Auch nach dem Ende des Boykotts bleibt der Alltag für die Libyer beschwerlich
Sieben Jahre lang, von April 1992 bis April 1999, war Libyen vom internationalen Luftverkehr abgeschnitten und einem Wirtschaftsembargo unterworfen. Diese Sanktionen des UN-Sicherheitsrates sollten die Auslieferung zweier libyscher Geheimdienstbeamter erzwingen, die für den Absturz eines PanAm-Flugzeuges über dem schottischen Ort Lockerbie im Dezember 1988 verantwortlich gemacht werden. Seit diese beiden in den Niederlanden in U-Haft sitzen, fliegen alle europäischen Luftverkehrsgesellschaften Tripolis wieder an, die Lufthansa sogar häufiger als vor dem Embargo, nämlich fünfmal pro Woche. Die libyschen Flugzeuge dagegen sind nach sieben Jahren ohne Wartung und Ersatzteile nicht mehr flugtauglich. Die deutsche Wirtschaft hofft, daß sie jetzt in Libyen gute Geschäfte machen kann; sie war auch während des Embargos immer in dem Land präsent.
von Renate Eisel
Die libysche Bevölkerung jedoch, die sich daran gewöhnt hatte, alle Mißstände auf das Embargo zu schieben, wartet vorerst vergeblich darauf, daß sich alles zum Besseren kehre. Denn seit Jahresbeginn 1998 muß der libysche Staat infolge der gefallenen Ölpreise drastische Einbußen im Ölgeschäft verkraften. Die staatlichen Ausgabenansätze für 1998 wurden im Laufe des Jahres um fast ein Drittel gekürzt, der Haushalt für 1999 ebenfalls entsprechend angepaßt. Ersatzlos strich die Regierung die staatliche Finanzierung medizinischer Behandlung im Ausland. Es gibt auch keine subventionierten Tickets für ausländische Fluggesellschaften mehr, mit denen libysche Staatsbürger zuvor zu Spottpreisen in der Business-Klasse rund um die Welt reisen konnten.
Zu Beginn des Boykotts hatten alle Libyer noch genügend Geld, aber es gab im Lande immer weniger zu kaufen. Doch seit Ende der achtziger Jahre, als das staatliche Handelsmonopol aufgehoben wurde, folgten die Preise den Marktgesetzen. Aber Löhne, Gehälter und Renten blieben eingefroren. Jetzt, nach dem Ende des Boykotts, bieten die Läden alles an (wenn auch nicht zu jeder Zeit). Aber viele Waren liegen wie Blei in den Regalen, weil die meisten Menschen kein Geld mehr haben und sich mühsam mit verschiedenen Jobs durchs Leben schlagen müssen. Viele versuchen, im Handel ihr Glück zu machen. Wer ein Haus sein eigen nennt, schlägt ein Loch in die Wand zur Straße und richtet einen kleinen Laden ein. Viele dieser Lädchen werden im Familienverbund betrieben. So können die, die eine Arbeitsstelle haben, weiterhin ihrem Beruf nachgehen und nebenher Handel treiben. Gibt es einen Engpaß, springen die Kinder ein. Andere errichten einen Stand auf einem der informellen Märkte oder ziehen mit Schubkarre oder Bauchladen durch die Wohnviertel. Die Menschen scheuen längerfristige Investitionen und setzen auf Geschäfte, bei denen schnell ein Gewinn zu machen ist.
Infolge der gewachsenen Bevölkerungszahl und der gestiegenen Ansprüche wird mehr als die Hälfte der benötigten Nahrungsmittel importiert. Nur bei Obst und Gemüse ist das Land Selbstversorger. Artikel des täglichen Bedarfs kommen aus dem arabischen Ausland oder aus Südostasien. Ansonsten richtet sich das Angebot nach dem Zufallsprinzip. Wochenlang gibt es nirgendwo Schnittkäse - und plötzlich bieten alle Läden dieselbe Sorte Schweizer Käse in Mengen an. Oder es ist ein LKW mit Schokolade eingetroffen - ein Luxusartikel -, die überraschenderweise kaum teurer ist als in Deutschland: Sie war während des Transportes aufgeweicht und wieder hart geworden. In diesem Sommer landete ein Schiff aus China und überschwemmte die Stadt mit Chinaböllern, künstlichen Weihnachtsbäumchen und Baumschmuck. Dem Zufallsprinzip im Angebot entspricht, daß die Menschen sich angewöhnt haben zuzugreifen, wenn es etwas gibt, und so verkaufen sich selbst Weihnachtsbäume im Sommer in einem Land, in dem auch im Winter kein Weihnachtsfest gefeiert wird.
