Es fehlt an Geld, Know-How und Engagement, um die afghanische Wirtschaft in Schwung zu bringen
Die internationale Staatengemeinschaft hat Milliardenbeträge für den Aufbau des Landes am Hindukusch versprochen. Doch bleibt Afghanistan - auch fast zwei Jahre nach dem Ende der Taliban-Herrschaft - von einem wirtschaftlichen Aufschwung noch weit entfernt. Ohne den aber fehlt die Basis für eine demokratische Entwicklung und dauerhafte politische Stabilität. Immerhin gibt es Beispiele, die hoffen lassen.
von Frank Hartmann
Die Frage ist nicht ob, sondern wann der Strom das nächste Mal ausfällt. Denn die Energieversorgung, Impulsgeber für den Herzschlag jeder Wirtschaft, gehört nach wie vor zu den ungelösten Problemen Afghanistans - nicht nur in den Provinzen, auch in den zerschossenen Außenbezirken der Hauptstadt Kabul. Sogar im Zentrum ist das öffentliche Stromnetz so lückenhaft geknüpft, dass nicht einmal die Ministerien ohne Generatoren im Dauerbetrieb auskommen. Und selbst die fallen gelegentlich aus.
So spielt sich das Leben zu beiden Seiten des Kabul Rivers überwiegend zwischen Sonnenaufgang und Abenddämmerung ab. In dieser Zeit quellen die von Schlaglöchern und Asphaltbuckeln durchzogenen Straßen über von Fahrzeugen, verschlingt die Millionenstadt ständig überladene Busse, hupende Taxifahrer, knatternde Mopeds und klingelnde Radler, um sie an anderer Stelle wieder auszuspucken.
Auf den Bürgersteigen reihen sich offene Getreidesäcke an Körbe mit duftenden Gewürzen. Vereinzelt baumeln an Haken frisch geschlachtete Ziegen und Hammel, deren Fleisch sich kaum jemand leisten kann. Zwischen Bauchläden mit Batterien und Armbanduhren unter Glas, drängen sich fliegende Händler, Krüppel, Bettlerinnen mit Babys im Arm. Auch Jungen mit fleckigen Wangen und dreckverkrusteten Füßen, die sich als Laufburschen und Wasserträger anbiedern. Einer von ihnen hat einen Ausländer entdeckt. "Sir, Sir, just five Dollars - nur fünf Dollar, Herr", spricht er den Fremden auf Englisch an und zieht einen druckfrischen irakischen 25-Dinar-Schein mit dem Porträt Saddam Husseins aus der löchrigen Brusttasche seines Hemdes.
Die Zahl der Straßenkinder, so Reinhard Fichtl von terre des hommes in Afghanistan, wächst dramatisch. Schätzungen der Vereinten Nationen (UN) und anderer Organisationen zufolge sind es zwischen 50.000 und 80.000. Unter den Kindern, meistens Jungen im Alter zwischen acht und zwölf Jahren, sind viele Vollwaisen. Manche betteln in ihrer Not. Doch die Mehrzahl schuftet in dunklen Hinterhöfen für einen Tageslohn von umgerechnet 35 Cent. Weil sie keinen Zugang zu Trinkwasser haben und es außer offenen Abflussrinnen keine Kanalisation gibt, leiden die meisten an Typhus und Ruhr, manche auch an Malaria. "Die medizinische Versorgung ist so schlecht", sagt ein afghanischer Medizinstudent niedergeschlagen, "dass wir selbst Bangladesch um Unterstützung bitten müssen - Bangladesch!" Eindrücke, die für die Situation des ganzen Landes stehen: ernst, aber - Inshallah, so Gott will - nicht hoffnungslos.
Allein auf fremde Hilfe, weltliche wie himmlische, mögen die gottesfürchtigen Afghanen sich nicht mehr verlassen. Den Anfang machte im Juni 2002 eine Emergency Loya Jirga, eine Notstands-Ratsversammlung auf dem eigens hergerichteten Gelände des Polytechnikums in Kabul. Rund 1700 Delegierte der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen Afghanistans kamen bei dieser traditionellen Ratsversammlung zusammen.
