Westafrikanischen Fischern wird das Fangrecht vor heimischen Küsten verwehrt, weil man eine Dezimierung der Fischbestände fürchtet. Aber gleich außerhalb der Schutzgebiete plündern europäische Trawler die Fischgründe Nacht für Nacht.
Lamin war Fischwilderer, 19 Jahre alt und fern der Heimat. Ich traf ihn im schlammigen Hafen eines winzigen Fischerdorfs im einzigen Nationalpark an der nördlichen Atlantikküste Mauretaniens, dem Banc d'Arguin. Er hatte kein Geld, wenig zu essen, und das einzige Bett, das er sein Eigen nennen konnte, stand tausend Kilometer und zwei Länder entfernt im Haus seiner Mutter in Gambia.
Sein Boot war zwei Wochen lang beschlagnahmt, nachdem man ihn beim Fischen in den geschützten Gewässern des Parks gefasst hatte. Bis der Bootseigner auftauchte und die Strafe bezahlte, saß er zusammen mit 20 weiteren Wilderern in einer kleinen Hütte mit Asbestdach im Dorf Agadir in Haft.
Lamin möchte einmal nach Europa gehen. Und wer könnte es ihm verdenken? Er und der Rest der Besatzung, zwei Senegalesen und ein Mauretanier, stechen in ihrem offenen Acht-Meter-Boot für jeweils eine Woche in See und erhalten rund 50 Euro pro Einsatz. Warum ist er den weiten Weg gekommen? "Ich brauche Geld für meine kranke Mutter", erklärte er. "Die Fischgründe sind hier besser als zuhause. Vor allem", sagte er, "in den verbotenen Gewässern des Parks."
Nachts, wenn die Aufsichtsboote wenig Chancen haben, sie zu fassen, legen Dutzende von Booten ihre Netze aus. Zwei Wochen zuvor hatten Lamin und seine Leute die Orientierung verloren. "Wir wurden am Morgen verhaftet. Wir dachten, wir hätten den Park verlassen, aber das hatten wir nicht."
Lamins Geschichte ist Alltag im Leben der Fischer Westafrikas. Diese Gewässer zählen zu den letzten großen Fischfanggebieten der Erde. Trotz stark dezimierter Bestände sind sie nach wie vor ein lohnendes Ziel für Tausende kleiner Boote wie das von Lamin, so genannte Pirogen. Und die zieht es - wie die Fische der Region - zu den Gewässern im und um den Banc d'Arguin, einem riesigen Flachwassergebiet, halb so groß wie Belgien, wo kaltes, nährstoffreiches Wasser an die Meeresoberfläche kommt. Der Nährstoffreichtum und das seichte, sonnenerwärmte Wasser bieten ideale Lebensbedingungen für Fische, Vögel und vieles mehr.
"Der Banc d'Arguin ist wahrscheinlich einzigartig. Sicher gibt es keinen zweiten Ort wie diesen in Afrika", sagt der französische Meeresbiologe und leitende Wissenschaftler des Parks Jean Worms. Hier ist das wichtigste Fischlaich- und Jungfischgebiet Westafrikas. Hai, Rochen, Meeräsche, Sardinelle, Tintenfisch, Seezunge und Adlerfisch vermehren sich hier, wachsen heran und werden in diesen Gewässern gefangen.
"Diese Gewässer sind wichtig für ganz Westafrika. Sie müssen für die Fischerei geschlossen bleiben, um die Fischbestände entlang der Küste zu schützen", sagt Antonio Araujo, der portugiesische Umweltschutzverantwortliche des Parks während meines Besuchs. "Im Banc d'Arguin können Sie in einer Nacht so viele Fische fangen wie anderswo an der Küste in zwei Wochen." Für die Parkmitarbeiter sind Lamin und die anderen Fischwilderer der Feind. Die mauretanische Regierung führt verschärfte Kontrollen durch und belegt Wilderer heute mit einer Geldstrafe von 500 Euro pro Fall.
