Exilgemeinden gründen ihren Zusammenhalt auf Erinnerungen an ein Land, das ihnen mit der Zeit fremd wird
In der Diaspora zu leben bedeutet, dort, wo man lebt, nicht wirklich zu Hause zu sein. Die Erinnerung an den Ort, von dem man stammt, und das Festhalten an dessen Sitten und Bräuchen haben für Gruppen in der Diaspora große Bedeutung. Exilanten, die zur Flucht gezwungen wurden, bleiben dabei oft auch politischen Konflikten aus ihrem Herkunftsland verhaftet. Für sie kann der Kampf gegen die Schuldigen oder die Zustände, die sie vertrieben haben, zur Quelle der Identität werden – selbst wenn die Verhältnisse »zu Hause« sich inzwischen geändert haben.
von Petra Steinberger
Eine Schulklasse von Palästinensern im libanesischen Flüchtlingslager Schatila scheint auf den ersten Blick nicht viel gemein zu haben mit einer jüdischen Sabbatschule in Brooklyn oder einer türkischen Klasse in Berlin-Kreuzberg. Doch die Assoziationen, die für die Schüler mit einigen Worten verbundenen sind, machen merkwürdige Überschneidungen und Parallen sichtbar: Geschichte, Heimat, Volk. Natürlich riefe es völlig entgegengesetzte Bilder wach, wenn Worte wie Sicherheit oder Zukunft genannt würden. Aber in einem zeigen sie vermutlich alle etwas ähnliches: Die Schüler würden sich und ihre Identität ab einem gewissen Punkt abgrenzen von ihrer Umgebung. Denn alle drei Klassen befinden sich im mehr oder weniger tief empfundenen Zustand der Diaspora.
Diaspora schließt unendlich unterschiedliche Ausformungen ein – Menschen, Ideen, Erzählungen –, aber immer eines: Diaspora bedeutet, dass es einmal eine Heimat »anderswo« gegeben hat. Diaspora kann nicht bestehen, kann gar nicht gedacht werden ohne einen Ort der Herkunft. Und wie sich eine Diaspora definiert, wie sich die zu ihr gehörenden Menschen fühlen, hängt mit ihrem Verhältnis zu eben diesem Ort ab. Dabei ist irrelevant, ob eine solche Heimat tatsächlich einmal Wirklichkeit war, ob sie schon lange verschwunden ist, ob sie sich nur verändert hat. Was für diejenigen, die sie von außen betrachten und ideell vermissen, vor allem zählt, ist die Vorstellung von ihr: Heimat ist anderswo.
Denn in der Diaspora ist die eigentliche Heimat gerade nicht der Ort, an dem man lebt, auch wenn dieser schon über Jahre, manchmal gar Jahrhunderte lang der Platz ist, wo man seine Kinder groß zieht, sein Leben bestreitet, sein Haus baut, seine Familie begräbt. Verschwindet das Wissen um dieses ursprüngliche Erbe, dann verschwindet mit ihm auch die Diaspora.
Diaspora bezeichnet nicht nur einen Zustand, sondern auch eine Gruppe, eine Gemeinschaft. Der amerikanische Politologe Milton J. Esman definiert diese als »die Gruppe einer ethnischen Minderheit, die ursprünglich zugewandert ist und weiterhin gefühlsmäßige oder materielle Verbindung zum Herkunftsland unterhält«.
Dabei scheint es letzten Endes unerheblich zu sein, ob man einst freiwillig gekommen ist oder gezwungenermaßen, ob in der Gruppe oder vielleicht zunächst als Einzelner. Solange sich Menschen auf Grund einer vorgestellten oder realen Vergangenheit einander zugehörig fühlen und solange sie sich nicht »den anderen« vor Ort zugehörig fühlen können oder wollen, solange werden sie das erhalten und weiterentwickeln, was man Diasporamentalität nennen könnte oder Identität des Exils. Was immer auch heißen muss: Zerrissenheit, Sehnsucht, Traum – und Mythos.