Die Erwartung sowohl der Afghanen als auch der internationalen Gemeinschaft an diese erste Loya Jirga nach dem Krieg waren besonders hoch. Allen war klar, dass Frieden in Afghanistan sich nicht allein militärisch erreichen lässt, sondern nur mit politischer Unterstützung aller Volksgruppen. Wohl auch deshalb endete die Ratsversammlung mit einer unmissverständlichen Botschaft: "über die Zukunft unseres Landes wollen wir Afghanen selbst entscheiden. Und zwar mit dem Stimmzettel, nicht mit der Kalaschnikow", erinnert sich Citha D. Maaß, Mitarbeiterin der Deutschen Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ). Die afghanische Regierung unter Präsident Hamid Karsai - er wird von vielen als "Marionette des Westens" geschmäht und wegen seiner offensichtlichen Machtlosigkeit als "Bürgermeister von Kabul" verspottet - prägte daraufhin nach Auskunft des stellvertretenden Ministers für Kleinindustrie und Ernährung folgenden Leitspruch: "Leave the weapons, go to work" - Lasst die Waffen ruhen, geht zur Arbeit.
Ein solcher Appell ist nur vor dem Hintergrund von 23 Jahren Bürgerkrieg verständlich: Eine ganze Generation afghanischer Männer ist mit der Waffe in der Hand aufgewachsen. Statt Lesen und Schreiben haben sie gelernt zu kämpfen. Statt Pflüge zu schmieden oder Getreide anzubauen, mussten sie das Leben ihrer Familien verteidigen.
Für Frauen, denen es unter der Herrschaft der Taliban jahrelang verboten war, eine Schule zu besuchen und einen Beruf zu erlernen, muss diese Aufforderung der Regierung jedoch zynisch klingen. Noch 1977 betrug ihr Anteil im Parlament 15 Prozent; bis in die neunziger Jahre hinein stellten sie zwei Drittel aller Lehrer, die Hälfte aller Staatsbediensteten und 40 Prozent aller Ärzte. Selbst wenn Afghaninnen jetzt eine Berufsausbildung nachholen, in Schulen und Universitäten unterrichten, richterliche Urteile sprechen, Fernsehnachrichten verlesen, die Buchhaltung der staatlichen Fluglinie Ariana führen und Landminen räumen: Diese Beispiele gelten vor allem für die größeren Städte. Und sie können nicht darüber hinweg täuschen, dass überall qualifizierte Arbeitsplätze fehlen.
Wenn überhaupt, finden die meisten Afghanen derzeit nur Gelegenheitsjobs. So geht es etwa tausenden aus Pakistan zurückgekehrten Familien, die in Zeltdörfern des UN-Hochkommissariats für Flüchtlingsangelegenheiten (UNHCR) oder in wilden Lagern am Stadtrand von Kabul hausen. Ahlim Khialghal, Sprecher von 218 Flüchtlingsfamilien, bemängelt: "Wir leben seit Monaten hier. Unsere Häuser sind zerstört, und die Regierung tut nichts. Nur ein paar Männer haben Arbeit. Sie stellen sich da vorn an die Kreuzung, und wenn einer Glück hat, dann darf er nachts Lastwagen entladen."
Und wenn nicht, müssen die Kleinen ran: zum Beispiel den ganzen Tag glühende Kohlestückchen für Bügeleisen feilbieten, anstatt in die Schule zu gehen. Es gibt sogar eine in der Nähe, aber dort weigert man sich, sie aufzunehmen. Wegen fehlender Ausweispapiere. "Wir sind doch nirgendwo registriert", klagen die Eltern. Und Heimkehrer, die nicht registriert sind, existieren für die Behörden nicht. So versuchen ihre Söhne und Töchter auf jede erdenkliche Weise, Geld zu verdienen. Am liebsten Afghani, auch US-Dollar und Euro. Die fremden Währungen zu wechseln, ist kein Problem. Da kein funktionierendes Bankensystem existiert, stehen an allen größeren Straßen und im Basar junge Männer mit dicken Geldbündeln und warten auf Kundschaft. Für zehn US-Dollar rücken sie 470 Afghani raus.