Aber die Wirklichkeit ist hier um vieles komplizierter. Diese Wanderfischer sind in vieler Hinsicht die Sündenböcke in einem komplexen Kampf um die Kontrolle über das kostbarste Naturgut der Region: den Fisch. Sie werden in die Zange genommen von den Kräften des Umweltschutzes, vertreten durch den Park, und den Kräften des internationalen Kapitalismus, die am Meereshorizont sichtbar sind. Denn bei ihren nächtlichen Übergriffen auf die wichtigste Fischkinderstube der Region können Fischer wie Lamin in der Ferne die Lichter Hunderter großer Trawler sehen, die aus aller Welt - und insbesondere aus der Europäischen Union - angereist sind.
Die Trawler dürfen zwar den Park nicht befahren, aber sie plündern ganz legal die Fischbestände, die über die Parkgrenzen hinweg und entlang der Küste von Guinea-Bissau bis Marokko schwimmen. Die mauretanische Regierung verkauft - wie ihre Nachbarn auch - Lizenzen für den Fischfang in ihren Gewässern an die Europäische Union und andere. Laufende Abkommen im Wert von über 100 Millionen Euro pro Jahr gewähren Hunderten von großen Schiffen Zugang zu westafrikanischen Gewässern. Allein in mauretanischen Gewässern haben europäische Trawler in der jüngeren Vergangenheit jedes Jahr eine halbe Million Tonnen Fisch gefangen. Im Grunde pachtet die Europäische Union fischreiche afrikanische Fanggebiete, um einen Teil ihrer unausgelasteten Fischfangflotte über Wasser zu halten.
Neuerdings ist im Lizenzbetrag ein Anteil für die Verbesserung der Fischereiwirtschaft vor Ort enthalten. Damit werden Aufsichtsboote und Radar für die Küstenwache bezahlt, um Eindringlinge fernzuhalten, und - zumindest in der Theorie - Pirogenfischer in gewissem Maß unterstützt. Mauretanische Fischereibeamte geben zu, dass die Lizenzen zwar mit der Auflage verbunden sind, jede Fischfangaktivität müsse "nachhaltig" sein und dürfe die Bestände nicht schädigen, dass aber nicht genügend wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen, um sicher zu sein, ob das tatsächlich der Fall ist.
"Die wissenschaftliche Arbeit ist sehr begrenzt", sagt Dr. Cherif ould Toueilib im mauretanischen Fischereiministerium. "Das Einzige, was wir sicher wissen, ist, dass der Kuchen kleiner wird, wenn mehr davon essen. Besondere Sorgen macht uns, dass die Tintenfischbestände überfischt werden." Kein Wunder, dass sie beliebt sind; sie bringen in Japan bis zu 6000 Euro pro Tonne ein. Aber warum setzt man das Überleben eines so wertvollen Naturguts aufs Spiel?
Auf jeden Fall geht die Anzahl der Fische zurück, und die größten Fanganteile beanspruchen die ausländischen Trawler. Langzeitbeobachter haben wenig Zweifel, dass - wie die Umweltorganisation World Wildlife Fund (WWF) in einem aktuellen Bericht schreibt - Schiffe mit ausländischer Flagge die Hauptverantwortlichen für den Raubbau an den Fischbeständen bleiben, die doch heute und in Zukunft Nahrung für Afrika liefern sollten.
"Das ist wie eine Stadt da draußen", sagt Araujo, als wir auf dem Radarschirm der mauretanischen Fischereipatrouille 40 Echozeichen als Lichtpunkte zählen. Jeder Impuls steht für einen bis zu 140 Meter langen Trawler, der entlang der Parkgrenze fischt. "Sie nehmen alles", sagt er. "Der eigentliche Konflikt um Ressourcen wird nicht zwischen Park und Pirogen, sondern zwischen den Industrietrawlern und dem Rest der Beteiligten ausgetragen." Laut Cherif fangen die Trawler über zwanzigmal mehr Fisch in den Gewässern des Landes als alle - legalen und illegalen - Pirogenfischer zusammen.
Theoretisch könnten die Pirogen auch die für alle zugänglichen Fischgründe außerhalb der Parkgrenzen aufsuchen. Praktisch wagen sie das aber nicht, weil das Risiko von Zusammenstößen und Unfällen mit den riesigen Trawlern zu groß ist. "Wenn sie weiter leben und ihre Familien ernähren wollen, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als in den Park zu kommen", sagt Pierre Campredon, Berater für das Fischereiwesen der mauretanischen Regierung. Daran werden sie aber gehindert. Die Einzigen, die Zugang zu den Gewässern des Parks haben, sind die rund 500 Fischer aus Agadir und den anderen Dörfern innerhalb des Parks. Sie dürfen in den reichsten Fanggebieten Afrikas fischen, sofern sie traditionelle Segelboote verwenden.