Obwohl die Diaspora nicht immer ein unfreiwilliger Zustand ist, wird dennoch am schnellsten das Wort »Exil« damit assoziiert, vor allem das politische. Von allen Zuständen des Fernseins ist dieser vielleicht der schmerzvollste, denn er bedeutet, dass die Heimat tatsächlich unerreichbar geworden ist. Vertreibung oder Flucht, nicht die Sehnsucht nach einem neuen Ort, haben ganze Gemeinschaften, ganze Teile eines Volkes gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Da macht es keinen Unterschied, aus welchen Gründen dies einst geschehen ist: Im Zustand des Exils kann und darf man nicht mehr unterscheiden zwischen Palästinensern in den Slums der arabischen Flüchtlingslager oder zwischen den Villen reichgewordener Exil-Kubaner in Miami; zwischen rechts oder links; zwischen »guten« Exilanten und »schlechten«.
Es macht für den Einzelnen ja keinen Unterschied, ob ein anderes Volk oder eine Herrschaftsform das Bleiben unmöglich gemacht hat. Ein politischer Exilant definiert als einen Teil seiner Identität den kontinuierlichen Kampf gegen den Verursacher seiner ungewollten Situation, den Schuldigen – oder gegen denjenigen, der als der Schuldige ausgemacht wird. Widerstand wird hier zum Teil der Kultur in der Fremde, wird weitergegeben an nachfolgende Generationen. Der Kampf wird zum zentralen Thema, die Revision der Geschichte wird zum Programm. Und die Heimat wird zum Anspruch auf einen alten Besitz.
Was umgekehrt allerdings bedeutet, dass mit der Veränderung der Verhältnisse in der Heimat der Sinn der politischen Diaspora infrage gestellt wird. Vielleicht ist das einer der Gründe dafür, dass viele, gerade politisch aktive, Exilanten jeden Anschein einer Verbesserung in der Heimat als Täuschungsmanöver abweisen: Während einer Konferenz der Böll-Stiftung in Berlin vor einem Jahr, auf der viele der engagiertesten Regimekritiker und Reformpolitiker aus dem Iran sprechen sollten, schrien vor allem links organisierte Exiliraner die Diskussion nieder. Es konnte nicht sein, was nicht sein durfte.
Oft scheint es so, als stellten vor allem in diesem Jahrhundert die politisch Exilierten die wichtigsten, zahlreichsten Vertreter einer Diaspora – weil sie oft gut organisiert sind, wenn sie versuchen, ihren Willen, ihren Zorn zu äußern, und weil sie manchmal auch zu Gewalt greifen, um auf sich und ihr Leiden aufmerksam zu machen. Doch gibt es unzählige neue wie alte Diasporagruppen, die ihre Heimat nicht aus politischen Gründen, sondern »freiwillig« verlassen haben. Denn freiwillig bedeutet ja nicht notwendigerweise, dass man es gern tut und nie mehr zurückblickt. Geht man wirklich freiwillig, wenn man im eigenen Land keine Chancen mehr für sich sieht, wenn man um ein menschenwürdiges Leben, vielleicht sogar um sein Überleben kämpfen muss? Die große Diaspora der Ghanaer ist nach Nigeria gekommen, weil sie – wie viele andere – auf ein besseres Leben hoffte, frei nach der Fabel von den Bremer Stadtmusikanten: »Etwas Besseres als den Tod finden wir überall.«
Es sind oft einzelne, die sich da auf den Weg gemacht haben – junge Männer vom Dorf, die ihre Familien zurücklassen müssen und davon träumen, sie vielleicht eines Tages nachzuholen oder ihnen zumindest von dem, was sie in der Ferne erwirtschaften, einen Teil zukommen zu lassen. Die vielleicht erst im »Dort« erkennen, was das »Hier« eigentlich bedeutet hat. Die ersten türkischen »Gastarbeiter« in Deutschland gehörten zu dieser Gruppe oder die Teilnehmer der großen libanesischen Auswanderungswelle in die Vereinigten Staaten zu Beginn dieses Jahrhunderts. Diaspora war für sie zunächst ein Zustand, der vorübergehen würde. Die zukünftige imaginäre Rückkehr wurde zum Teil der Identität in der Fremde, die materiellen Verbindungen zur Heimat blieben bestehen.
