Gebändigte "Mutter aller Gewässer"
Der endlose Kreislauf von Hoch- und Niedrigwasser im längsten Strom Südostasiens, dem Mekong, wird zunehmend unberechenbarer. Staudämme, extensives Ausbaggern, das Abholzen von Wäldern, Umweltverschmutzung und andere Bedrohungen fordern ihren Tribut vom Ökosystem des Stroms und von den Menschen, die von dieser "Mutter aller Gewässer" - so die freie Übersetzung des Wortes Mekong - abhängen.
von Carmen Revenga und Curtis Runyan
Erwartungsvoll beobachten die Fischer im Dorf Chiang Khong im nördlichen Thailand vom Ufer aus das träge dahinfließende Wasser des Mekong-Flusses. Jedes Jahr im Mai tun sie das, seit hunderten von Jahren. Sie warten auf die Ankunft des riesigen Mekong-Wels, der bis zu 150 Kilogramm schwer werden kann. Aber der Wels lässt auf sich warten. Schon im Vorjahr ist er nicht erschienen, ja seit 2001 nicht mehr. Die Dürre, so hat es geheißen, sei schuld. Aber die Fischer wissen längst, dass nicht nur das Wetter verantwortlich ist.
Der Mekong, der mit seinem System von Zuflüssen und Wasserarmen durch China, Laos, Thailand, Burma, Kambodscha und Vietnam fließt, ist der zwölftlängste Wasserweg der Welt. Seine Quellgebiete liegen hoch oben in der tibetischen Hochebene in China, und nach 4800 Kilometern ergießen sich seine Wasser in das südchinesische Meer.
Das System umfasst ein Gebiet von insgesamt 795.000 Quadratkilometern, eine Fläche, in die Deutschland gut zweimal hinein passen würde. Von den Naturschätzen des unteren Mekong-Beckens allein sichern 55 Millionen Menschen ihre Existenz, die auf und am Fluss leben. Es wird erwartet, dass bis zum Jahr 2025 die Bevölkerung dort 90 Millionen betragen wird, und ebenso, wie es heute der Fall ist, wird die Mehrheit in den ländlichen Gebieten des Beckens leben. Die Gezeiten der Gewässer binden die Lebensweise der Menschen an das Mekong-Becken. Der Fluss liefert ihnen Fisch und Schlick, der ihre Reisfelder düngt, die sie auf immer weiteren Flächen anlegen. Er liefert ihr Trinkwasser und ist eine Heimat für die wilden Pflanzen und Tiere der Region.
"Das Mekong-Becken ist eines der reichsten Zentren für Flora und Wasserfauna weltweit, vielleicht nur noch vom Amazonas übertroffen", sagt Yumiko Kura, Mitautorin eines neuen Berichts des World Resources Institute (WRI) über die weltweite Fischerei. Aber besonders die Ökosysteme von Flüssen seien gefährdet. "Weltweit sterben in kurzer Zeit mehr Süßwasser-Fischarten aus als Salzwasser-Fischarten." Studien des WRI warnen: Es sei jetzt an der Zeit, die Bewirtschaftung des Mekong-Beckens zu überdenken, und nicht erst, nachdem noch mehr Dämme und Umleitungen angelegt und noch größere Umweltschäden angerichtet worden sind. Der Mekong ist das noch am wenigsten erschlossene große Flusssystem der Welt. Es steht viel auf dem Spiel.
Noch ist der Reichtum an Fischarten im Mekong-Becken beeindruckend. Zwischen 1200 und 1700 wird ihre Anzahl geschätzt. Hierzu gehören bedrohte endemische (einheimische) Fischarten wie der Mae Khong-Hering (Tenualosa thibaudeaui), der Großlippen-Karpfen (Probarbus labeamajor) und der riesige Mekong-Wels (Pangasianodon gigas). Auch eine der fünf Arten der noch existierenden Süßwasserwale ist dort zu Hause, der Irawadi-Flussdelphin (Orcaella brevirostris), welcher der Wissenschaft noch immer viele Rätsel aufgibt.