Die Pirogenfischer fühlen sich zu Unrecht ausgeschlossen. Und das ist verständlich. Der Park, sagt Hamada ould Ely vom mauretanischen Fischereiverband, wurde auf Veranlassung europäischer Umweltschützer eingerichtet, nicht etwa um Fische zu schützen, sondern als Nahrungsgrundlage für die zwei Millionen Watvögel, die jeden Winter aus Europa und der Arktis zum Banc d'Arguin fliegen. Im Januar gibt es hier mehr europäische Vögel als irgendwo sonst auf der Welt.
Dabei lenken die Bemühungen um den Schutz des Parks die Aufmerksamkeit vom industriellen Fischfang ab, der laut Diakhate Djibril, Fischereiforscher der mauretanischen Regierung, das eigentliche Problem darstellt. Die Pirogen, sagt er, "fangen selektiv, aber die Trawler nehmen alles. Die Regierung vergab Lizenzen, ohne die Forscher zu fragen."
Es ist überall das Gleiche an der westafrikanischen Küste, und hier zeigt sich das zentrale Problem der letzten reichen Fischgründe der Welt. Keine Regierung möchte eine Finanzquelle versickern lassen, solange sie sprudelt. Keine Regierung glaubt, dass andere sich dem Schutz wandernder Fischbestände auf lange Sicht anschließen würden. Cherif formuliert das so: "Wir sind ein Entwicklungsland und wir brauchen das Geld, aber wir müssen auch unsere Ressourcen schützen." Und Wanderfischer wie Lamin, die zwischen allen Stühlen sitzen, zahlen den Preis für diesen Zwiespalt.
Viele Fischer an der westafrikanischen Küste sind Veteranen früherer Umweltkatastrophen in der Region - der Saheldürren der siebziger und achtziger Jahre, die Hunderttausende hungriger Menschen aus dem ariden Binnenland an die Küste trieben. Eine der größten Fischergemeinschaften lebt am Strand von Hann am Rand der senegalesischen Hauptstadt Dakar. Ende der sechziger, so erinnert sich der alte Fischer von Hann, Bira Gueye, "gab es hier am Strand gerade einmal fünf Boote." Das ist schwer zu glauben, wenn man an der Ausstellungshalle für Yamaha-Außenbordmotoren und an den großen Tiefkühllagern vorbei über den Strand geht. Heute liegen hier mehr als tausend Boote.
Auf den ersten Blick scheint der Handel mit Fisch, der in Pirogen gefangen wird, nach wie vor zu florieren, und Märkte in Europa, Asien und andernorts in Afrika sind zu bedienen. Hinter dem Strand in Nouakchott, der mauretanischen Hauptstadt, traf ich Victoria Akua Fosua, eine Händlerin aus Ghana, die von den Strandhändlern kauft und regelmäßig zwölf Meter lange Container mit gesalzenem Haifleisch in ihre Heimat liefert. Sie verdient so viel, dass eines ihrer Kinder eine Pilotenausbildung machen, ein anderes eine amerikanische Universität besuchen kann. Ihr Enkel ist bei ihr und lernt ihr Gewerbe. Aber wird es noch etwas zu erben geben?
Viele glauben, dass der Handel hier von der Blüte in die Pleite geht. Zwei Minuten vom Strand entfernt begegnet mir Dimas Santos, ein portugiesischer Exporteur von Edelfisch wie Zackenbarsch, Brasse und Seehecht für europäische Restaurants. Früher kaufte und verkaufte er 30 Tonnen pro Woche, aber heute sind es weniger als zehn Tonnen. "Die Fische sind einfach nicht mehr im Meer", sagt er. "Es wird nicht mehr lange dauern, bis sich das alles hier nicht mehr lohnt."