Und so fand man sich in einer fremden, häufig feindseligen und verständnislosen Umgebung wieder, allein zunächst, und suchte nach Freunden, nach irgendjemand, der ähnliches empfand wie man selbst: Einsamkeit vor allem, Sprachlosigkeit im Wortsinn. Man suchte nach den alltäglichen kleinen Erinnerungen an das frühere Leben – im Essen oder in der Musik, in gemeinsamen Feiern, Festivals, in Ritualen, in der Religion. Ein Hybrid war diese kulturelle Mischung, in der sich Altes mit den Gegebenheiten der neuen Umgebung vermischte und schließlich etwas ganz neues erschuf: eine Kultur der Diaspora.
Eine Kultur ist wie ein lebender Organismus, sie verändert sich dauernd. Ebenso steht sie in ständiger Wechselwirkung mit der Identität derjenigen, die von ihr geformt werden und sie wiederum formen. Identität – und die sich daraus ergebenden Haltungen, Meinungen, Ansichten, Vorlieben oder Vorurteile – ist nichts Unveränderbares. Doch scheint es, als ob die Mentalität einer Diasporagemeinschaft einem besonderen Rhythmus unterliegt. Sie scheint zäher, schwerfälliger, statischer zu sein.
Kultur lebt in ständiger Spannung zwischen Erneuerung und Tradition. Doch scheint es, als ob die Kultur der Diaspora – und die damit zusammenhängende Mentalität – noch tiefer im Hergebrachten verwurzelt ist als eine sich »normal« entwickelnde. Obwohl oder vielleicht gerade weil der Ursprung so fern ist, erhält die mitgebrachte Kultur geradezu den Status der Unantastbarkeit, dem mit Ehrfurcht und Respekt zu begegnen ist. Es etabliert sich eine Art Kodex der »richtigen« Verhaltensregeln – zunächst vielleicht, um die Einsamkeit zu zähmen, und später als Selbstzweck, um die besondere Gruppenidentität zu bewahren, als Maßnahme der Abgrenzung der »Unseren« gegen die »Anderen«.
Im Lauf der Jahrtausende Menschheitsgeschichte sind viele Diasporas entstanden und wieder vergangen, ebenso wie unzählige Völker oder Staaten entstanden und wieder untergegangen sind. Nicht von ungefähr bezeichnet die eigentliche Diaspora die des jüdischen Volkes; sie ist wohl die längste und tiefstempfundene der Geschichte. Die Ausgrenzung der »Anderen« durch strikte Regeln und Gesetze und paradoxerweise auch die oft brutale Ausgrenzung der Juden vonseiten der Gastvölker trugen dazu bei, dass ein sich religiös definierendes Volk über zweitausend Jahre im Gedenken an eine mythische Heimat, an Jerusalem und das Heilige Land überlebte – auch wenn der tatsächliche Kontakt zu diesem Land eher gering war. Auch heute sehen viele, vor allem strenggläubige Juden die größte Gefahr für ihr Volk in der Assimilation, in gemischten Ehen, in der Auflösung oder Aufweichung der klaren Gesetze.
Eine übrigens allzu menschliche Eigenschaft. Nicht viel anders verhalten sich ja auch Gemeinden so genannter Ex-Pats: Diplomaten, Geschäftsleute oder Journalisten, die oft nur für eine befristete Zeit irgendwo auf der Welt stationiert sind, entwickeln häufig ihre eigenen kleinen Ghettos, in denen man sich dann je nach Nationalität zum Fünf-Uhr-Tee und Cricket oder zum Biertrinken und Weihnachtsbaum-Aufstellen trifft und immer schön getrennt bleibt, selbst von den Angehörigen aus dem Nachbarland der Heimat. Umgekehrt kann sich eine Diaspora auch freiwillig von den alten Bindungen an die Heimat trennen: Amerikaner, Kanadier oder Australier hätten für den Ausdruck Diaspora im Sinne »fern von Großbritannien« nur ein Lächeln übrig.
