Auf der Suche nach Indiens neuer Mittelschicht
von Jan Nijman
In den letzten Jahren sind die sozialen Schichten in Indien in den Informationsmedien und der akademischen Literatur, bei Entwicklungsorganisationen und in Konzernvorständen sowie Vertriebs- und Werbeabteilungen vieler Unternehmen zu einem heißen Diskussionsthema geworden. Dabei stehen sich zwei Ansichten gegenüber. Die erste verweist auf das rasche Entstehen einer neuen städtischen Mittelschicht; diese Tendenz wird von vielen, insbesondere Anhängern des freien Marktes, Reformern und Unternehmen, begeistert begrüßt. Die andere unterstreicht die Marginalisierung der Armen. Das ist ein Trend, der von Politikern der Linken, Sozialaktivisten und anderen, die über die ungleichen Folgen der Liberalisierung besorgt sind, bedauert wird.
Zweifellos beherrscht die erste Sicht den offiziellen und öffentlichen Diskurs. Das Auffälligste am städtischen Indien heute ist vielleicht der Zeitgeist, der sich von früheren Zeiten sehr stark unterscheidet: Es herrscht ein unverkennbares Gefühl von freudiger Erwartung und Vertrauen in wirtschaftliche Fortschritte und soziale Aufstiegsmöglichkeiten. Dieser vorherrschende öffentliche Diskurs scheint keinen Zweifel zu lassen an der "entstehenden städtischen Mittelschicht". Überzeugende Statistiken sind jedoch schwer zu finden, und empirische Analysen dieser neuen Mittelschicht sind recht selten.
Der angeblichen Ausweitung der Mittelschicht kommt große Bedeutung zu. Die Modernisierung von hochentwickelten Gesellschaften wie Westeuropa, Nordamerika und Japan beruhte auf den beiden Prozessen der Industrialisierung und der Urbanisierung im letzten Teil des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Menschen wurden durch die Aussicht auf Arbeitsplätze in der Produktion in die Städte gelockt und diese Arbeitsplätze sollten ihnen den Aufstieg ermöglichen. Das Entstehen einer beträchtlichen Mittelschicht war ein wesentlicher Bestandteil der Entwicklung, Demokratisierung und Prosperität des Westens. Wird sich diese Erfahrung im heutigen Indien wiederholen?
Schauen wir uns Mumbai an, das frühere Bombay. Mumbai ist Indiens Wirtschaftshauptstadt, das Tor zur Weltwirtschaft und mit fast 18 Millionen Einwohnern die größte Stadt des Landes. Manchmal wird sie auch die "Goldstadt" genannt, eine Stadt, zu der viele bettelarm gekommen und in der sie zu Wohlstand gelangt sind mit anderen Worten, ein Ort mit vielen sozialen Aufstiegsmöglichkeiten und das ideale Umfeld für eine Untersuchung der neuen Mittelschicht Indiens.
Verlässliche Daten sind selten, insbesondere zur Feststellung von langfristigen Trends. Es gibt jedoch genug Informationen, um uns eine Vorstellung davon zu geben, was geschieht. Nach Angaben des "Nationalrates für angewandte Wirtschaftsforschung" (NCAER) hat sich die Struktur der Einkommensklassen von Mumbai zwischen 1985 und 2000 geringfügig geändert. In Mumbai, wo die Lebenshaltungskosten wesentlich höher sind als im übrigen Indien, lassen sich jährliche Haushaltseinkommen zwischen 70.000 und 140.000 Rupien (das entspricht einer Kaufkraft von rund 20 bis 40 Euro pro Tag) als "untere Mittelschicht" und "Mittelschicht" bezeichnen. Haushalte mit Einkommen unter 70.000 Rupien sind "arm", und solche mit Einkommen über 140.000 gehören zur "oberen Mittelschicht" oder zur "Oberschicht".
Im Laufe der Zeit hat sich der Bevölkerungsanteil der Armen von Mumbai von 25 Prozent auf 27 Prozent leicht erhöht, die relative Größe der unteren Mittelschicht und der Mittelschicht ist von 52 Prozent auf 45 Prozent gesunken, und der Anteil der oberen Mittelschicht und der Oberschicht ist von 22 Prozent auf 28 Prozent gestiegen. Das legt eher einen Trend zur Polarisierung denn eine insgesamt wachsende Mittelschicht nahe.
