Den Frauen vertrauen
Mit dem flächendeckenden Programm “Oportunidades” (Chancen) will Mexiko die extreme Armut wirkungsvoll eindämmen. Ein neuartiges Sozialprogramm, das auf dem Anreizprinzip beruht, soll für Chancengleichheit sorgen. Die staatliche Initiative setzt auf Eigenverantwortung und bezieht bewusst die Frauen mit ein. Als Gegenleistung müssen die Kinder regelmäßig die Schulbank drücken und die Mütter an der Gesundheitsberatung teilnehmen.
von Richard Bauer
Gelöst ist die Stimmung beim Wochentreff des Mütterklubs in San Pedro de Benito Juárez. Es ist ein bettelarmes Bergdorf am Ostabhang des nach wie vor aktiven, 5452 Meter hohen mexikanischen Vulkans Popocatépetl. “Heute ist Zahltag”, frohlockt Gudelia Méndez, eine Indiofrau, die neben dem Spanischen die Aztekensprache Náhuatl spricht. Gemeinsam mit 450 von insgesamt 1200 Familien hat sie sich für ein neuartiges Sozialhilfeprogramm der Regierung eingeschrieben. “Ohne Unterstützung von Oportunidades schaffe ich es nie”, klagt die zierliche dunkelhäutige Mexikanerin.
Wenn Gudelia Méndez an diesem Abend nach Hause kommt, wird sie ein ganzes Bündel Geldscheine in der Schürzentasche tragen. Sie ist nicht länger Bittstellerin bei ihrem Ehemann, wenn es darum geht, den Wocheneinkauf oder das Schulgeld zu bezahlen. Alle zwei Monate erhält sie von Oportunidades einen Zuschuss zum Lebensunterhalt der Familie. Bislang fehlte es an allen Ecken, obwohl sie ackert und rackert: Sie bepflanzt ihre winzige Parzelle mit Mais und braunen Bohnen, sie hält ein paar Ziegen im Hof vor der kleinen Steinhütte und verrichtet Gelegenheitsarbeiten bei anderen, wohlhabenderen Bauern oder auf Baustellen in der nahegelegen Industriestadt Puebla. Doch das alles reicht nicht, um sechs Kinder zu ernähren, diese ordentlich gekleidet in die Schule zu schicken und für ihre Gesundheit zu sorgen.
“Mexikos drängendstes Problem ist die Armut, diese zu bekämpfen ist jedermanns politische und moralische Verpflichtung” betonte der konservative mexikanische Präsident Vicente Fox, ein von der katholischen Soziallehre geprägter, von Haus aus wohlhabender Unternehmer in seinem jüngsten Rechenschaftsbericht vor dem Kongress. Seit dem Jahr 2000 ist er im Amt. Oportunidades ist zum Flaggschiff der gegenwärtigen Regierung bei der Armutsbekämpfung avanciert. Noch bescheiden - vom Vorgänger Ernesto Zedillo im Jahr 1997 - als Progresa (Fortschritt) ins Leben gerufen, hat Fox dem Programm einen neuen Namen und frischen Wind gegeben. Im Jahr 2004 werden fünf Millionen als extrem arm eingestufte Familien mit 25 Millionen Angehörigen regelmäßig Sozialhilfe beziehen. Das entspricht einem Viertel der Gesamtbevölkerung Mexikos. In den ersten vier Regierungsjahren von Fox sind die staatlichen Ausgaben für Programme zur Armutsbekämpfung stetig gestiegen. Sie betrugen im Jahr 2000 gerade ein Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP). Im Jahr 2004 werden voraussichtlich 1,4 Prozent des BIP dafür eingesetzt.
Von umgerechnet gut 7 Milliarden Euro für sämtliche staatlichen Armutsprogramme entfallen dieses Jahr auf Oportunidades über 1,8 Milliarden Euro. Auf vieles, was bisher üblich war, verzichtet das Programm: Punktuelles Verteilen von Nahrungsmitteln, Schulmaterial und Medikamenten - aufwändig, paternalistisch in seiner Art und in früheren Jahren häufig zu parteipolitischen Zwecken missbraucht - gibt es nicht mehr. Und ebenso sind Arbeitsbeschaffungsprogramme gestrichen worden. Was Frauen und Armen generell fehle, sei im Jargon der Weltbank empowerment, also die Fähigkeit, die eigenen Lebensverhältnisse mitzugestalten. Rogelio Gómez, der Chef von Oportunidades, setzt darauf, dass die Menschen freiwillig teilnehmen und auf das Verantwortungsbewusstsein der Frauen. Er hat keine Bedenken, dass das verteilte Geld verschleudert wird, denn die Frauen wüssten aus kultureller Tradition zu haushalten.
