnten, gefiel das gar nicht. Sie haben alle Computer zerstört, um das alte System der Schmiergelder, zum Beispiel für eine Unterschrift bei der Hygiene Gesundheitskontrolle, Verkehrssicherheitsabnahme für Autos und dergleichen, wieder zu etablieren.
Inzwischen ist das Korruptionssystem noch schlimmer als unter Mobutu. Ohne Schmiergeld läuft nichts. Zum Beispiel sind die Lehrer sehr abhängig von ihren Schülern. Sie verdienen ein zu geringes und sehr verspätetes Gehalt. Sie haben überwiegend ein Bewusstsein, dass alles korrekt ablaufen sollte, aber andererseits müssen sie auch leben. Deshalb ermöglichen sie den Schülern, durch ganz besondere Leistungen ihre Zensuren aufzubessern.
Mittlerweile gibt es für so etwas eine quasi kodifizierte Terminologie der Korruption im Kongo. Man sagt zum Beispiel, dass man für ein gutes Zeugnis "einen Intellektuellen" bezahlen muss; das war früher üblicherweise eine Ziege, heute ist es gelegentlich der Gegenwert in Bargeld. Wenn etwa eine Prüfung nicht zufriedenstellend ausfällt, kann man sich vom Lehrer nachprüfen lassen. Dafür geht man an einem Abend in der Dunkelheit zum Haus des Lehrers und sagt: "Ich habe einen Intellektuellen mitgebracht." Dieser (meckernde) Intellektuelle kann dann die Prüfung doch noch gut bestehen. Die Ziegen haben bisher immer gut bestanden.
Ein anderer Begriff in unserer Korruptionsterminologie ist "Artikel 15". Wenn im Gespräch mit einer Amtsperson das Stichwort "Artikel 15" fällt, weiß man schon, dass man etwas bezahlen muss. Der Begriff "Artikel 15" hat eine alte Geschichte. Es stammt aus der Zeit der Bürgerkriegswirren unmittelbar nach der Unabhängigkeit im Juni 1960. Als nämlich die rohstoffreiche Provinz Kasai im August 1960 ihre Sezession erklärte, formulierte die Sezessionsregierung unter der Führung von Albert Kalondji eine Verfassung mit 14 Artikeln für das unabhängige Kasai. Darin war alles geregelt fast alles. Es fehlte nämlich ein Artikel 15 , in dem hätte festgelegt werden müssen, wovon die Staatsbeschäftigten eigentlich leben sollten, denn Gehälter kamen von der Sezessionsregierung nicht. Die Staatsdiener waren aber erfinderisch genug, zu Geld zu kommen, und nannten es "Überleben nach Artikel 15".
Heute ist auch das Stichwort Telefonkarte beliebt. Und wenn man mit einem Beamten alles geregelt hat, aber der Staatsdiener vorher noch eine "Telefonkarte" besorgen muss, dann sollte man tunlichst eine Telefonkarte oder das Geld für eine Telefonkarte unauffällig hinlegen und zwar gleich im Wert von fünf oder zehn US-Dollar für Auslandstelefonate.
Staatsdiener müssen halt auch leben. Selbst das Personal unserer Botschaften in Europa bekommt sogar offiziell kein Gehalt. Sie haben die Anweisung bekommen: débrouille-toi! findet eine Lösung, wie ihr zurechtkommt. Auch das gehört zu unserer Terminologie der Korruption. Was also machen die Beschäftigten unserer Botschaften? Sie verkaufen Pässe und drücken ein Auge zu, wenn der Käufer kein kongolesischer Staatsbürger ist. Angolaner beispielsweise, die sonst keinen Pass bekommen, können so kongolesische Pässe kaufen. Daneben muss man für benötigte Unterschriften von der Botschaft teuer bezahlen: pro Unterschrift 50 oder 100 Euro. Als Gegenleistung wird nicht so gründlich geprüft, was unterschrieben wird, wenn man zum Beispiel eine Echtheitsbescheinigung für ein Diplomzeugnis oder eine Geburtsurkunde braucht.
Unsere Verkehrspolizisten im Kongo arbeiten immer mit einem Kalender. Sie finden auch immer etwas, was an unseren Autos oder mit unseren Papieren nicht in Ordnung ist. Dann gibt es Strafmandate. Zum Beispiel: "Sie müssen Montag bezahlen." Montag heißt: 100 Francs Congolais; dann ist alles vergessen. Manchmal steht der Vorgesetzte daneben und sagt: "Nein, erst Dienstag." Dienstag heißt 200 Francs Congolais. Dienstag mittag sind 250 Francs Congolais, Mittwoch 300 und so weiter.