In vielen Teilen Mumbais und anderen indischen Städten ist die rasche Ausbreitung konsumorientierter Lebensstile klar erkennbar. Gesellschaftsschichten werden häufig danach definiert, was und wie viel sie konsumieren. Das liegt teilweise daran, dass die Geschäftswelt so stark an der Konsumkraft der bestehenden und künftigen Mittelschicht interessiert ist. Das Entstehen einer Konsumkultur ähnlich der des Westens ist deutlich zu sehen, zumindest in Mumbai und anderen Großstädten.
In den Jahren 2001 bis 2004 nahm der gesamte Konsum in Indien pro Jahr um rund 11 Prozent zu. Das Wachstum war am eindruckvollsten bei Gebrauchs- und Luxusgütern wie Haushaltsgeräten, Unterhaltungselektronik und Autos. Im Vergleich zu vielen anderen Ländern in Südostasien befindet sich das Einzelhandelsgewerbe in Indien noch im Anfangsstadium, doch nach Industrieberichten wächst sie "in astronomischem Tempo". Mit seiner großen Anzahl von relativ wohlhabenden Menschen ist Mumbai der Lebensstil-Trendsetter in Indien. Das erste Einkaufszentrum im amerikanischen Stil in Indien, Crossroads, wurde in einem alten Fabrikgebäude in Mumbai eingerichtet.
Das meistgeschätzte langlebige Konsumgut in Mumbai wie anderswo sind Wohnungen. Bis die Liberalisierungsmaßnahmen in den neunziger Jahren griffen, war der Wohnungsmarkt sehr passiv und aufgesplittert. Im Zuge der Liberalisierung wurden Regulierungen gelockert, Steuern reformiert, Zinssätze gesenkt; Finanzinstitutionen wurden eingeschaltet, und Bauunternehmer und Grundstückserschließungsunternehmen wetteiferten miteinander.
Das Ergebnis all dessen war eine echte Revolution auf dem Wohnungsmarkt. Zum ersten Mal in der Geschichte dieser Stadt gab es einen massiven Wohnungsbau mit Wohnungen von bisher ungekannter Qualität. Seit 1998 nahm der Wohnungsbau in Groß-Mumbai um durchschnittlich 15 bis 20 Prozent pro Jahr zu; die Anzahl der neu gebauten Häuser wird jetzt auf insgesamt fast 200.000 geschätzt. Die meisten Wohnungen werden in den nördlichen und östlichen Vororten gebaut, weg vom älteren und dichter bebauten südlichen Teil der Stadt. Es handelt sich fast ausschließlich um Hochhäuser.
Dass nunmehr anständige Wohnungen gebaut werden und große Teile der Bevölkerung diese sich leisten können, gilt als Ausdruck der steigenden Haushaltseinkommen und einer sich ausbreitenden Mittelschicht. Sicher ist richtig, dass der neue Wohnungsmarkt vielen Menschen ermöglicht hat, in größere Häuser von besserer Qualität zu ziehen. Doch einer umfassenden Erhebung von 2005 zufolge liegt das Durchschnittseinkommen von Haushalten in den neuen Siedlungen (400.000 Rupien, umgerechnet knapp 7200 Euro pro Jahr, in Kaufkraft gerechnet das Fünffache) etwa um das Dreifache über dem Durchschnittseinkommen der Bevölkerung von Mumbai.
Die billigsten Wohnungen, die in den letzten fünf Jahren in Mumbai gebaut wurden, in der Regel kleine Ein-Schlafzimmer-Wohnungen in den Vororten, kosten etwa 1,5 Millionen Rupien (27.000 Euro). Das ist über das Zehnfache des jährlichen durchschnittlichen Haushaltseinkommens, was bedeutet, dass selbst die billigsten neuen Wohnungen für die Mehrheit der Bewohner von Mumbai unerschwinglich sind. Außerdem zielen die meisten Bauunternehmer und Grundstückserschließungsunternehmen auf einen Markt der höheren Einkommensschichten ab: Die meisten neu gebauten Wohnungen kosten zwischen 2,5 und 4 Millionen Rupien, und der Marktanteil von neuen Wohnungen unter 2,5 Millionen Rupien beträgt lediglich 17 Prozent.