Und am Strand von Hann ist Gueye ähnlich pessimistisch. Es gab Zeiten, sagt er, da konnte er in 20 Minuten Fische fangen. "Wir holten die Netze ein, und die Leute aßen am Strand zu Mittag. Heute brauchen wir vier Stunden und 300 Liter Treibstoff, nur um zu den Fischen zu kommen." Außerdem benötigen sie jetzt Eisboxen, um die Fische an Land zu bringen, ohne dass sie verderben.
Natürlich sollten die Europäer und andere ausländische Fangflotten weniger Fisch fangen und mehr geben - nicht so sehr Geld, wie sie es derzeit tun, sondern Arbeit. Sie könnten ihren Fang in Westafrika an Land bringen und Fischverarbeitungs- und Konservenfabriken in den Ländern errichten, aus deren Gewässern sie den Fisch entnehmen. Außerdem sollten größere Bereiche der Küstengewässer ausschließlich den Pirogen vorbehalten sein. "Wir wollen die großen Schiffe in tiefere Gewässer zurückdrängen, um die Fischbrutstätten zu schützen und den Pirogen mehr Raum zu geben", sagt Toueilib, aber bislang hat er sich nicht durchsetzen können. Geld spricht hierzulande immer noch eine lautere Sprache als die Ökologie.
"Eines ist sicher", sagt Campredon. "Die Pirogenfischer sind die Schlüsselpersonen. Sie sind die ständigen Bewohner des Küstenstreifens. Sie kennen die Gegend in- und auswendig." Männer wie Lamin sollten nicht kriminalisiert werden, weil sie ihren Lebensunterhalt verdienen wollen, sagt er. "Sie sollten als die wichtigsten Manager des Küstenökosystems angesehen werden. Nur wenn wir mit ihnen zusammenarbeiten, werden wir die Interessen der Fischer und die des Umweltschutzes gleichermaßen wahren können."
EU-FischereiabkommenWechselnde GewässerLängst ist für die übergroßen europäischen Fischflotten in den Gewässern rund um Europa kaum noch etwas zu holen. Für den Fall, dass die Fänge vor Westafrika dürftiger werden, hat die Europäische Gemeinschaft (EU) längst vorgesorgt. Mit Angola wurde 2002 ein Abkommen erneuert, das 22 Hochseeschiffen den Schrimpsfang vor der Küste erlaubt. Seit Anfang 2004 dürfen 59 europäische Hochseetrawler auch vor Mosambiks Küste auf Schrimps- und Thunfischfang gehen. Das interessanteste Gebiet für die europäischen Fischereiflotten mit ihrer Überkapazität ist jedoch der Westpazifik, wo bisher die großen asiatischen Fischfangnationen (China, Japan, Korea und Taiwan) und die USA vorherrschen. Der Westpazifik zählt zu den reichsten Thunfischgründen der Welt. Rund die Hälfte der Fänge der vier wichtigsten Thunfischarten stammen von dort. Und dort bringt der Thunfischfang zehnmal so viel Ertrag wie alle anderen Fischarten zusammen. Deshalb hat die EU im Jahr 2002 ein Fischereiabkommen mit dem 33 Inseln umfassenden Staat Kiribati geschlossen, das zunächst 18 europäischen Trawlern erlaubt, in dessen ausschließlicher Wirtschaftszone zu fischen. Die ist mit 3,5 Millionen Quadratkilometern rund halb so groß wie Australien. Zu Anfang diesen Jahres wurde auch mit den Salomonen ein Abkommen geschlossen, weitere mit den Föderierten Staaten von Mikronesien und den Cook Inseln sind in Vorbereitung. Rund 500 Schiffe der EU - etwa ein Fünftel der Gesamtflotte - fischen zur Zeit in Gewässern der Staaten Afrikas, der Karibik und des Pazifiks (AKP). Devisen gegen Zugangsrechte lautet das Motto. AKP-Delegierte aus Westafrika klagen, dass die EU beim Abschluss der Verträge immer die Bestandserhaltung betont, in der anschließenden Praxis ihrer Fischerei aber nur das Geschäft zähle. Und die kleinen Küstenfischer der Länder mit EU-Fischereiabkommen klagen, die EU-Fabrikschiffe fischten direkt vor ihrer Nase ihre Fischbestände leer. du |