Unsere Staatsdiener im Kongo kann man auch daran erkennen, dass sie jeden Tag schwarze, undurchsichtige Einkaufstüten zum Arbeitsplatz mitnehmen. In unserer Korruptionsterminologie heißen diese on ne sait jamais man weiß es nie. Man kann nicht sehen, was darinnen ist, vielleicht ein Huhn, ein Paket Reis. Mit solchen on ne sait jamais warten die Beamten dann während der Arbeit auf eine Gelegenheit: Wer kommt für eine Unterschrift, wer will, dass sein Vorgang endlich bearbeitet wird? Dann wird über den Vorgang diskutiert, und der Beamte sagt: "Comprenez!" "verstehen Sie bitte!" Auch diese Terminologie ist wohl bekannt: Dann sind etwa 500 Francs Congolais oder ein entsprechender Gegenwert fällig. So kann der Beamte abends seine Familie mit dem on ne sait jamais erfreuen, Frau und Kinder werden satt mit Bohnen, Reis und Hühnchen.
Im Hafen an der Zollgrenze zwischen Kongo Kinshasa und Kongo Brazzaville sind die Zollbeamten direkter: Nzungu ekotoko rufen sie einem zu der Topf muss kochen. Die Leute wissen dann schon, wie viel man dafür braucht.
Auf höherer Ebene geht es natürlich um höhere Summen. Zum Beispiel, wenn ein Minister bei einer Ausschreibung den Zuschlag für ein Straßenbauprojekt erteilen soll. Da gewinnt nicht immer das preiswerteste Angebot. Es geht auch darum, wie viel von den Projektkosten irgendwie an den Minister privat zurückfließen. Logischerweise sind zehn Prozent einer Auftragssumme von 12 Millionen mehr als zehn Prozent von zehn Millionen.
Aber wie kann der Bauunternehmer dann noch zurechtkommen? Glücklicherweise gibt es nicht immer so scharfe Kontrollen. Ob die Asphaltdecke nun 20 Zentimeter dick ist wie in der Ausschreibung vorgesehen oder nur 15 Zentimeter, das fällt vielleicht nicht auf. Bis zur nächsten Regenzeit. Aber niemanden wundert es noch, dass es in der Provinz kaum auch nur Reste von Asphaltdecken auf den Pisten gibt.
Für mich als Leiter der medizinischen Fakultät und Leiter des Universitätskrankenhauses in Kikwit ist es auch nicht einfach, alles am Laufen zu halten. Ein natürlich rein hypothetisches Beispiel: Stellen Sie sich einen Leiter einer solchen Klinik vor, der von Jesuiten erzogen ganz ehrlich nach Kinshasa meldet: Wir haben 300 Beschäftigte und beantragen Gehalt für diese. Was soll er tun, wenn aus dem Ministerium folgende Antwort kommt: Wir haben in ihrem Antrag einen Tippfehler gefunden und gleich korrigiert. Sie haben statt 500 Beschäftigte 300 geschrieben. Das Gehalt für die 500 Beschäftigte weisen wir in Kürze an. Gleichzeitig weiß der Klinikleiter, dass er den nötigen Etat für lebensnotwendige Medikamente und medizinisch notwendige Geräte nie genehmigt bekommen wird. Wenn er also Leben seiner Patienten retten will, muss er nach dem Motto débrouillez-vous! eine Lösung finden. Das weiß auch der Minister und ist durchaus zufrieden, wenn von den 200 nicht benötigten Gehältern nur 150 auf sein Privatkonto zurückfließen.
Damit also alles mit rechten Dingen zugeht, schickt der Minister regelmäßig einen Vertreter nach Kikwit, der "überprüft", dass wirklich 500 Gehaltsempfänger dort arbeiten. Und wenn der Minister einmal selbst zu einer Visite kommt, lautet nach der Begrüßung seine erste Frage: "Ist mein Vertreter schon hier gewesen?" Die Antwort: "Ja, alles in Ordnung; der ist schon vor zwei Tagen nach Kinshasa zurückgekehrt", beruhigt ihn; sein Konto wird nach der Rückkehr gefüllt sein, er kann alles gelassen inspizieren und für in Ordnung befinden.
Wie gesagt, das ist ein rein hypothetisches Beispiel, und wir haben auch schon einen neuen Gesundheitsminister. Ich bin immer noch im Amt. Durch unsere Forschungskooperation mit dem Hamburger Institut für Tropenmedizin und meine Arbeit für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) kann man auf mich nicht so leicht verzichten. Als ärztlicher Direktor bekomme ich ein Spitzengehalt. Das beträgt umgerechnet allerdings auch nur rund 350 US-Dollar. Aber wie soll mich jemand mit 50 US-Dollar bestechen, wenn uns meine Arbeit für die WHO monatlich Prämien in Höhe von durchschnittlich rund 1000 Dollar einbringt und ich von dem staatlichen Gehalt nicht abhängig bin?