Man könnte die Gleichung aufstellen: Je erfolgreicher und länger die Aus- und Abgrenzung gelingt, desto stabiler erhält sich die Diaspora, statt sich im Gastland aufzulösen. Das führt nicht selten dazu, dass die Exilgemeinde um einiges konservativer erscheint als die Gesellschaft in der Heimat. Der religiöse Bekleidungskodex für Frauen und Mädchen wird in der pakistanischen Exilgemeinde im nordenglischen Bradford oft viel strenger interpretiert als zumindest in den größeren Städten von Pakistan selbst. Die ersten Pakistanis sind zwar erst in den fünfziger und sechziger Jahren dieses Jahrhunderts nach Bradford gekommen, doch zumindest das urbane Pakistan hat sich in den wenigen Jahrzehnten seitdem stark verändert. Und so kommen pakistanisch-englische Teenager vom Schüleraustausch aus Islamabad zurück und erzählen erstaunt, dass sie dort Mädchen in kurzen Röcken und – noch häufiger – ohne Kopftuch getroffen hätten. Bei vielen traditionellen türkischen Familien in Deutschland entstehen ähnliche Situationen. Während sich die Heimat verändert hat, existiert sie in der Erinnerung vor allem der ersten Diaspora-Generation noch immer so, wie sie einst verlassen wurde.
Fast scheint es, als müsste das so sein; als gäbe es ein unbewusstes Bedürfnis dieser Generation, die Dinge so zu belassen, wie sie einst waren. Denn wenn sie sich eingestehen müsste, dass sich die Heimat verändert hat, hätte das gravierende Folgen für ihren Lebensentwurf. Hätten sie sich anpassen sollen, damals, ganz am Anfang? An eine Gesellschaft, die oft unverständlich, manchmal verwerflich erschien? Hätten sie ihre Vergangenheit überhaupt vergessen können? Kann es dann überhaupt noch diese mystische Heimat in der Ferne geben, wo man nach Antworten sucht? Hätten sie damit überhaupt leben können, mit dieser Zerrissenheit im Herz und im Kopf?
Alte Heimat, neue Heimat: Eine Mentalität der Diaspora bedeutet immer auch Widerstand gegen Assimilation. Das muss natürlich nicht für sämtliche Aspekte des Lebens gelten. Je nachdem, wie sich eine Diasporagemeinschaft definiert, wird sie den einen oder anderen Bereich mehr betonen. Religion oder Sprache kann die Grenzen markieren, wie es lange Zeit für das jüdische Exil galt oder für die vor den Türken geflüchteten Armenier. Man wird in der Fremde Gotteshäuser bauen und Sprachschulen einrichten, um unter den Kindern das Bewusstsein der Besonderheit und die Bindung zur Heimat zu erhalten. Der Kontakt zum Herkunftsland wird Teil der Kultur: Man holt Religionsgelehrte und Lehrer von dort, versucht auch, mit Heiraten das Band zwischen den beiden Welten aufrecht zu erhalten – viele indische Familienväter in den Vereinigten Staaten ebenso wie chinesische in Malaysia oder Indonesien suchen für ihre Söhne eine »ordentliche« Braut aus der Heimat.
Andererseits wird ein so zerrissenes Exil wie das iranische, das sich teils aus einer reichen, vor der Islamischen Revolution ausgereisten Oberschicht zusammensetzt und teils aus linken Schah-Gegnern, die nach dieser Revolution vor der religiösen Radikalisierung geflohen sind, auf vielen verschiedenen Wegen versuchen, seine Identität zu bewahren oder diese ganz neu zu definieren. Ähnlich verhält es sich bei Miamis Exilkubanern: Die erste Flüchtlingswelle kurz nach der Revolution war vermögend und extrem Castro-feindlich eingestellt. Doch mit den nächsten Wellen in den achtziger Jahren kamen Kubaner aus einer anderen Schicht in die Vereinigten Staaten: weniger politisch orientiert, ärmer und oft mit Familie auf Kuba. Sie hatten weniger Interesse an einem Konfrontationskurs, sondern an sozialer Integration und wirtschaftlichem Erfolg in Amerika, gekoppelt mit stärkeren Beziehungen nach Kuba. Das brachte die Struktur der Diaspora samt der in ihr etablierten Machtverhältnisse ins Wanken.