Die Flussfischerei im Mekong ist vermutlich die größte der Welt. Jährlich werden nach Schätzungen von Experten 1,5 Millionen Tonnen Fisch gefangen, mit einem Jahreswert von mehr als einer Milliarde US-Dollar. Der größte Teil der Fischerei hängt von etwa 20 Arten ab. Wissenschaftler warnen, dass die Fischerei das gegenwärtige Ertragsniveau nicht wird halten können. Zwischen den vierziger Jahren und 1995 ist die Fangmenge je Fischer um bis zu 44 Prozent zurückgegangen, teilweise eine Folge davon, dass die Zahl der Fischer zugenommen hat.
Das Mekong-Delta ist zudem ein außergewöhnlich produktives landwirtschaftliches Gebiet. Auch wenn die Landwirtschaft heute hinter die Industrie und den Dienstleistungssektor zurückgefallen ist, die heute den führenden Beitrag zum Nationaleinkommen der Mekong-Länder leisten, hängen immer noch bis zu 75 Prozent der Bevölkerung der Region von der Landwirtschaft ab, häufig in Kombination mit dem Fischfang. Das Mekong-Delta wird häufig als Vietnams "Reisschüssel" bezeichnet, da dort mehr als 16 Millionen Tonnen Reis jährlich produziert werden. Diese enorme Produktivität hängt zum großen Teil vom natürlichen Fließverhalten des Flusses und den mitgeführten Sedimenten ab.
"Wenn die Wassermenge des Flusssystems zurückgeht und/oder sich der Zeitpunkt des jahreszeitlich bedingten Wasseranstiegs und Wasserabfalls verschiebt, werden sich diese Naturschätze verringern, und ebenso der Lebensunterhalt und gesicherte Nahrungsquellen für die Millionen von Menschen, die davon abhängen," schreibt Joern Kristensen, Vorsitzender der Mekong River Commission (MRC) in seinem Bericht des Jahres 2003 über den Zustand des Beckens. Nicht naturbedingte "wechselnde Wasserstände könnten ebenso die Landwirtschaft, die Fischzucht und die Wasserversorgung für die Haushalte, sowie für kommerzielle und industrielle Nutzung negativ beeinflussen".
Die Gefährdung geht von mehreren Anrainerländern aus: Vom Staudammbau bis zu extensivem Ausbaggern drängen einige der Regierungen der Region, die nicht gerade für ihr Umweltmanagement bekannt sind, darauf, den Fluss in ihrem jeweiligen Flussabschnitt besser zu regulieren. Beispielsweise hat die vietnamesische Regierung kürzlich ein Gesetz erlassen, um Regulierungspläne des Mekong und die Probleme seiner Verschmutzung anzugehen. "In Vietnam hatten wir nicht die Absicht, uns mit einem Wassergesetz zu beschäftigen, aber als die Probleme mit dem Mekong begannen, mussten wir Lösungen entwickeln," sagte Do Hong Phan, ein früherer Hydrologe, der heute Direktor des Centre for Resources Development and Environment (Zentrum für Naturschätze, Entwicklung und Umwelt) ist. "Solche Dinge wie Wasserregulierung sind hier neu. Bis 1997 richtete die Regierung ihr Augenmerk nur auf die Errichtung neuer Wasserbauprojekte und die einfache Nutzung von Wasser."
China, der weltweit größte Erbauer von Staudämmen, verspricht nun, beim Ausgleich des Fließverhaltens des Flusses zu helfen. Überflutungen sollen vermindert und die Region mit Strom aus Wasserkraft versorgt werden. Darum will man nahe dem Oberlauf des Flusses eine ganze Reihe von Staudämmen zur Stromerzeugung bauen. Das Potenzial für Stromerzeugung aus Wasserkraft im Oberlauf des Mekong in der chinesischen Provinz Yunnan wird auf 23.000 Megawatt geschätzt. Auf Grund der Abgeschiedenheit Yunnans von den entwickelteren chinesischen Provinzen könnte Strom gut ins benachbarte Thailand exportiert werden.