Symptomatisch für die Situation im ganzen Land ist das Prozedere in der mächtigen Pashtany Tejaraty Bank: Wegen eines Stromausfalls liegen die Marmorfliesen und die hufeisenförmig angeordneten Schalter in den zwei weitläufigen Hallen im Halbdunkel. Geld wechseln kann man in der oberen Etage, wo sich etwa 25 Angestellte vor allem mit sich selbst beschäftigen - bis ein Kunde die Halle betritt. Sofort huscht die älteste der Damen heran, zehn weitere Mitarbeiter im Gefolge. Die Bitte, 20 Dollar zu wechseln, bekümmert die Angestellten. "Sie müssten einen Antrag stellen, Formulare ausfüllen und auf eine offizielle Genehmigung warten. Das dauert drei Tage", sagt ein junger Mann teilnahmsvoll: "Wir würden uns aber freuen, wenn wir Ihnen privat helfen dürften." Und schon kramen fünf aus der Gruppe in Hosen, Hemden und Täschchen, um 940 Afghani zusammen zu bekommen.
Zu kaufen gibt es dafür alles: Neben heimischem Fladenbrot, grünem und schwarzem Tee, Taschenradios aus Japan, Kleidung aus Pakistan, französisches Baguette, deutsche Butter, Käse aus Österreich und Holland, Schweizer Schokolade, italienischen Wein, belgisches Bier, amerikanische Zigaretten, chinesisches Toilettenpapier. Die vom Boden bis zur Decke prall gefüllten Regalbretter der Geschäfte biegen sich unter dem Gewicht. Selbst in Provinznestern wie Gardez, zwei Autostunden südlich der Hauptstadt, findet man zu Pyramiden aufgetürmte Dosen mit Coca und Pepsi Cola. Das Überangebot an - nahezu ausschließlich eingeführten - Waren macht deutlich: Afghanistan liegt wirtschaftlich noch am Boden.
Früher bauten die Bauern unter anderem Weizen, Baumwolle, Weintrauben und Melonen an, handelten mit Häuten und verarbeiteten die Wolle ihrer Karakul-Schafe. Doch Millionen verbuddelter Minen, die täglich Menschen, Kamele, Schafe und Ziegen zerfetzen, sowie verwüstete Bewässerungskanäle haben die landwirtschaftliche Produktion um mehr als die Hälfte einbrechen lassen.
Conrad Schetter, Afghanistan-Experte am Zentrum für Entwicklungsforschung (ZEF) in Bonn, hat die Folgen analysiert: "Die Zerstörung der traditionellen wirtschaftlichen Basis der einfachen Afghanen hat zu einem drastischen Veränderung des Arbeitsmarktes geführt." Um zu überleben, seien sie beispielsweise gezwungen, Arbeit als Milizionäre zu akzeptieren, oder auch illegale Beschäftigungen. Die durch das lange Machtvakuum und Kriegsfolgen entstandene und weiter vorherrschende "Bazar-Wirtschaft", so seine Einschätzung, basiere auf "der Ausbildung militanter Islamisten, der Produktion und dem Verkauf von Opium, Schmuggel, dem Ausverkauf von Antiquitäten und der Ausbeutung von Bodenschätzen."
Das seit dem Altertum weltweit größte Abbaugebiet für den Halbedelstein Lapislazuli zum Beispiel liegt in der bergigen Provinz Badakhshan. Die Taliban hatten mehrmals versucht, die Minen zu stürmen. Doch die Kämpfer der Nordallianz unter Ahmed Schah Massud blieben stets siegreich. Unter anderem, weil sie mit den Erlösen aus dem Lapislazuliverkauf immer wieder neue Waffen und Munition aus Russland und dem Iran kaufen konnten. Seit dem Ende der Taliban-Herrschaft weiß jedoch niemand mehr, wer was in welchen Minen treibt. Aus der Hauptstadt trauen sich weder Regierungssoldaten noch Finanzbeamte in die Berge. In den Ministerien in Kabul munkeln Beamte lediglich, dass die Regierung den Lapislazuli-Schmuggel zähneknirschend dulde, da sie den Abbau ohnehin nicht kontrollieren könne.