Immer neue Zuwanderungswellen müssen also nicht unbedingt bedeuten, dass damit die Diasporagemeinschaft weiter gestärkt wird. Im Gegenteil kann es ebenso gut zu inneren Spannungen kommen: wenn sich die unterschiedlichen Interessen und Eigendefinitionen der einzelnen Gruppen widersprechen oder sogar ausschließen und wenn das Verhältnis der einen zum Heimatland eher pragmatisch gesteuert wird, das der anderen jedoch vom Wunsch nach einer Revision und Umkehrung der Verhältnisse dort.
Jede Diaspora ist ein amorphes Gebilde, und nirgendwo ist das besser zu erkennen als im Unterschied zwischen den Generationen. Um als Diasporagemeinschaft eine Zukunft zu haben, müssen auch diejenigen ein Heimatgefühl, einen Sinn für ihre besondere Geschichte entwickeln, die die Heimat nie gesehen, die Geschichte nicht erlebt haben. Das Erleben, der Traum der Elterngeneration muss in den Kindern weiterleben, um die Gruppe als »Diaspora«-Volk zu rechtfertigen. Dahinter wollen schon manche ein zynisches Kalkül entdeckt haben: Das palästinensische Flüchtlingsproblem, heißt es immer wieder nicht nur von israelischer Seite, sei auch mit Hilfe der arabischen Staaten ein permanentes geworden. Denn natürlich sei es leichter, diejenigen palästinensischen Kinder zur Weiterführung des Kampfes gegen Israel zu überreden, die in horrenden Flüchtlingslagern aufwachsen, als andere, denen es auf die eine oder andere Weise ermöglicht wird, sich im Gastland zu integrieren und dort ein neues Leben und Erfolg zu finden.
Deshalb wird die Diasporamentalität immer auch gestaltet und verändert in der Wechselbeziehung zum jeweiligen Gastland und in dessen Verhältnis zur alten Heimat. Es war beispielsweise leicht für die exilkubanische Minderheit, sich in den Vereinigten Staaten zu organisieren. In einer Demokratie, die ihnen schnell die Bürgerrechte und damit die Möglichkeit zu politischer Einflussnahme zugestand, konnte sich eine mächtige Lobby formieren. Und natürlich lag es auch im eigenen nationalen Interesse Amerikas, sich diesen »Stachel im Fleisch Castros« zu erhalten – als ständige Provokation und als Rechtfertigung für politische oder wirtschaftliche Sanktionen. In einem Fall wie diesem profitierten das Gastland und die Diaspora voneinander, weil sie dieselben Ziele verfolgten: den Sturz Castros.
Doch der Verlauf der Zeit und neue politische Konstellationen können die Bedeutung und die Identität einer Exilgruppe verändern. Während der Auseinandersetzung um die Rückkehr des kleinen Elian, der als einziger von einem schiffbrüchigen Flüchtlingsboot aus Kuba gerettet wurde, zeigte sich schnell, dass das Interesse und Verständnis der Amerikaner für Miamis Exilkubaner an dem Punkt endete, an dem die partikularen Ziele der letzteren sich gegen die innerstaatliche Ordnung der USA richteten. Unwillig vielleicht, aber letztlich entschlossen, ging der Staat gegen die Exilgemeinde vor.
Dennoch: Die Exilkubaner können bis heute starken politischen Einfluss ausüben, weil ihnen das möglich gemacht wurde. Viele Länder gehen vor allem mit politischen Exilgemeinden nicht so freundlich um. Ihnen genügt es, Gastrecht zu gewähren, Exilanten aber nicht zu gestatten, Einfluss auf die nationale Politik zu nehmen. Gibt man Diasporagemeinschaften keine Bürgerrechte, wie das beispielsweise in vielen europäischen Staaten der Fall ist, dann wird die politische Organisation schon recht kompliziert. Noch schwieriger – und in vielen Fällen tragisch – wird es in Staaten, die Exilgemeinden allein für eigene Zwecke missbrauchen: Der so genannte iranische Widerstand im Irak wird manipuliert, um den Erzfeind Iran zu irritieren, er sollte es aber besser nicht wagen, vom Irak etwas zu fordern. Jenseits der Grenze verhält sich die Sache ganz ähnlich.
