Eritreas gefährliche Regionalpolitik
Die eritreische Regierung versucht mit allen Mitteln, Äthiopien dazu zu bewegen, die von der internationalen Grenzkommission festgelegte äthiopisch-eritreische Grenzen zu akzeptieren. Dazu facht sie in der gesamten Region Stellvertreterkriege an.
von Richard M. Trivelli
Seit Anfang 2006 erhöhte sich am Horn von Afrika die Gefahr der Ausweitung bewaffneter Konflikte. Die innenpolitische Krise Äthiopiens, der Machtzuwachs der Miliz mit dem Namen "Union der Islamischen Gerichtshöfe" in Somalia, die unvollständige Befriedung im Sudan, der weiterhin ungelöste äthiopisch-eritreische Konflikt, aber auch die äthiopische Hegemonialpolitik und die wie ein Brandstifter wirkende eritreische Regionalpolitik trugen dazu bei.
Die eritreische Regierung sieht in der Tatsache, dass Äthiopien den Spruch der internationalen Grenzkommission verworfen hat und in dessen Bündnispolitik mit dem Jemen und Sudan ein Streben nach regionaler Hegemonie. Daher versucht sie ihrerseits, mittels einer harten Gegenstrategie Äthiopien zu destabilisieren, um es zur Akzeptanz des Grenzspruchs zu zwingen und seinen Hegemonialanspruch abzuwehren. So soll aber auch Eritrea als Machtfaktor etabliert werden, ohne den eine regionale Friedensordnung nicht zu verwirklichen ist.
Die Rechnung Eritreas geht aber nicht auf. Die Politik der Regierung fördert vielmehr die Gefahr einer weiteren Destabilisierung der gesamten Region und gefährdet letztlich auch Eritrea selbst.
Eritrea ist ein kleines Land mit einem riesigen kollektiven Ego und einer überdimensionierten kampferprobten Armee. Erst 1993 wurde es Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft. Weltbild und Politikverständnis der eritreischen Führung, die nach dem Sieg im Befreiungskampf vor Selbstbewusstsein schier barst, waren extrem militaristisch geprägt. Infolge des jahrzehntelangen Operierens außerhalb internationaler Rechtsnormen und Vertragssystemen hatten diese für das Handeln der eritreischen Führung wenig Relevanz.
Nach 1993 zielte ihre Regionalpolitik darauf ab, Eritrea zu international anerkannten Grenzen zu verhelfen und es als regionalen Machtfaktor auf Augenhöhe mit Äthiopien und dem Sudan zu etablieren. Im Bündnis mit den USA intervenierte Eritrea militärisch in Zentralafrika und arbeitete weit über die legitime Abwehr islamistischer Attacken hinausgehend mit der sudanesischen Opposition auf einen Sturz der islamistischen Regierung des Sudan hin. Die wenig sensiblen Versuche der "Sammlung eritreischer Erde" führten zu bewaffneten Konflikten mit Jemen (1995) und Dschibuti (1996) und lösten 1998 einen zweijährigen Krieg mit Äthiopien aus, als Eritrea umstrittene Grenzgebiete besetzte, um Äthiopien zu einer internationalen Schlichtung zu zwingen. Die Kriegsursache war indessen das äthiopische Streben nach regionaler Hegemonie, für das Eritrea mit seiner durch eine starke Armee abgesicherten unabhängigen Regionalpolitik ein Hindernis war.
Bei Kriegsausbruch war Eritrea diplomatisch isoliert, weil die äthiopische Strategie, es international als Aggressor vorzuführen, dank eritreischer Borniertheit vollständig aufgegangen war. Der Krieg zwang die eritreische Führung, ihr Engagement in Zentralafrika zu beenden. Versuche, Dschibuti, Jemen und Sudan von der Parteinahme für Äthiopien abzuhalten, scheiterten, weil die Regierung in ihrer Arroganz es eher mit Druck als mit echter Gesprächsbereitschaft versuchte. Äthiopien von den Flanken her durch Stellvertreterkriege zu destabilisieren, gelang nicht, weil Äthiopien die Infiltration von in Eritrea ausgebildeten Kämpfern verschiedener Oppositionsgruppen, die in Äthiopien selbst keinen Rückhalt hatten, mühelos abwehren konnte. Es konnte auch die mit Eritrea verbündeten Kriegsherren Somalias militärisch so stark unter Druck setzen, dass diese auf die äthiopische Seite überwechselten.