Beim Import hingegen steht der Überfluss an ausländischen Gütern im krassen Missverhältnis zu den wenigen Afghanen, die sich diese Produkte leisten können. Nicht umsonst schleppen Straßenkinder schwere Kanister mit Trinkwasser durch die Straßen. Bei dem üblichen Tagesverdienst stellt griechisches Mineralwasser für 80 Cent puren Luxus dar. Selbst die Fahrer der Hilfsorganisationen, die mit 200 US-Dollar im Monat für afghanische Verhältnisse ein Spitzengehalt verdienen, ziehen das örtliche Trinkwasser den 1,5 Liter-Plastikflaschen vor. Da die Soldaten der internationalen Schutztruppe ISAF sich im Camp Warehaus versorgen, einem riesigen Militär-Warenlager im Osten Kabuls, bleiben als Käufer für die Importware vor allem ausländische Geschäftsleute, Aufbauhelfer und Exil-Afghanen.
"Was macht die Regierung mit dem ganzen Geld aus dem Ausland?", diese Frage bewegt nicht nur ankommende Flüchtlinge, sondern auch zurückkehrende Afghanen, die sich eigentlich in ihrer Heimat selbständig machen wollen und die Situation vor Ort erkunden. Die meisten reisen vorzeitig wieder ab, "schockiert von den Zuständen hier."
Mit den Zuständen meinen sie vor allem die weitgehend zerstörte Infrastruktur, die oft ungeklärten Eigentumsverhältnisse, vor allem aber die instabile Sicherheitslage. Die offenbart kein Gebäude eindringlicher als die US-Botschaft in Kabul. Mit Sandsäcken, Stacheldraht, Schlagbäumen, Schikanen und Wachtürmen gleicht sie einer Militär-Festung. Zugleich verdeutlicht sie eine der Hauptursachen für das Wirtschaftsproblem: Versprengte Taliban, Al-Qaida-Kämpfer und radikal-islamische Stammesführer, die mit immer neuen Angriffen auf die internationale Schutztruppe ISAF, auf UN-Minenräumer und Hilfsorganisationen im ganzen Land ein Klima der Angst geschaffen haben. Bei der Kommandoübergabe der von Deutschen und Niederländern geführten ISAF-Truppe an die NATO warnte Bundesverteidigungsminister Peter Struck im August dieses Jahres vor einem Rückfall Afghanistans in "Anarchie und Chaos".
Solche Äußerungen schrecken nicht nur afghanische, sondern auch ausländische Unternehmer ab. Nach nur einem Direktflug von Düsseldorf nach Kabul, der etwa einhundert Passagiere beförderte, darunter zahlreiche Geschäftsleute, sagte LTU bereits eine Woche später den zweiten Start wegen mangelnder Nachfrage ab. Ganz im Sinne der Pilotenvereinigung Cockpit, die "auf Grund des akuten Risikos von Terroranschlägen", vor allem mit schultergestützten Flugabwehrwaffen, solche Flüge als "unverantwortlich" bezeichnet.
Im Inland drohen weitere Risiken, beispielsweise beim Transport: Vor der staubumwirbelten Zollstelle Kabul-Ost hocken sechs Fahrer Schutz suchend unter ihren bunt bemalten Lastwagen und warten auf die Dunkelheit. Erst wenn die Stadt weitgehend menschenleer ist, dürfen sie ins Stadtzentrum fahren und die Elektrogeräte aus Pakistan ausliefern. Nachdem er hinter Peshawar die Grenze nach Afghanistan überquert hatte, "wurde ich fünf Mal von bewaffneten Männern gestoppt", erzählt einer von ihnen. Die anderen nicken. Auch sie haben 2000 Afghani Wegezoll hingeblättert, etwa 40 Euro. Hintergrund: Außerhalb der Hauptstadt untersteht kaum ein Soldat Verteidigungsminister Mohammed Fahim. Islamische Fundamentalisten wie der frühere afghanische Premierminister Gulbuddin Hekmatyar in Kunar und Provinzfürsten wie Ismail Khan in Herat befehligen eigene Milizen. Allein Khan soll 30.000 Mann unter Waffen haben, die er auch zum Geldeintreiben einsetzt - willkürlich. Kabul sieht davon kaum einen Dollar.
