Fünfzehn Jahre postsowjetisches Zentralasien
Zentralasien, die Landmasse entlang der legendären Seidenstraße, war Jahrzehnte Teil der UdSSR. Mit der Unabhängigkeit mussten Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan 1991 auch ihre Wirtschaft neu ausrichten. Die Abnabelung vom Moskauer Zentralismus hat zunächst den Lebensstandard fast überall fallen lassen. Da seine reichen Bodenschätze in aller Welt begehrt sind, fließt aber auch viel Geld in die Region.
von Gunter Deuber
Echter Wirtschaftsaufschwung ist in Zentralasien dort fühlbar, wo Stabilität herrscht und sich das Land politisch wie wirtschaftlich öffnet. In Kasachstan, einem Land mit Modellcharakter, geben sich westliche, russische und chinesische Konzernchefs die Klinke in die Hand. In Turkmenistan und Usbekistan haben sich die Wohlstandserwartungen aus der Unabhängigkeitszeit nicht erfüllt. Kirgisistan und Tadschikistan beides rohstoffarme Staaten hängen am Tropf der Überweisungen von Gastarbeitern und der internationalen Hilfe.
Seit der Kolonialisierung vor 200 Jahren war Zentralasien Russland angegliedert. Russland wurde zur Zeit der UdSSR zum staatlich gelenkten Industriestaat. Die Modernisierung des heute von bewässerungsintensivem Landbau geprägten, rohstoffreichen Zentralasien erfolgte nach dem sowjetischen Modell mit Kollektivierung und Fünfjahresplan. Kolchosen, gigantische Kombinate und Industriestädte wurden aus dem Boden gestampft. Im Rahmen der Arbeitsteilung im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) spezialisierten sich die fünf Unionsrepubliken eher einseitig. Nach dem Wirtschaftsplan wurden dort Rüstungsgüter gefertigt, Kohle und Metalle abgebaut und landwirtschaftliche Erzeugnisse, vor allem Baumwolle, angebaut. Usbekistan ist noch heute zweitgrößter Baumwollproduzent der Erde. In den 1970er Jahren wurden die Öl- und Gasvorkommen Zentralasiens angezapft, dort verfeuert oder gen Sibirien und Europa gepumpt. Kasachstan und eingeschränkt Turkmenistan schwingen sich derzeit zu Rohstofflieferanten von Weltrang auf.
Dekaden sozialistischen Wirtschaftens hinterließen in Zentralasien industrielle und landwirtschaftliche Mammutbetriebe, die marktwirtschaftlich nicht aufrechtzuerhalten waren. Mit dem Zerfall des Ostblocks brachen die Absatzmärkte weg. Obendrein war der Handelspartner Russland selbst in der Krise. Die Wirtschaftskraft der fünf Republiken sank von 1990 bis 1998 im Schnitt um sieben Prozent im Jahr. Die Härte der Transformation war spürbar. Bei Inflationsraten von über 1000 Prozent im Monat blieb von den kärglichen Löhnen der Arbeiter fast nichts übrig. Massenstreiks und Massenentlassungen folgten.
Vergleichsweise komfortabel war das Leben bereits vor der Unabhängigkeit und Schrumpfungskur in der kasachischen Sozialistischen Sowjetrepublik (SSR). Sie war eine Unionsrepublik mit einer recht diversifizierten, hochwertigen Industrie und qualifizierten Arbeitskräften. Nach Schätzungen der Weltbank verdiente ein Kasache zu Beginn der Unabhängigkeit im Jahr 1991 in lokaler Kaufkraftparität im Durchschnitt rund 1800 US-Dollar im Jahr. In der turkmenischen SSR sollen es über 2000 Dollar gewesen sein, in der tadschikischen immerhin die Hälfte dessen. Mit 600 US-Dollar Pro-Kopf-Einkommen waren die usbekische und kirgisische SSR schon damals Armenhäuser.
Heute wird das Jahreseinkommen eines Kasachen in Kaufkraftparität auf 2260 US-Dollar taxiert. Der durchschnittliche Jahresverdienst eines Usbeken, Kirgisen oder Tadschiken ist deutlich niedriger. Er beträgt derzeit 300 bis 450 Dollar. Die Vereinten Nationen (UN) zählen die drei Länder zu den am wenigsten entwickelten Staaten der Welt. In Turkmenistan soll das Salär im Schnitt noch 1200 Dollar betragen nur noch 60 Prozent des Einkommens zu Beginn der Unabhängigkeit. Die Zahlen sprechen für Kasachstan. Nur hier ist das Einkommen des kleinen Mannes nach 15 Jahren Transformation höher als zuvor. Die kasachische Vorreiterrolle nur auf das Ausgangsniveau zurückzuführen, würde zu kurz greifen zumal die anderen vier Republiken deutlich abfielen. Ein Blick hinter die Kulisse der Transformation in Zentralasien zeigt, dass Kasachstan dem Leitbild des asiatischen Liberalismus mit Protagonisten wie Malaysia oder Südkorea folgte. Marktwirtschaftliche Liberalisierung stand ganz oben auf der Agenda. Politische Liberalisierung sollte mangels Demokratietradition später folgen.
Einen Umbruch anderer Art erlebte Turkmenistan. Der heute uneingeschränkt waltende Ex-KP-Chef Saparmurad Nijasow benannte die Einheitspartei um, kürte sich zum Herrscher sui generis, dann zu Turkmenbaschi, dem Vater der Turkmenen. Sein Werk, das Zeremonienbuch Ruhnama (Buch der Seele), regelt alle Lebensbereiche. Zur Unabhängigkeit sagte er Wohlstand wie in Kuwait binnen Dekadenfrist voraus. Die staatskapitalistische Realität sieht anders aus: Ein Drittel der Turkmenen lebt unter der Armutsgrenze. Nur dank der viertgrößten Gasvorkommen der Erde, die für drei Viertel der Exporte seines Staates stehen, kann Turkmenbaschi Prunkpaläste bauen und das Land über Wasser halten. Mit Russlands Gazprom hat er einen lukrativen Liefervertrag bis 2028 abgeschlossen.