Es muss allerdings nicht immer ein direktes politisches Ziel dahinter stecken, wenn sich Diasporagemeinden im Gastland für die alte Heimat oder für die Veränderung der dortigen Verhältnisse engagieren – gerade wenn sie ursprünglich eine »wirtschaftliche« Diaspora war und noch Verbindungen zu Familie und Verwandten bestehen. Im Dreiecksverhältnis Gastland-Heimat-Diaspora kommt der letzteren dann nicht selten eine wichtige Rolle zu – als Mittler, wenn direkte Verbindungen angespannt sind, als Druckmittel, als Geldgeber oder als Lobby des Herkunftslandes beim Gastland.
Doch gerade diese Mittlerstellung kann auch gefährlich werden. Zwischen dem gefühlsmäßigen Zugehörigkeitsgefühl zu zwei Völkern kann nicht nur der einzelne zerrissen werden, was die Frage der Loyalität betrifft. Gastländer reagieren hier besonders empfindlich, wenn sie das Gefühl haben, missbraucht worden zu sein. Man denke nur an den Fall Jonathan Pollard, der in den USA der Spionage für Israel angeklagt und verurteilt wurde; Amerika ist bis heute nicht bereit, diesen Loyalitätsbruch zu verzeihen. In unzähligen Kriegen und Konflikten wurden ganze Diasporagemeinden als »fünfte Kolonne« beobachtet, verfolgt, interniert und im schlimmsten Fall auch umgebracht: die Japaner in den Vereinigten Staaten während des Zweiten Weltkrieges; die türkischen Armenier während des Ersten; Koreaner oder Tartaren unter Stalin; Araber im Westen während des Zweiten Golfkrieges gegen den Irak.
Und wenn sich die Wirtschaftslage anspannt, wendet sich der so genannte Volkszorn häufig gegen Diasporaminderheiten, denen man Bereicherung vorwirft, Ausbeutung auf Kosten der Landesbevölkerung. Nicht selten unterstützen Politiker, die um ihre Macht bangen, solche Ausbrüche, um vom eigenen Versagen abzulenken und die Wut auf den meist wehrlosen Sündenbock zu richten. Das Schimpfwort »Parasit« ist dann noch nicht einmal das schlimmste. Vor allem Juden wissen von unzähligen Pogromen über die Jahrhunderte in Europa zu erzählen, aber nicht nur sie. Kürzlich fiel in Indonesien der aufgepeitschte Mob über die chinesische Minderheit her. In den USA, während der Rassenunruhen von Los Angeles zu Beginn der neunziger Jahre, entlud sich die Frustration der schwarzen Minderheit vor allem gegen die koreanische Diaspora in Los Angeles Central. Kein Wunder also, dass ein gewisses Moment der Furcht jede Diasporamentalität bestimmt – je öfter man sich im Laufe der Zeit der Unsicherheit seiner Situation bewusst wird, desto leiser wird man auftreten. Alles eine Frage der schlechten Erfahrung.
Es mag schon sein, dass es gerade bei »alten«, sich vormodern definierenden Diasporagemeinden inzwischen Auflösungserscheinungen gibt. Doch die Ära der Diasporas ist nicht zu Ende. Kriege und Not werden Gruppen von Menschen weiter ungewollt in die Fremde treiben. Im Laufe der Zeit werden sie sich vielleicht einfügen in das neue Land, vielleicht auch nie – werden zerrissen sein im Kopf und in der Seele und nostalgisch vom Mythos träumen, ohne den Diaspora nicht möglich wäre. Denn dafür müsste man die Fähigkeit zur Erinnerung abschaffen.
aus: der überblick 02/2001, Seite 6
AUTOR(EN):
Petra Steinberger:
Petra Steinberger ist Journalistin bei der Süddeutschen Zeitung in München.