Gemeinsam mit Burma und Laos hat China ferner mit einem Programm begonnen, Stromschnellen und Untiefen zu beseitigen, um den Fluss für die kommerzielle Schifffahrt leichter befahrbar zu machen. Thailand hat dem Plan ebenfalls zugestimmt, doch seine Unterstützung dafür kürzlich suspendiert. Im Jahr 2001 betrug das Handelsvolumen der auf dem Mekong transportierten Waren 4,7 Milliarden US-Dollar. Der Handelsaustausch zwischen Thailand und der Provinz Yunnan verdoppelte sich bis zum Jahr 2001 auf etwa 88 Millionen US-Dollar.
Während Wirtschaftswissenschaftler erwarten, dass der Warentransport auf dem Mekong weiter wachsen wird, haben diese Projekte bei den Anrainern weiter flussabwärts beträchtliche Besorgnis ausgelöst. Vertreter der Regierungen der Länder im unteren Mekong-Becken sind darüber besorgt, dass die Eingriffe in die Ökologie des Flusses den Lebensunterhalt von Millionen von Bauern und Fischern am Fluss stören wird.
Jedes Jahr während des Monsunregens staut sich der Mekong in einen Nebenfluss hinein und überschwemmt den Tonle Sap (übersetzt "der Große See") in Kambodscha, den größten Binnensee in Südostasien. Während einiger Monate im Jahr steigt der See über seine Ufer und überflutet ein Gebiet, das fünf bis sechsmal so groß ist wie das Gebiet, welches er während der Trockenzeit bedeckt - insgesamt also mehr als 1,25 Millionen Hektar. Von einer durchschnittlichen Tiefe von 3,6 Metern steigt der Tonle Sap auf 10 Meter an und sinkt während der Trockenzeit wieder ab.
Im vergangenen Jahr gab Kambodschas Premierminister Hun Sen seiner Besorgnis Ausdruck, dass die Kanalisierung des Flusses und der Bau von Staudämmen zum Austrocknen des Tonle Sap und zu einer weiteren Bedrohung der Fischbestände führen würden. Der See bietet den verschiedenen Fischarten des Mekong wichtige Laichgründe. "Glauben Sie mir, das Austrocknen des Tonle Sap wird nicht nur Kambodscha, sondern die gesamte Region in Mitleidenschaft ziehen," sagte Hun Sen im vergangenen Jahr in einem Interview mit einem kambodschanischen Journalisten, "Veränderungen des Wasserstandes sind ein wichtiger Faktor." Bis zu 70 Prozent des Eiweißbedarfs in Kambodscha wird durch den Fischfang im Tonle Sap gedeckt.
Als Reaktion auf die drückenden Umweltprobleme und auf Veranlassung der Weltbank und anderer Entwicklungsorganisationen haben Kambodscha, Vietnam, Thailand und Laos beschlossen, die Entwicklung des Mekong besser zu koordinieren. 1995 ersetzten sie das Mekong Committee durch die Mekong River Commission (MRC). Ausgangspunkt war das Committee for the Investigation of the Lower Mekong Basin (Komitee für die Erforschung des unteren Mekong-Beckens), das 1957 gegründet wurde, um die Entwicklung der Wasserkraft in der Region abzustimmen. Heute ist es das Ziel der MRC, die Entscheidungen in den jeweiligen Staaten zu koordinieren, die den Fluss betreffen, und eine zukunftsfähige Nutzung der Wasserressourcen zu fördern.
Angetrieben vom Druck ausländischer nichtstaatlicher Organisationen (NGOs) und internationaler Institutionen arbeitet die MRC hauptsächlich auf regionaler Ebene. "Damit echter Wandel stattfindet, muss der Wandel von diesen Ländern selbst ausgehen," sagte Mairi Dupar, ein Experte des WRI, der mit führenden Vertretern von Bürgerinitiativen im Mekong-Gebiet zusammenarbeitet. "Die Regierungen glauben häufig, dass sie diese Umweltprobleme durch nationale Verwaltungsmaßnahmen lösen können, doch die Lösung liegt häufiger darin, lokale Entscheidungsträger und die betroffenen Parteien an einen Tisch zu bringen."