Die Arbeitslosigkeit wird offiziell ignoriert. Sie ist am höchsten unter jungen Männern, die nach der Ausbildung oder dem Studium kaum Aussicht auf eine Stelle haben. Selbst wer auf Staatskosten in Europa studiert hat und nach zehn Jahren als promovierter Ingenieur oder Naturwissenschaftler zurückkehrt, steht vor dem Nichts. Und wer Beziehungen hat und in der Schule oder in einer Behörde unterkommt, verdient im Monat nicht mehr als 200 Dinar (rund 790 Mark). Eine Schachtel Zigaretten kostet 2,5 Dinar (knapp 9,90 Mark), eine Fahrt im Minibus oder ein Kaffee einen halben Dinar (fast 2 Mark), ein Kilo Äpfel oder Datteln zwei bis drei Dinar (7,90 bis 11,85 Mark) - wie soll man da eine schicke neue Hose kaufen oder gar eine Familie gründen? Die Zahl hochqualifizierter Akademiker, die Haushaltswaren oder Kinderkleidung verkaufen, ist Legion. Der Passagierdampfer, der zwischen Tripolis und Malta pendelt, befördert überwiegend junge Männer, die reisetaschenweise in Malta einkaufen, was sich in Tripolis gewinnbringend vermarkten läßt, beispielsweise Zigaretten, Süßigkeiten, Körperpflegeartikel oder Batterien.
Angesichts der Perspektivlosigkeit der Jugend überrascht es nicht, daß jeder fünfte junge Libyer Drogen konsumiert, obwohl Alkohol und Betäubungsmittel nach wie vor streng verboten sind. Sowenig wie die Arbeitslosigkeit wird das Drogenproblem offiziell zur Kenntnis genommen. Das Leben in Libyen ist langweilig. Es gibt kein kulturelles Angebot, keine geselligen Veranstaltungen. Jede Hochzeit ist deshalb ein begehrtes Fest. Selbst eine kleine Hochzeit dauert drei Tage: dienstags feiern Familien und Freunde, mittwochs wird die Morgengabe überbracht, donnerstags wird die Braut heimgeführt. Männer und Frauen feiern getrennt.
Fatima nahm mich an einem Donnerstag mit zur Hochzeit ihrer Freundin. Hinter dem Mehrfamilienhaus, in dem die Braut wohnte, war ein großes Zelt für die Männer aufgebaut, vor dem Haus eines für die Frauen, die Straße war unpassierbar. Ist für zwei Zelte kein Platz, feiern die Frauen auf dem Dach. Im Zelt standen dicht an dicht Plastiktische und -stühle; von der Haustür führte ein Läufer zum Platz der Braut: ein Sofa mit vielen silbernen und goldenen Kissen und Blumen geschmückt, das auf einem Podest stand. Den gesamten Festbedarf liefern Hochzeitsausstatter, auch das Brautkleid wird üblicherweise nur geliehen.
Die meisten Gäste kamen unverschleiert. Das ist in Libyen nicht selbstverständlich; die Zahl der Frauen, die ein Kopftuch tragen, nimmt seit einigen Jahren wieder zu. Hier aber kam unter den obligatorischen langen Mänteln fast nur europäische Mode zum Vorschein, figurbetonte Schnitte, Abendkleider mit weitem Ausschnitt, vor allem aber Minikleider, die weit oberhalb des Knies enden. Was niemand in der Öffentlichkeit zu tragen wagt, ist derzeit in Frauenkreisen der letzte Schrei. Schuhe mit Plateausohlen allerdings, die viele der Frauen zuvor nur heimlich zu Hause anzogen, werden jetzt auch auf der Straße in Kombination mit Kopftuch und Schleier getragen und inzwischen in Libyen selbst hergestellt.
Während die Braut noch beim Friseur ihre Haare kunstvoll richten ließ, vergnügten sich die Frauen schon mit Musik und Bauchtanz und nutzten die Tische als Tanzboden. Als die Braut schließlich eintraf, wurde sie mit einem ohrenbetäubenden Trillerkonzert begrüßt. Sie schritt mit maskenhaftem Gesicht von zwei Frauen geleitet in ihrem bauschig-weißen Brautkleid auf den Thron zu, in der Hand ein mit Straß umwickeltes Zepter. Vor ihr trugen zwei kleine Mädchen Kerzen, hinter ihr hielten zwei weitere die lange Schleppe. Vor dem Thron blieb die Braut stehen, ihre Begleiterinnen richteten die Kissen, die Braut vergaß ihre Rolle und begann zu scherzen. Sobald sie saß, legte sich die maskenhafte Starre wieder auf ihr Gesicht, nur der Kiefer malmte: Kaugummi. Kaugummi ist in Libyen verbreitet wie eine Seuche.