Wer allerdings regelmäßig Geld vom Staat bekommen will, muss auch eine Gegenleistung erbringen. Oportunidades funktioniert nach dem Anreizprinzip. Geht die Mutter jeden Monat zur Gesundheitsberatung, erhält sie den Zuschuss für die Ernährung der Familie. Schwänzen die Kinder die Schule nicht, dann wird ihnen regelmäßig ein kleines Stipendium ausbezahlt. Mädchen bekommen in den höheren Schuljahren einen besonderen Bonus, denn Statistiken zeigen, dass die Quote derjenigen, die die Schule abbrechen, hier besonders hoch liegt. Jungen und Mädchen, die durchhalten und einen Schulabschluss machen, werden mit einer zusätzlichen Prämie belohnt, damit sie weiter studieren oder sich selbständig machen können. Im Computersystem von Oportundidades werden die Rückmeldungen der Lehrer und des Dorfarztes gespeichert und bei jeder Auszahlung berücksichtigt. Ziel des Programms, skizziert Gómez, sei es, den Teufelskreis der Armut zu durchbrechen, wo Kinder aus armen Verhältnissen, auch als Jugendliche und später als Erwachsene, meist zu einem Leben in Armut verdammt seien. Einer der Vorzüge von Oportunidades sei dessen Langzeitcharakter. “Wer sich an die Regeln hält, kann auf uns zählen und gesund und wohlgenährt seine Schulzeit absolvieren, auch wenn die Eltern wirtschaftlich nicht vorankommen”, erklärt Gómez.
Vor Kurzem hat die Weltbank das mexikanische Oportunidades als vorbildliches Programm der Armutsbekämpfung ausgezeichnet. Mit einem Verwaltungsaufwand von nur sechs Prozent der eingesetzten Gelder schneidet das Programm im internationalen Vergleich vorteilhaft ab. “Oportunidades hat gezeigt, dass ein zielgerichtetes und an Bedingungen geknüpftes Transferprogramm ein effektives Instrument im Kampf gegen die Armut und für den Aufbau von Humankapital ist”, heißt es in einer Studie der Weltbank zu “Armut in Mexiko” vom Juli 2004. Im Unterschied zu früher, als man in Mexiko nach dem Gießkannenprinzip die Armut mit staatlichen Subventionen für Tortillas, Milch und andere Produkte auszurotten suchte und damit vor allem die Mittelschicht begünstigte, gehen die knappen Ressourcen jetzt gezielt an die wirklich Armen. Sie werden mittels eines aufwändigen Verfahrens auf dem Land und in den Armenquartieren der Städte individuell erfasst und unterstützt. In der zweiten Hälfte des Jahres 2004 meldete Weltbankpräsident James Wolfensohn offiziell, die allgemeine Armutssituation in Mexiko habe sich in letzter Zeit “auf erstaunliche Weise verbessert”. Nach einer Untersuchung des nationalen mexikanischen Statistikinstitutes INEGI ist der Anteil der Bevölkerung, die in extremer Armut lebt, zwischen den Jahren 2000 und 2002 von 24,2 auf 20,3 Prozent zurückgegangen, und dies in Zeiten schwachen Wirtschaftswachstums. Im Schwellenland Mexiko wird als “extrem arm” eingestuft, wer in städtischen Gebieten weniger als 2,20 US-Dollar, auf dem Land weniger als 1,70 US-Dollar pro Tag verdient. Dieser Index ist auf das Einkommen bezogen und entspricht etwa der Weltbankdefinition von 2 US-Dollar pro Tag. Statistisch gesehen lebt die Hälfte der 100 Millionen Mexikaner nach wie vor unterhalb der allgemeinen Armutsgrenze. Der positive Befund hat innerhalb Mexikos zu einer heftigen Auseinandersetzung geführt. Oppositionspolitiker unterstellen der Regierung, sie betreibe unsachliche Politik, jongliere mit methodisch anfechtbaren Erhebungen und frisierten Armutsstatistiken. Die Armutssituation, lautet das verbreitete Urteil, habe sich unter der Regierung Fox keinen Deut gebessert, weil nämlich der Motor stottere, der Arbeitsmarkt. Darüber hinaus vernachlässige die Regierung die beschäftigungsintensive Landwirtschaft und überlasse diese ungeschützt der übermächtigen Konkurrenz innerhalb des Nordamerikanischen Freihandelsbündnisses NAFTA. Zur Linderung der Not, meinen die Kritiker, hätten bestenfalls die Überweisungen beigetragen, die die mexikanischen Auswanderer aus den Vereinigten Staaten von Amerika nach Hause tätigen und die unvermindert zunehmen, nicht aber die staatlichen Förderprogramme.