Die sozialen Aufstiegsmöglichkeiten von Menschen aus den unteren Schichten in die Kategorie der Mittelschicht, die genügend Einkommen für den Kauf einer neuen Wohnung haben, scheinen beschränkt zu sein: über 83 Prozent aller Haushalte berichteten, dass auch ihre Eltern ein Haus besitzen oder besessen haben, auch wenn diese Häuser vermutlich nicht von der gleichen Größe und Qualität sind oder waren wie die neuen. Das gibt Rätsel auf. Wenn die meisten Menschen mit geringerem Einkommen keinen Zugang zu neuen Wohnungen haben und wenn es keine Beweise für einen bedeutenden Aufstieg von Niedrigeinkommensgruppen in die Mittelschicht gibt, wie lässt sich dann der rasch anwachsende Markt für Wohnungen von höherer Qualität deuten? Die Konsumrevolution Indiens lässt sich nicht angemessen damit erklären, dass sich der Arbeitsmarkt umstrukturiert und die Mittelschicht ausweitet.
Das Konsumwachstum mit jährlich 11 Prozent lag in den letzten fünf Jahren eindeutig über dem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts mit jährlich 7 Prozent. Woher kommt dieses Wachstum somit? Die Zunahme des Konsums beruht weitgehend auf etlichen Änderungen fiskalischer und sonstiger Bestimmungen: Das war vor allem ein bedeutender Rückgang der Zinssätze für Hypotheken von etwa 17 Prozent Mitte der neunziger Jahre auf etwa sieben Prozent im Jahre 2004. Ferner wurde die Einkommensteuer drastisch gesenkt, was für die Konsumenten höhere Kaufkraft bedeutet. Außerdem wurden Steuervergünstigungen für Hypothekenzinszahlungen eingeführt und dank des stärkeren Wettbewerbs die Darlehenskriterien gelockert und die Finanzdienstleistungen verbessert. Hinzu kommt noch der kometenhafte Aufstieg der Finanzierungsbranche und eines hochentwickelten Marketing- und Werbesektors.
Was die indische Mittelschicht nun genau ist, mag etwas mysteriös bleiben, doch der Konsumfinanzierungsbranche in Indien ging es noch nie so gut. "Plastikgeld explodiert", berichtete die Times of India am 30. Mai 2005 in einem Artikel auf der ersten Seite. Die Anzahl von Kreditkarten in Indien habe sich binnen eines Jahres um 40 Prozent erhöht. In der gleichen Zeitung war zu lesen, dass "der leichte Darlehen-Zugang zu einer Welle von Autokäufen führt". In den vergangenen zwei Jahren hat die Anzahl der Autos in Mumbai um durchschnittlich 12 Prozent im Jahr zugenommen, und 85 Prozent aller neuen Autos wurden Berichten zufolge auf Kredit gekauft.
Die Inder haben ihre Gewohnheiten geändert, sagen die großen Werbeunternehmen, "von einer Sparmentalität zu einer Kaufmentalität im Rahmen ihrer Möglichkeiten". Dieser Satz muss eingedenk dessen verstanden werden, dass Sparsamkeit eine traditionelle, jedoch schwindende indische Tugend ist. Wie groß diese "Möglichkeiten" der indischen Konsumenten wirklich sind, ist offen, doch scheint klar zu sein, dass die Finanzindustrie verhindern will, dass sie es sich noch anders überlegen.
Im städtischen Indien wird die Zugehörigkeit zur Mittelschicht meistens am sichtbaren Konsum festgemacht. Das führt ehrgeizige aufstrebende Inder in Versuchung, mehr auszugeben, als sie an eigenem Geld zur Verfügung haben solange sie den nötigen Kredit bekommen können. Es hat deshalb den Anschein, dass ein Teil des gegenwärtigen Konsums der städtischen Inder eine Art von vorwegnehmender Sozialisierung bildet, das heißt, der Konsum basiert auf der Erwartung von sozialen Aufstiegsmöglichkeiten. Diese Konsumenten gehören (noch) nicht der Mittelschicht oder der oberen Mittelschicht an, tun jedoch so. Und das Finanzdienstleistungsgewerbe ist da, um ihnen zu helfen.
Wenn immer mehr Menschen in Indien Zugang zu qualitativ hochwertigen Konsumgütern haben, klingt das zunächst gut. Beim näheren Hinsehen stellen wir jedoch fest, dass die Realität nicht ganz der allgemeinen optimistischen Stimmung und den Vorstellungen von einer Mittelschicht entspricht, die heute für einen Großteil des städtischen Indiens typisch zu sein scheint.