Aber, wer nicht bei der Korruption mitspielt, hat es schwer, seine Stelle zu behalten. Hinzu kommt, dass auch die beste Qualifikation nicht ausreicht, um solche Stelle zu bekommen. Ausschlaggebend kann sein, dass der Minister dem selben Volksstamm angehört. Das aber bedeutet zusätzliche Verpflichtungen: Bei der Vergabe von Arbeitsplätzen der Untergebenen müssen Leute aus dem eigenen Stamm ausreichend repräsentiert sein. Außerdem hat die Großfamilie große Erwartungen: "Wir haben dafür gesorgt, dass einer von uns diese Stelle bekommt. Nun musst Du auch für uns sorgen."
Und was kann jemand tun, der trotz leitender Position für die notwendige Arbeit nicht den notwendigen Etat bekommt? Er kann die Methode débrouillez-vous!. anwenden. Wenn etwa ein untergeordneter Beschäftigter klagt, dass er nicht das nötige Geld hat, um die geforderten Aufgaben zu erfüllen, kann man ihm sagen débrouillez-vous!. Das bedeutet für diesen grünes Licht, um etwa Unterschriften zu verkaufen oder für Behandlungen mehr Geld zu nehmen als nach der Gebührenordnung erlaubt, oder den Mund zu spitzen und Luft einzusaugen, wenn jemand Einlass für eine Terminvereinbarung begehrt: Der Gegenwert einer Zigarette ist dann fällig.
Bei der Korruption nicht mitzuspielen, können sich praktisch nur Leute leisten, die genügend Geld aus dem Ausland bekommen und dadurch unabhängiger sind. Aber völlig benachteiligt sind diejenigen, die nicht mitspielen können, weil sie nichts genehmigen oder unterschreiben können, die armen Kleinbauern oder Straßenhändler oder kleine Handwerker im informellen Sektor. Sie können nur eines verkaufen: Ihre Stimme in der Politik.
Wählerstimmenkauf ist die eine Sache, aber schon Mobutu hatte ein wohlfeiles System, ganze Oppositionsparteien zu kaufen oder sie gar mit seinem Geld zu gründen, damit die Opposition zersplittert ist. Auch unter unserem jetzigen Präsidenten Joseph Kabila ist es nicht viel anders. Er wird schließlich von Leuten beraten, die schon unter Mobutu die korrupte Politik gemacht haben. Nach der Ermordung seines Vaters hat der junge Kabila sein Amt noch etwas unschuldignaiv angetreten. Aber inzwischen hat er gelernt und ist ein guter Spieler geworden. Jetzt vor der Präsidentenwahl gibt er viele Geschenke an Schulen, Pastoren, Bischöfe, an ganze Städte. Woher hat er das Geld bekommen? Nach fünf Jahren Präsidentschaft ist er sehr reich geworden. Das System der Mobutu-Generation ist nach wie vor lebendig.
Aber was bedeutet das für unsere Zukunft? Wir haben jetzt einen Teufelskreis. Diejenigen, die mit Hilfe von "Intellektuellen" ihre Prüfung bestanden haben, sind mittlerweile in verantwortlichen Positionen. Wir haben jetzt Ingenieure und Ärzte, die nicht die Arbeit leisten können, die ihr Titel verspricht. Und sie sollen wieder Ärzte und Ingenieure ausbilden. Wie würde es ausgehen, wenn mich ein solcher Arzt operiert? Im vergangenen Dezember musste ich mit dem Motorrad zu einer Visite im Tiefland fahren, weil die Pisten mit dem Auto nicht mehr befahrbar sind. Ein hoch überladenes Fahrrad kam aus einer Nebenstraße von links und konnte nicht mehr bremsen. Ich hatte einen Motorradunfall. Glücklicherweise konnten mich meine Begleiter noch zurück in meine Universitätsklinik schaffen. Aber am Samstag abend waren dort nur meine Studenten für erste Versorgung da und mussten meine schwere Kopfverletzung behandeln. Hätten sie ihre Prüfungen mit Hilfe von "Intellektuellen" bestanden, wäre ich heute vielleicht schon tot.
aus: der überblick 02/2006, Seite 6
AUTOR(EN):
Dudu Musway
Dudu Musway ist Professor für Medizin und seit 2002 Rektor der
Medizinischen Hochschule (ISSS-CR) und Direktor
der Universitätsklinik (Science et Vie) in Kikwit
sowie Präsident des Roten Kreuzes von Bandundu-Kikwit, Demokratische Republik Kongo.