Leidtragende sind unter anderem die Staatsbediensteten, etwa einfache Verkehrspolizisten mit einem Monatsverdienst von umgerechnet knapp 20 Euro. Selbst auf den müssen sie manchmal monatelang warten. Genau so wie Gerichtsdiener, Beamte in den Verwaltungen und Bürokräfte der Ariana. Folglich schwindet das Vertrauen in die politische Führung, haben sich Illoyalität und Korruption wie eine Heuschreckenplage überall ausgebreitet - auch bei den außerhalb Kabuls stationierten Soldaten und Polizisten der Regierung, die schon mal die Seite wechseln und einem neuen Kommandanten dienen: einem, der sie bezahlt.
Für einen neuen Dienstherren hat sich auch der Vorsitzende Richter des höchsten afghanischen Gerichtes entschieden: Chief Justice Abdul Hadi Shanwari, der diese Position schon unter dem Taliban-Regime inne hatte. Den langen weißen Vollbart frisch gestutzt und die feingliedrigen, faltigen Hände übereinander gelegt, thront er selbstbewusst hinter seinem Schreibtisch. Ihm gegenüber, neben der Bürotür, hat eine Wache Platz genommen und legt eine Maschinenpistole auf die Knie. Die Justiz sei nicht weisungsgebunden und frei von politischen Einflüssen, beteuert Shanwari. Im Gegenteil: "Wegen der Gouverneure, die keine Steuern an Kabul entrichten, ist Präsident Karsai zu mir gekommen und hat gefragt, was die Regierung aus juristischer Sicht dagegen unternehmen kann."
Falls auf absehbare Zeit überhaupt Steuern aus den Provinzen in die Hauptstadt fließen sollten, wird das Geld vor allem aus Drogengeschäften stammen. "Der Anbau von Mohn statt Weizen bringt den Bauern mindestens das Doppelte ihres Einkommens", rechnen Drogen-Experten hinter drei Meter hohen Schutzmauern frustriert vor: "Zur Zeit ist Heroin die einzige nennenswerte Einnahmequelle des Landes." Damit können Peter Zumhof, Chef des deutschen Polizeiprojekts, und weitere 13 Kolleginnen und Kollegen von Bundesgrenzschutz, Bundeskriminalamt und Länderpolizei sich zwar nur schwer abfinden. Es bleibt ihnen jedoch nichts anderes übrig: "Wir versuchen Grundsätze aus unserem Verständnis hierher zu übertragen, haben aber nur Beraterstatus", betont der Projektleiter.
Dreh- und Angelpunkt für die Berater, die Erfahrung aus Indien, Pakistan und Kolumbien mitbringen, ist das Rauschgift-Präsidium. Das vor wenigen Monaten eingerichtete Gebäude ist vermutlich das modernste und am besten ausgestattete in ganz Kabul. Der verantwortliche Beamte dort heißt Jelanie Starie, ein kleiner, sehr dünner Mann, der mit leiser Stimme aber ohne Umschweife zur Sache kommt: "Das größte Problem der afghanischen Polizei ist: Wir haben zu wenig gut ausgebildetes Personal, höchstens einhundert Leute."
Rechtsstaatliche Fortschritte, ohne die keine ökonomische Entwicklung möglich wäre, sind zwar klein, doch unübersehbar: Das Innenministerium ist inzwischen nach baden-württembergischem Vorbild organisiert, in einem Seitentrakt wird ein zentrales Personenregister aufgebaut, die Vereinten Nationen (UN) haben mit der Erfassung von rund 10,5 Millionen wahlberechtigter Afghanen über 18 begonnen, und die von Deutschen und Norwegern geführte Polizeiakademie genießt hohes Ansehen. Generalin Aziza Nazari hat erst kürzlich einer Gruppe junger Afghaninnen gratuliert, die eine Polizeiausbildung absolvieren und anschließend im Innenministerium arbeiten werden. Links vom Podium hing ein blaues Spruchband: "Wir wünschen uns ein dauerhaft freundschaftliches Verhältnis zwischen Deutschland und Afghanistan." Die guten Beziehungen unterstreicht auch Dr. Stephan Kinnemann, der von der deutschen Bundesregierung entsandte Sonderberater für Investitions- und Handelsfragen bei der afghanischen Regierung. Der frühere Geschäftsführer der Deutschen Investitions- und Entwicklungsgesellschaft hat maßgeblich an den Voraussetzungen für ein wirtschaftliches Fortkommen mitgewirkt.