Ein Quäntchen Wahrheit steckt in dieser Aussage. In der Tat haben die Geldüberweisungen aus dem Ausland an mexikanische Familienangehörige in den vergangenen Jahren außerordentlich zugenommen. Sie stammen überwiegend von den knapp zehn Millionen gebürtiger Mexikaner, die in die USA ausgewandert sind. Die Rücküberweisungen sind im Prinzip nichts anderes als eine wirkungsvolle, weil gezielte private Sozialhilfe. Weltweit stand Mexiko im Jahr 2002 noch vor Indien, den Philippinen und Brasilien an der Spitze der Länder, die von den Rückflüssen zeitweise oder ständig ausgewanderter Arbeitskräfte profitierten. Das belegen Aufstellungen von Weltbank und Währungsfonds. Geht man von einer Höhe von knapp zehn Milliarden US-Dollar ausgewiesener und geschätzter Rücküberweisungen, Rimessen genannt, aus, entsprachen diese rund drei Prozent des mexikanischen BIP. Auf die Gesamtbevölkerung umgerechnet, erhielt jeder Mexikaner damit etwa 100 US-Dollar, ähnlich viel wie die Kubaner von der Exilgemeinde in den USA. Laut mexikanischen Quellen stiegen die Rimessen im vergangenen Jahr auf über 13 Milliarden US-Dollar und übertrafen damit sowohl die Deviseneinnahmen aus dem Tourismus als auch die Direktinvestitionen aus dem Ausland.
Doch zurück zu Gudelia Méndez, die keine Verwandten in den USA hat. Im idyllisch anmutenden Bauerndorf San Pedro de Benito Juárez ist die Welt im vorindustriellen Zeitalter stehen geblieben. Wohl hat Wellblech das Stroh als Dachbedeckung ersetzt, wohl gibt es Telefon und elektrischen Strom und im Dorfladen Coca Cola zu kaufen, doch gelebt, gedacht und produziert wird wie vor Urzeiten. Dass Gudelia Méndez und ihre Familie wie Millionen andere Mexikaner in tiefer Armut leben, ist nicht zuletzt ihrem Kinderreichtum zuzuschreiben. Mit ihren 40 Jahren, sechs Kindern und lediglich drei Jahren Grundschulbildung bekennt Gudelia Méndez offenherzig, sie hätte lieber weniger Kinder gehabt, diese dafür besser betreut. Vor allem für ihre Töchter wünscht sie sich ein weniger mühsames Leben als sie es hat, dass sie weniger abgeschieden leben müssen und besser ausgebildet werden. Sie schätzt den Mütterklub von Oportunidades, weil hier die Frauen unter sich sind und sich untereinander aussprechen können. “Oft fehlt es uns an Mut und an Worten, um offen zu reden; hier können wir üben”, fasst es Gudelia Méndez zusammen.
Bei Oportunidades gehen Bildungs- und Bevölkerungspolitik Hand in Hand, urteilt der beleibte Dorfarzt Dr. Luis Jaramillo. In der nur mager ausgestatteten Krankenstation untersucht er nicht nur Schwangere und Kranke, sondern leitet auch die Pláticas de Salud, die Gesprächsrunden zur Gesundheitserziehung. Der Versammlungsraum steht zwar noch im Rohbau, doch an den Wänden hängen schon Plakate zur richtigen Zahnpflege und den Stadien der Schwangerschaft. Immer wieder fragen die Frauen nach Möglichkeiten der Empfängnisverhütung. Vor- und Nachteile von Pille, Kondomen und Spirale werden erklärt und besprochen. Der Arzt bietet auch Sterilisierungen an, betont aber, dass dazu niemand gezwungen werde. Dank eines Abkommens zwischen dem staatlichen Gesundheitsdienst und Oportunidades sind die Dienstleistungen von Dr. Jaramillo gratis. Kostenlos kann er Spritzen, Medikamente und Kondome verteilen.