Freudiges Raunen aus dem Haus kündigte den nächsten Akt an: Die Festgemeinde wurde bewirtet. Frauen und Mädchen reichten Wasser, Limonade und Kuskus herum und verteilten genügend Löffel für jeden Tisch. Zum Abschluß schenkten sie Tee in winzigen Gläschen ein und reichten jeder Frau einen in Klarsichtfolie gewickelten Teller mit Gebäck. Als ich das Gebäck nicht anrührte, fragte mich nach einer Weile meine Nachbarin: khalas? (fertig?). Hurtig griff sie zu und ließ den Teller in ihrer Handtasche verschwinden, "für Mama". Die Braut hatte die ganze Zeit nichts zu essen oder zu trinken bekommen, aber unentwegt ihren Kaugummi gekaut. Jetzt wurde sie immer lebhafter auf ihrem Thron und vergaß ihre maskenhafte Rolle. Sie sah sich um, winkte ihren Freundinnen, unterhielt sich, ließ sich fotografieren. Schließlich trat der Bräutigam ein - allein -, um seine Braut zu holen. Seine Begleiter waren bereits in das Männerzelt auf der anderen Seite gegangen. Eine Weile saßen Braut und Bräutigam Hand in Hand und hielten Hof. Als das Brautpaar schließlich aufstand und zum Wagen schritt, war das für die Gäste das Zeichen zum Aufbruch. Ein Dutzend kleiner Jungen schwärmte aus und begann, die Plastikstühle zu stapeln.
Der Familienkreis ersetzt die fehlenden Möglichkeiten zur öffentlichen Unterhaltung in Libyen, und die Wertschätzung für die Familie ist ungebrochen. Während aber viele der heute Zwanzigjährigen in Familien mit zehn oder zwölf Geschwistern aufgewachsen sind, wünschen sie sich selber nur zwei oder drei Kinder.
Fatima hat vor einigen Monaten ihr Universitätsstudium abgeschlossen. Sie ist 25 Jahre alt und glaubt, daß es Zeit sei zu heiraten. Ihr Vater hat angeboten, sie dürfe bei der Wahl ihres Ehemannes mitreden. Aber Fatima will das gar nicht: Ihr Vater wisse am besten, was gut für sie sei; letztlich seien Männer doch alle gleich. Sie hat nur die Bitte geäußert, er möge ihr zwischen Studium und Verheiratung ein Jahr Ruhe gönnen.
Ganz anders denkt Muna. Sie ist 30 Jahre alt und nicht verheiratet. Muna will auch nicht heiraten: in Libyen habe eine verheiratete Frau nichts mehr zu sagen, sondern nur noch im Hause zu arbeiten und ihrem Mann Kinder zu gebären. Wenn sie Mädchen bekomme, müsse sie so lange weiter Kinder kriegen, bis ein Junge geboren werde. Ihre Mutter habe sieben Töchter geboren, dann sei der Vater gestorben. Die Mutter könne nicht lesen und schreiben. Sie selbst wolle ein solches Leben nicht führen. Muna hat Spanisch studiert und eine Stelle als Fremdsprachensekretärin gefunden; sie hat Freundinnen, die sie manchmal besucht, aber sie lebt selbstverständlich weiterhin bei Mutter und Schwestern.
Immer mehr Frauen bleiben jedoch unfreiwillig unverheiratet, weil die Familie für sie keinen Mann findet. Libyen leidet unter einem eklatanten Frauenüberschuß. Die wenigsten dieser ledigen Frauen haben einen Beruf, sie leben bei ihren Eltern oder ihrem ältesten Bruder, verlassen in der Regel - wie es sich in konservativen Familien schickt - niemals das Haus und haben nur die vage Hoffnung, als Zweitfrau untergebracht zu werden. Der Koran bietet diese Möglichkeit, und auch gesetzlich ist die Mehrehe unter bestimmten Bedingungen erlaubt. Zum Schutz der Frauen wollte Muammar al-Gaddafi Anfang dieses Jahres per Gesetz festschreiben lassen, daß ein Mann nur mit Zustimmung seiner ersten Frau eine zweite heiraten dürfe. Aber die Frauen waren dagegen. Gaddafi reagierte beleidigt. In einer im Fernsehen übertragenen Rede vor einem Frauenkongreß machte er den libyschen Frauen schwere Vorwürfe: Ob sie denn nichts anderes als ein Stück Ware seien?, fragte Gaddafi. Sie ließen sich verkaufen wie Gold, sie hätten keine Ehre und kein Selbstbewußtsein. Und das Schlimmste sei: Sie wollten gar kein Selbstbewußtsein entwickeln.