Wenn Kinnemann nicht gerade mit Präsident Karsai konferiert, wirbt er in Deutschland bei Informationstagen in Industrie- und Handelskammern (IHK) und in Medieninterviews für "Chancen in Afghanistan". Gern hebt er die Fülle kreativer Ideen hervor, mit denen deutsche Unternehmer dem Land den Anschluss an die Weltwirtschaft ermöglichen wollen. Das Spektrum, so der Düsseldorfer IHK-Geschäftsführer Gerhard Eschenbaum in freudiger Erwartung guter Geschäfte, reiche vom Straßenbau über Kläranlagen, Zementwerke, gastronomische Ausrüstungen, Expressdiensten bis zu Satellitenkommunikation - und gepanzerten Fahrzeugen. Laut IHK Darmstadt haben bereits mehr als 50 Mittelständler aus dem gesamten Bundesgebiet konkretes Interesse bekundet.
Wichtigstes Ergebnis der bisherigen Arbeit Kinnemanns: Er hat das aus westlicher Sicht dirigistische, sowjetisch geprägte Investitionsgesetz der Regierung kommentiert. "Früher mussten potenzielle Investoren durch alle Ministerien", erläutert sein Büronachbar Dr. Hassamedin Tabatabai, GTZ-Chef in Kabul, und hätten oft "entnervt aufgegeben". Mit Kinnemanns Unterstützung sei ein "unternehmerfreundliches" Gesetz daraus geworden, dass sich "gut für privatwirtschaftliche Investitionen" eigne, ohne dass man auf inländische Beteiligungen angewiesen sei.
Nach Kinnemanns Konzept soll die Afghan Investment Support Agency (AISA) die einzige Anlaufstelle für Investoren sein, die sich in Afghanistan engagieren wollen; kein Hin und Her mehr zwischen Ministerien, kein ewiges Warten auf eine Terminbestätigung und umständliche Erklärungen in Vorzimmern. Zusammen mit dem Bundesverband der Deutschen Industrie will sich die GTZ fünf Jahre an den Gehältern beteiligen und weitere zwei Jahre die AISA-Leute beraten.
Schon jetzt habe die Regierung "in allen wichtigen Provinzen Handelskammern eingerichtet" und "in zehn Monaten 3700 Lizenzen erteilt", sagt Handelsminister Sayed Mustafa Kazemi gut gelaunt. Dann zählt er eine halbe Stunde lang Handels- und Transitabkommen, Zollnachlässe und Steuerbefreiungen auf, die Unternehmer aus aller Welt anlocken sollen. Speziell an Deutschland richtet der Minister den Wunsch nach "noch mehr Interesse deutscher Investoren, auch von Afghanen, die in Deutschland leben".
Denn noch mangelt es an privatwirtschaftlichen Investitionen, auch die internationale Aufbauhilfe von 4,5 Milliarden US-Dollar fließt nur zögerlich. Bislang hat erst ein Teil der Summe das Not leidende Land erreicht und wurde überwiegend für humanitäre Zwecke ausgegeben. Somit wartet die afghanische Regierung nach wie vor auf Pilotprojekte, die Arbeitsplätze schaffen könnten.
Ein von Kazemi ausdrücklich erwähnter Hoffnungsträger ist Siemens. "Das Unternehmen war bereits vor 70 Jahren Haus- und Hoflieferant", erzählt G. Sachi Hassanzadah, Präsident von Siemens Afghanistan. Er und Matthias Baumgaertel, der die Siemens Information and Communication Networks leitet und Mitarbeiter des Ministeriums für Telekommunikation im Umgang mit modernen IT-Systemen schult, beschäftigen 15 Mitarbeiter. Doppelt so viele sollen es werden. Bisher hat das Unternehmen eine Strom-Verteilerstation ausgerüstet, das Innenministerium mit Computern und die Klinik der Polizeiakademie mit Medizingeräten bestückt. Nun hoffen die Siemens-Leute auf den Zuschlag, um die Radio- und TV-Infrastruktur des Landes einrichten, Kraftwerke ausrüsten und in neun Provinzen Geschäfte mit Siemens-Produkten eröffnen zu dürfen. "Jetzt ist die beste Zeit, um hier anzufangen", ist Hassanzadah überzeugt.