Der Krieg endete im Juni 2000 mit einer schweren eritreischen Niederlage. Eritrea musste alle besetzten umstrittenen Gebiete räumen und die Errichtung einer 25 Kilometer breiten, von einer UN-Friedenstruppe überwachten Sicherheitszone auf seinem Territorium hinnehmen. Der Friedensvertrag von Algier vom Dezember 2000 schrieb jedoch fest, dass eine internationale Kommission den Grenzverlauf abschließend und bindend festlegen sollte. Im April 2002 legte die Grenzkommission ihren Entscheid vor. Nach mehr als einjährigen Winkelzügen erklärte Äthiopien, dass es ihn ablehne und forderte neue Verhandlungen.
Angesichts dieses klaren Bruchs des Friedensvertrags erwartete Eritreas Führung von der internationalen Gemeinschaft, dass sie alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen würde, Äthiopien zur Annahme des Grenzentscheids zu zwingen. Zwar beharrten Vertreter der internationalen Staatengemeinschaft gegenüber Äthiopien darauf, dass es seinen Verpflichtungen aus dem Friedensvertrag nachkommen müsse, sie verzichteten jedoch darauf, dieser Forderung durch Sanktionen Nachdruck zu verleihen. Sie wollten ihren wichtigsten Partner in der Region für den Kampf gegen den islamischen Terrorismus nicht schwächen.
Entsprechend dem Grundmuster ihres Weltbildes, das von der Überzeugung geprägt ist, die Welt sei Eritrea seit jeher feindlich gesinnt interpretierte die eritreische Regierung die Politik der internationalen Gemeinschaft als Komplizenschaft mit dem Äthiopischen Regime und als Teil einer internationalen anti-eritreischen Verschwörung. Statt die internationale Gemeinschaft durch beharrliche diplomatische Bemühungen zu überzeugen, dass es in deren besten langfristigen Interessen sei, in dieser Frage Eritrea zu unterstützen, glaubte Eritreas Führung, sie müsse versuchen, nun ohne Rücksicht auf die internationale Gemeinschaft zu ihrem Recht zu gelangen.
Um die internationale Gemeinschaft und vorab die UN und die USA zu bewegen, etwas gegen Äthiopien zu unternehmen, setzte die eritreische Führung auf Konfrontation. Sie warf den USA vor, sie strebten nach Welthegemonie und bedienten sich der Religion und der Menschenrechte als Vorwand, sich in die inneren Belange anderer Staaten einzumischen. Im Herbst 2005 beschränkte Eritrea die Bewegungsfreiheit der UN-Friedenstruppe, wies deren nordamerikanische und westeuropäische Angehörige aus und warf die US-amerikanische Entwicklungsagentur USAID und andere internationale Hilfsorganisationen hinaus. Vermittlungsbemühungen der USA in der Grenzfrage wurden rüde zurückgewiesen. Im Juli 2006 gipfelte die anti-amerikanische Kampagne in dem Vorwurf, die USA verfolgten am Horn von Afrika eine neokoloniale Strategie mit Äthiopien als ihrem willigen Werkzeug.
Wohl wissend, dass eine direkte militärische Konfrontation mit Äthiopien militärisch und politisch ein Desaster sein würde, begann die eritreische Führung hilfsweise, in Äthiopien erneut Stellvertreterkriege zu fördern. Davon ausgehend, das äthiopische Regime sei infolge der Krise nach den Wahlen im Mai 2005 in seinen Grundfesten erschüttert, zielt die eritreische Führung heute sogar auf einen Machtwechsel in Addis Abeba. Sie ging dafür ein Bündnis mit den Ultranationalisten der äthiopischen Opposition ein, die seit jeher die Unabhängigkeit Eritreas abgelehnt und Meles Zenawi als Marionette Eritreas bekämpft hatten. Unter eritreischer Federführung gründeten im Mai 2006 der Auslandsflügel der "Koalition für Einheit und Demokratie" (CUD), die "Patriotische Front des äthiopischen Volkes" (EPPF), die "Oromo Befreiungsfront" (OLF) und die "Nationale Befreiungsfront des Ogaden" (ONLF) die "Allianz für Demokratie und Fortschritt" (ADF), um das äthiopische Regime gemeinsam und mit allen denkbaren Mitteln zu stürzen.
Mit eritreischer Hilfe führte die äthiopische Opposition seit Jahresanfang 2006 einige Bombenanschläge in äthiopischen Städten durch und intensivierte die Infiltration von in Eritrea ausgebildeten Kämpfern, die aber bisher ohne große Mühen abgewehrt werden konnten.