Gaddafi, der Revolutionsführer, der kein staatliches Amt bekleidet, dem aber niemand die Rolle des Landesvaters streitig zu machen wagte, behandelt Libyen wie seinen Privatbesitz. Solange seine Tochter an der Universität von Tripolis Jura studierte, durfte sich dort kein Mann einschreiben - er wollte die Frauen zwingen, sich mit der Juristerei auseinanderzusetzen, wenn sie es nicht freiwillig täten. Weil er sich ärgerte, daß so viele Regierungsbeamte ihrem Dienst in dem zur Hauptstadt ausgebauten Wüstenort Sirt nicht nachkamen, sondern in Tripolis blieben, ließ er vor zwei Jahren von einem Tag auf den anderen das alte Parlamentsgebäude und den früheren Palast des italienischen Gouverneurs niederreißen - zwei der schönsten Gebäude in Tripolis, die Regierungsstellen beherbergt hatten. Das "Grüne Buch" Gaddafis, seine "Dritte Universaltheorie", ist vom ersten Schuljahr bis zum letzten Studienjahr ununterbrochen Lehrstoff an Schulen und Hochschulen. Damit ist seit der Revolution 1969 eine Generation herangewachsen, die im besten Falle von Politik nichts wissen will.
Im Frisiersalon sah ich zu, wie die Friseurin das Haar ihrer Kundin in eine Lockenpracht verwandelte. Als die junge Dame fertig frisiert war, setzte sie sich neben mich auf die Bank, ohne mich eines Blickes zu würdigen, öffnete ihren Schminkkoffer und machte sich ans Werk: Make-up, Lidschatten, Wimperntusche, Lippenstift - doch unvermittelt legte sie den Stift aus der Hand und fingerte mit beiden Händen in meinen Haaren herum. Das sei schön, so kurze Haare zu haben, sagte sie seufzend. Dann strich sie mir begehrlich ein paarmal über meine Jeans und fragte, wer ich sei. Als sie hörte, daß ich in Libyen arbeite, seufzte sie wieder und sagte, im Austausch dafür, daß ich hierher gekommen sei, wolle sie gern ins Ausland gehen, da könne sie Jeans und kurze Haare tragen oder Minikleider und Stöckelschuhe und könne ausgehen, rauchen und Alkohol trinken - anders als hier, wo sie kaum das Haus verlassen dürfe und dann gezwungen sei, das schreckliche Kopftuch und den ätzenden Mantel zu tragen, einen hochgeschlossenen, bodenlangen, unförmigen Wettermantel, der seine Trägerinnen alters- und geschlechtslos wirken läßt. Abrupt wandte sie sich ab, zog wieder ihren Schminkkoffer heran und legte nach.
Draußen sirrte eine Elektroanlage in ohrenbetäubender Lautstärke, ein Auto mit kaputtem Auspuff stand mit wummerndem Motor vor dem Nachbarhaus. Gegenüber wurde gehämmert und geschlagen, als werde das Haus eingerissen. Drei Katzen stritten sich kreischend auf dem überfüllten Müllcontainer, eine Horde Jungen spielte lautstark Fangen. Mädchen spielen nicht auf der Straße, man sieht sie manchmal auf dem Balkon. Ein verbeulter japanischer Kleinwagen fuhr im Schrittempo an dem Frisiersalon vorbei, aus den Lautsprechern dröhnte amerikanischer Rap. Der junge Mann am Steuer trug das Haar bis zum Kinn - eine Mode, die man immer öfter sieht. Ein Zeichen westlicher Dekadenz, sagen die lteren. "Was wir im Moment hier erleben, erinnert mich an die sechziger Jahre in Deutschland", sagte ein alter Freund. "Aber von einem 1968 sind wir trotzdem weit entfernt."
aus: der überblick 04/1999, Seite 48
AUTOR(EN):
Renate Eisel:
Renate Eisel ist Historikerin und Arabistin und hat Libyen in den vergangenen 15 Jahren regelmäßig besucht. Seit 1998 lehrt sie Deutsch an der Al-Fateh-Universität in Tripolis.