Erstens sind Behauptungen über das Entstehen einer "großen Mittelschicht" häufig übertrieben. Es ist nicht so sehr die gesamte Mittelschicht, die größer wird, sondern die kleinere obere Mittelschicht nimmt zu. Für die Armen und Menschen, die nach ihrem Einkommen zur unteren Mittelschicht zählen und das sind rund drei Viertel der Bevölkerung Indiens , ändert sich weit weniger. Zweitens wächst der Konsum zwar vor allem in der oberen Mittelschicht sehr rasch, doch ein Großteil davon wird mit Krediten finanziert und ist nicht auf neue und besser bezahlte Arbeitsplätze zurückzuführen. Drittens lässt sich die wachsende Kaufkraft der so genannten neuen Mittelschicht teilweise damit erklären, dass in einem Haushalt nicht nur ein Familienmitglied, sondern mehrere einer bezahlten Tätigkeit nachgehen.
Traditionell war im typischen indischen Haushalt nur der Mann berufstätig, doch in den letzten Jahren drängten viele verheiratete indische Frauen auf den Arbeitsmarkt. Aus der NCAER-Untersuchung geht hervor, dass 47 Prozent aller Haushalte in neuen Wohnungen über mehrere Einkommen verfügen. Man könnte sagen, dass die Menschen im Westen mehr als einen Verdiener im Haushalt benötigen, um in der Mittelschicht zu bleiben, während in Indien mehrere Einkommen benötigt werden, um in die Mittelschicht aufzusteigen. Zwar werden bessere Wohnungen gebaut und zu günstigeren Monatsraten als je zuvor verkauft, dennoch sind diese für die meisten Menschen in den Städten Indiens unerschwinglich, auch für viele Menschen mit durchaus angesehenen Arbeitsplätzen wie Lehrer, Polizisten und Staatsbedienstete, die in der Regel als "Mittelschicht" gelten. Und gewiss trägt die neue Bautätigkeit in Mumbai nichts dazu bei, den dringenden Bedarf der sechs Millionen Slumbewohner in der Stadt zu decken.
Zwar hatte die indische Volkswirtschaft in den letzten Jahren hohe Wachstumsraten zu verzeichnen, aber sie ist weit davon entfernt, die westliche Erfahrung einer mit Urbanisierung gekoppelten Industrialisierung zu wiederholen. Wäre das der Fall, würden wir bedeutende Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt und Einkommenszunahmen in der ganzen Bevölkerung erleben. Das Besondere am Wachstum Indiens liegt jedoch darin, dass ein Großteil davon auf der Informationstechnologie beruht. In diesem Sektor sind aber nur sehr wenige Menschen beschäftigt. Zwar beziehen viele Personen in dieser Branche spektakuläre Gehälter, doch machen sie nur einen geringen Prozentsatz der Bevölkerung aus nach jüngsten Schätzungen nur rund eine Million in einem Land mit über einer Milliarde Einwohnern.
Landesweit leben 65 Prozent der Bevölkerung auf dem Land und von der Landwirtschaft. Die Urbanisierungsrate ist seit Mitte des 20. Jahrhunderts recht hoch, verlangsamt sich jedoch. Das bedeutet, dass die Städte die Menschen nicht mit Arbeitsplätzen in der Produktion anlocken im Gegensatz zur Erfahrung des Westens. In China wird die Zahl der Arbeitnehmer in der Produktion auf 100 Millionen Menschen geschätzt, in Indien auf lediglich 7 Millionen.
Aus diesem Grund finden wir zurzeit in Mumbai oder anderen indischen Städten keine "große Mittelschicht" vor. Außer wenn wir von Konsum reden. Die sich in Indien vollziehenden Veränderungen lassen sich somit als eine konsumorientierte wirtschaftliche Umgestaltung bezeichnen. Es ist durchaus möglich, dass sich diese Zunahme des Konsums schließlich auf weitere Teile der Gesamtwirtschaft und der Bevölkerung auswirken wird, doch das wäre ein anderer Modernisierungsprozess als der, den der Westen in früheren Zeiten erlebt hat, und auch ein anderer als der im heutigen China und als alles, was sie Welt zuvor gesehen hat.
aus: der überblick 03/2007, Seite 70
AUTOR(EN):
Jan Nijman
Jan Nijman ist Professor für Geographie und Direktor für Urbane Studien an der Universität
Miami, USA. Seine Untersuchungen über die Mittelschicht von Mumbai wurden
von der US "National Science Foundation" unterstützt.