Im Rahmen ihrer umfassenden anti-äthiopischen Strategie lieferte Eritrea seit Anfang der somalischen Milizen "Union der Islamischen Gerichtshöfe" militärische Ausrüstung und Waffen und entsandte jüngst auch Berater. Das verletzte das gegen die Milizen verhängte internationale Waffenembargo. Ziel dieser Unterstützung ist offensichtlich, Äthiopien in einen nicht zu gewinnenden militärischen Konflikt mit diesen Milizen zu verwickeln und den Südosten Äthiopien für weitere Infiltrationen von OLF und ONLF öffnen.
Mit dem selben Ziel versuchte die eritreische Führung nach dem Friedensschluss zwischen der sudanesischen Regierung und der "Südsudanesischen Befreiungsbewegung" (SPLM) und der Rückkehr eines Großteils der nordsudanesischen Opposition in die Legalität weiterhin Einfluss auf die Entwicklung im Sudan zu behalten. Sie unterstützt die Aufständischen im Nordostsudan und in Darfur. In faktischer Anerkennung des eritreischen Störpotenzials akzeptierte die sudanesische Regierung im Sommer 2006 nicht nur die Vermittlung Eritreas in den Verhandlungen mit den nordostsudanesischen Aufständischen, sondern auch die Beteiligung des eritreischen Militärs an der Überwachung des Waffenstillstands mit diesen.
Die eritreische Führung ist überzeugt, die von ihr geschürten Stellvertreterkriege werden die äthiopische Armee im Westen und Südosten binden und das Regime so weit destabilisieren, dass es in der Grenzfrage nachgeben müsse. Sollte es dazu nicht bereit sein, könnte die Führung Eritreas immer noch auf "Einladung" ihrer äthiopischen Verbündeten mit eigenen Truppen in Äthiopien eingreifen und die Grenzfrage militärisch regeln.
Eine Stärkung der islamistischen Kräfte in Somalia birgt Gefahren für alle Staaten der Region einschließlich Eritreas. Gleiches gilt für die Förderung der bewaffneten äthiopischen Opposition. Die eritreische Führung behauptet zwar, diese sei eine demokratische Alternative für Äthiopien, aber sie weiß sehr wohl, dass deren Sieg zu einer lang dauernden Destabilisierung Äthiopiens mit gravierenden Rückwirkungen für die gesamte Region einschließlich Eritreas führen würde. Die Anerkennung der Grenze auf diese Weise nach dem Muster von Kleists Michael Kohlhaas wäre eine Tragödie für die Region.
Angesichts ihrer fast paranoiden Grundhaltung gegenüber der internationalen Gemeinschaft, ihrer Beratungsresistenz und unversöhnlichen Gegnerschaft zur äthiopischen Führung wird sich die eritreische Führung durch diplomatische Aktivitäten kaum zu einer Änderung ihrer Brandstifterpolitik bewegen lassen. Somit dürfte die Warnung der USA an Eritrea, sich aus Somalia herauszuhalten, wenig fruchten.
Falls eine Regelung der Grenzfrage im eritreischen Sinne durch internationalen Druck auf Äthiopien herbeigeführt würde, könnte dies das Verhältnis zur internationalen Gemeinschaft etwas entspannen. Aber die eritreische Führung würde weiterhin alle internationalen Versuche, die auf eine innenpolitische Änderung drängen, als neokolonialistische Einmischung bekämpfen. Weil sie kaum lernfähig und flexibel ist, würde sie auch ihre Interventionen in Äthiopien, Somalia und dem Sudan fortsetzen, auch wenn diese bisher wenig greifbare Resultate erbrachten. Die eritreische Führung hält das für nötig: zur Abwehr der äthiopischen Hegemonialbestrebungen und zur Etablierung Eritreas als regionaler Machtfaktor, ohne den eine Befriedung Äthiopiens, Somalias und des Sudans nicht möglich wäre. Eine konstruktivere Politik Eritreas in der Region ist nur zu erwarten, wenn die jetzige Führungsgeneration, deren Denken von den Erfahrungen des Befreiungskampfs geprägt wurde, abgetreten ist. Aber auch die internationale Gemeinschaft steht in der Pflicht, endlich eine die Borniertheiten der Realpolitik überwindende umfassendere Friedenspolitik am Horn in Angriff zu nehmen.
aus: der überblick 03/2006, Seite 36
AUTOR(EN):
Richard M. Trivelli
Richard M. Trivelli ist Historiker und beobachtet die politischen Entwicklungen am Horn von Afrika seit vielen Jahren.