Allerdings wird die Suche nach Lösungen für die Probleme des Mekong dadurch erschwert, dass China immer noch nicht Mitglied der MRC ist, obwohl es den Oberlauf des Flusses kontrolliert. China möchte, dass die MRC ihre Regeln für die Wassernutzung präzisiert und keine Beschränkungen für den Bau von Staudämmen und die Ableitung von Wasser in seinem Abschnitt des Mekong auferlegt. Aber ein Vorgehen, welches das gesamte Mekong-Becken umfassen würde, dürfte insgesamt mehr Vorteile bringen. Da die Länder am Mekong ausnahmslos die Entwicklung des Wasserkraftpotenzials der Region von 30.000 Megawatt befürworten, würde ein koordiniertes Vorgehen Chinas Chancen verbessern, seine Elektrizitätsproduktion bei den anderen Nutzern in der Region zu vermarkten. Dies würde es den Regierungen am Mekong ermöglichen, unter Umweltschutzgesichtspunkten zwischen "guten" und "schlechten" Staudämmen zu unterscheiden - sodass es zu geringeren Störungen der Gezeiten der "Mutter aller Gewässer" kommt.
FlussfischereiHobby für die UrenkelWer bei Mark Twain liest, wie der Mississippi einst durch ein sich Jahr um Jahr veränderndes Labyrinth von Flussarmen mäanderte, der findet eine Beschreibung, die heute noch fast genauso für den im Amazonas mündenden Rio Negro gilt und für den Mekong noch vor ein paar Jahren galt. Der Wandel am Mekong zeigt, dass die letzten noch ungebändigten großen Flüsse in Entwicklungsländern nachholen, was in den Industrieländern lange zuvor geschah. Sie werden für die Schiffahrt kanalisiert, es werden Dämme zur Bewässerung und Stromerzeugung gebaut, Industrien entstehen an den Ufern und verschmutzen das Wasser. Welche Auswirkungen das für die Flussfischer hat, wird dabei nur selten ins Kalkül gezogen. Die Schadstoffe im Wasser töten Fische oder machen sie für den Konsum unbrauchbar. So wird etwa vor dem Verzehr von im ägyptischen Teil des Nils gefangenen Fischen gewarnt, weil ihr Chemikaliengehalt nachgewiesenermaßen gesundheitsschädlich ist. Staustufen in den Flüssen unterbrechen die normalen Überflutungszyklen, unterbinden die natürliche Wanderung von Fischen und beeinträchtigen ihre Reproduktion. In den Stauseen selbst verändert sich die Zusammensetzung der Arten. Noch liefern die Flüsse grob geschätzt - genaue Zahlen gibt es nicht - bis zu 4 Prozent der Fischmengen für die menschliche Ernährung. Aber im chinesischen Jangtse, der russischen Wolga, dem westafrikanischen Niger, dem südamerikanischen Rio Plata und den australischen Flüssen Murray und Darling sind die Fischbestände in den letzten Jahren stark zurückgegangen. Und mit den Fischen stirbt das Gewerbe der Flussfischerei, von dem in Entwicklungsländern heute noch zahlreiche Menschen leben. In den Industrieländern kehrt sich der Trend mittlerweile wieder um. In einigen Seitenflüssen der Elbe etwa gibt es seit ein paar Jahren wieder Lachse. Die gewerblichen Flussfischer werden gleichwohl keine zweite Blüte erleben. Aber Hobby-angler und -fischer fangen in Deutschland inzwischen rund sechsmal so viel Fisch wie die berufsmäßigen Binnenfischer. du |
aus: der überblick 02/2004, Seite 45
AUTOR(EN):
Carmen Revenga und Curtis Runyan:
Carmen Revenga leitet als Senior Associate des Informationsprogramms die Forschungen über Wasser und Fischerei am "World Resources Institute" in Washington, D.C., USA (www.wri.org).
Curtis Runyan schreibt für "WRI Features", ein monatlich erscheinender Nachrichtenservice über Umwelt- und Entwicklungsfragen.