“Alle Erfahrung lehrt, dass Frauen mit abgeschlossener Schulbildung weniger Kinder haben und diese später bekommen, als Frauen, die nicht einmal die Grundschule beenden”, berichtet der Direktor von Oportunidades, Rodelio Gómez. Überhaupt setzt er auf den Wert der Erziehung als Instrument, die Armut zu überwinden. Nie zuvor hätten in Mexiko so viele junge Menschen Stipendien bekommen. Von fünf Schülern in den staatlichen Schulen sei heute einer Stipendiat, sagt Mexikos “oberster” Armutsbekämpfer. Er unterstreicht den im Unterschied zu früheren Programmen politisch neutralen Charakter von Oportundidades. Auch er selbst gehört keiner Partei an. Er machte seine Karriere als Vorkämpfer zivilgesellschaftlicher Gruppen, die für Demokratie und Transparenz im Staat einstanden. “Dieses Programm hat öffentlichen Charakter, es steht nicht unter der Schirmherrschaft einer bestimmten politischen Partei, und die Mittel dafür stammen aus den Staatseinnahmen aller Steuerzahler”, steht es in der Broschüre des Chancen-Programms zu lesen.
Vor ein paar Jahren nahm Oportunidades ausschließlich die ländliche Armut ins Visier. Heute verlagert sich das Schwergewicht der Arbeit mehr und mehr auch auf die Elendsviertel der Großstädte. In der knapp zwei Millionen Einwohner zählenden Stadt Puebla findet zurzeit eine intensive Kampagne statt, um die ärmsten Haushalte ausfindig zu machen. Wer das Gefühl hat, seine Familie bedürfe staatlicher Unterstützung, der kann mit einem einfachen Formular einen Antrag stellen. Zusätzlich durchkämmt ein Team systematisch die Armutsviertel der Metropole. Sie füllen einen detaillierten Bogen aus mit 91 Fragen an den Familienvorstand und 14 Beobachtungen über den Zustand des Hauses oder der Hütte. Die Daten werden anschließend elektronisch verarbeitet. Wer die Grundbedingungen erfüllt, um in den Genuss der Beiträge von Oportunidades zu kommen, bestimmt das ausgeklügelte Computerprogramm aufgrund eines sorgfältig geheimgehaltenen Punktesystems.
Manipulation sei ausgeschlossen, beteuert die Befragerin, während sie Alejandra, eine achtzehnjährige alleinerziehende Mutter einer Tochter mit ihren Fragen löchert. Wird Alejandra ins Programm aufgenommen, erhält sie einen Berechtigtenausweis und einen Bogen mit einer Reihe von Hologrammen. Bei jeder Geldzahlung wird sie dann ein solches nicht kopierbares Dokument abgeben, das die Unterschrift ersetzt und vor Betrügereien schützt. Dank dem Chancen-Programm wird sie ihr selbst verdientes monatliches Einkommen von gegenwärtig knapp 200 Euro um zunächst 20 Euro aufbessern können. Je älter die Tochter wird, um so höher wird der staatliche Erziehungsbeitrag ausfallen und um so größer der Anreiz, die Schule nicht vorzeitig abzubrechen.
Wie nötig Erziehung und Aufklärung im Kampf gegen die Armut sind, zeigte eine vom mexikanischen Sozialministerium in Auftrag gegebene Umfrage vom Juli 2003. Die Experten wollten den Ursachen der Armut auf den Grund gehen. Unter dem Titel Lo que dicen los pobres kamen 3000 Befragte selbst zu Wort. Gut ein Drittel der in extremer Armut lebenden Befragten gab sich fatalistisch. Armut sei gottgewollt, schon immer habe es Arme und Reiche gegeben oder die Armen hätten einfach Pech gehabt, lauteten die häufigsten Antworten. Knapp 20 Prozent der Befragten glaubten, Arme wie ihresgleichen seien deshalb mittellos, weil sie nicht genug arbeiteten. 16 Prozent schoben die Schuld für ihre Armut der Regierung in die Schuhe, 13 Prozent gaben zu Papier, es liege an der fehlenden sozialen Unterstützung.
Für die mexikanische Sozialministerin Josefina Vázquez bestätigte die Befragung einmal mehr, dass Armut nur wirkungsvoll bekämpft werden kann, wenn der Staat eng mit den Betroffenen zusammenarbeitet und auf deren echte - und nicht vermeintlichen - Sorgen und Nöte eingeht.
aus: der überblick 04/2004, Seite 80
AUTOR(EN):
Richard Bauer:
Richard Bauer ist Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung mit Sitz in Mexiko.