Ein weiteres, "direkt auf Kriegsfolgen zurückzuführendes Problem" ist laut Afghanistan-Fachmann Schetter allerdings die "Unsicherheit bezüglich der Besitzverhältnisse", die sich durch "politische Machtwechsel" mehrfach geändert haben und sowohl Häuser, als auch landwirtschaftlichen und gewerblichen Grundbesitz betreffen. Allein deshalb müssen die meisten Gewerbegebiete neu angelegt werden.
Zugleich plant Handelsminister Kazemi, "die staatlichen Betriebe mit ihren veralteten Maschinen aus den siebziger und achtziger Jahren in den privaten Sektor zu überführen". Für die Afghan Textile Company in der Provinz Kapisa etwa setzen sich die IG Metall und ehemalige Entwicklungshelfer des DED ein, die bis 1979 in dieser Fabrik gearbeitet haben. In ihrem Zwischenbericht heißt es: "Eine ganze Generation an Facharbeitern und Ingenieuren fehlt für den Wiederaufbau. Eine Ausbildungswerkstatt für den gewerblich-technischen Bereich fehlt ebenfalls; sie ist zerstört worden. Der Wiederaufbau der Hauptwerkstatt zur Demontage und Reparatur von Textilmaschinen und die Wiederherstellung der Stromversorgung sind ebenso erforderlich." Fänden sich Privatinvestoren, "könnten circa 7000 Menschen dort arbeiten und bis zu 70.000 Menschen bei einer Familiengröße zwischen sieben und zehn Personen versorgen." Außerdem ließen sich durch den Wiederaufbau ehemalige Mudschahedin in die Zivilgesellschaft integrieren.
In den Außenbezirken der Hauptstadt hat der wirtschaftliche Neuanfang bereits begonnen. Neben einem brach liegenden staatlichen Reparaturbetrieb schnurren die glänzenden Spindeln einer privaten afghanischen Spinnerei und drehen weiße Wolle zu feinem Zwirn. Ein Stück weiter produzieren Afghanen in einer Fabrik der Zahir Industries mit modernen taiwanesischen und deutschen Maschinen Plastikeimer, Regenrinnen und Thermosflaschen. Weiteres soll folgen: Auf einem Workshop haben sich unlängst erstmals Regierungsvertreter und fast 280 Unternehmer zu Gesprächen getroffen. Und von der Schweizerischen Friedensstiftung SwissPeace organisiert, gibt es inzwischen einen internationalen Business-Club.
Wenn die Afghanen im Sommer 2004 bei den ersten freien Wahlen seit 30 Jahren über ihre Volksvertreter und damit über ihre Zukunft abstimmen, wird sich auch Kinderärztin Masuda Dschalal zur Wahl stellen. Sie leitet UN-Frauenprojekte in Afghanistan und will Präsident Karsai herausfordern. Weder der Wiederaufbau des Landes noch die Entwaffnung der Milizen gingen voran, kritisiert sie. Die Regierungsmitglieder säßen in ihren Büros "und warten auf Spender". Ihr eigenes größtes Ziel sei es, ausländische Investoren nach Afghanistan zu holen. Dafür müsse aber die Sicherheit im Lande gewährleistet sein.
Die politische Zukunft Karsais, den stets Leibwächter mit Schnellfeuerwaffen abschirmen, steht ohnehin auf dem Spiel. Er weiß: Nur ein Volk in Lohn und Brot wird ihm weiter vertrauen. Zur Zeit versucht er, rund 100.000 verstreute Milizen in die regulären Streitkräfte zu integrieren, um eine nationale Armee aufzubauen. Die soll sicher stellen, dass die Regierung sich künftig auch außerhalb Kabuls durchsetzen, die Sicherheitsbedenken der Unternehmer zerstreuen und die Wirtschaft voranbringen kann. Inshallah - so Gott will.
aus: der überblick 04/2003, Seite 95
AUTOR(EN):
Frank Hartmann:
Frank Hartmann betreibt als freier Journalist ein Redaktionsbüro bei Athen. Er ist spezialisiert auf Auslandsreportagen und Porträts und schreibt unter anderem für den "Stern", den "Spiegel", "Geo".