Auch der Nachbar Usbekistan befindet sich seit 1991 auf einem autokratischen Pfad unter dem seither regierenden Präsidenten Islam Karimow. Ob Salär der Staatsdiener oder Exportquoten, alles segnet er ab. Usbekische Geschäftstätigkeit kann sich nicht entfalten und ausländische Investoren meiden das Land. Nur usbekische Baumwolle und usbekisches Gas kauft das Ausland gern. Dies schafft etwas Geld ins Land. Außerdem bringt das Verpachten von Militärbasen an der Grenze zu Afghanistan Extra-Devisen für Karimow ein. Aber wie in Turkmenistan lebt auch ein Drittel der Usbeken unter der Armutsgrenze.
Der Nachbar Tadschikistan versank 1992 in einem Bürgerkrieg. Seit dem Friedensschluss von 1997 stabilisiert sich das Land jedoch und gibt Anlass zur Hoffnung. Im Gegensatz zum anliegenden Afghanistan konnten Aufständische wieder in die Gesellschaft integriert werden. Dennoch war Tadschikistan schon zu Sowjetzeit eine recht arme Teilrepublik und hat durch die fünf verlorenen Bürgerkriegsjahre noch viel aufzuholen. Fast die Hälfte der Tadschiken lebt heute unter der offiziellen Armutsgrenze von rund 15 US-Dollar im Monat, sieben Prozent von weniger als einem Dollar am Tag. Für internationale Investoren hat das Land wenig zu bieten und ist heute vornehmlich auf sich gestellt.
Kirgisistan setzte auf Wirtschaftsliberalismus. Mit einer auch für Auslandsinvestoren geöffneten Privatisierung startete man in die Umgestaltung. Heute betreibt die kanadische Centerra Gold hier eine der weltweit größten Goldminen, an der auch der kirgisische Staat beteiligt ist. In Spitzenzeiten werden dort bis zu 20 Prozent der Wertschöpfung des Landes erwirtschaftet. Auch Kirgisistan lässt sich die Nutzung einer Militärbasis durch die Amerikaner versilbern. Das einstige Armenhaus der Sowjetunion kann aber außer deutlich weniger Autokratie als in Turkmenistan und Usbekistan und seiner schönen Natur fast nichts offerieren. Weil das ganze Grenzgebiet zu China eine abgeschottete Sperrzone war, blieb seine Naturschönheit bewahrt. So konnte Kirgisistan im Jahr 2005 erstmals auf der deutschen Tourismusmesse ITB als Reiseland vermarktet werden.
Der Tiger in Zentralasien bleibt allerdings Kasachstan. Politisch stabil ist die junge Republik seit der Unabhängigkeit. Nach der Transformationskrise in den neunziger Jahren legte die Wirtschaft dort fast eine Dekade lang mit knapp zehn Prozent im Jahr zu. Das Land öffnet sich und nimmt an der Globalisierung teil. Die Höchstpreise am Weltenergiemarkt trieben Investoren ins Land. Sie wollen Zugang zu den immensen Öl- und Gaslagerstätten Kasachstans. Manches Jahr gehört Kasachstan bezogen auf sein Bruttoinlandsprodukt weltweit zu den Staaten mit den höchsten Direktinvestitionen. Nach norwegischem Vorbild hat Kasachstan 2001 einen Zukunftsfonds geschaffen, den die sprudelnden Erlöse aus Öl- und Gasexport speisen. Inzwischen sind über fünf Milliarden US-Dollar eingezahlt, die im Ausland investiert sind. Der Ölboom strahlt auf andere Sektoren ab.
Auch der mit den Petrodollars genährte Bauboom lockt Auslandskapital an, denn es ist noch viel Sanierung und Modernisierung vonnöten. Arbeitsplätze entstehen und langsam kommt auch der kleine Mann zu Wohlstand. Auch der VW-Konzern signalisierte Vertrauen in die Rahmenbedingungen und die inländische Kaufkraft. Er lässt nun Skodas in Nordkasachstan montieren.
Die wirtschaftliche Erfolgsstory Kasachstans kaschiert allerdings manches. Mit Nursultan Nasarbajew regiert seit 1991 der Ex-KP-Chef und einstige Vertraute Gorbatschows. Er gibt sich als Regent im Rechtsstaat, hat aber 1995 eine Verfassung geschaffen, die ihm alle Macht gibt. Im Fall der Fälle regiert er per Dekret. Bisher wurde er aber sowieso immer im Amt bestätigt. Nasarbajew wird zu den Staatslenkern der Welt mit den bestgefüllten Schweizer Konten gezählt. Mitten in der Steppe baut er Astana, eine neue, prunkvolle Residenz- und Hauptstadt.
Seine Tochter Dariga Nasarbajewa soll sein Erbe antreten. Was uns autokratisch anmutet, ist für viele Kasachen jedoch wohlwollende Alleinherrschaft. Denn die wirtschaftliche Liberalisierung unter Nasarbajew brachte Stabilität und Wohlstand. Die Älteren, welche die Sowjetzeit und die Krisenjahre noch in Erinnerung haben, schätzen das ebenso wie die Jugend. Die Meinung der 24-jährigen Anglistin Iljana, die in Almaty für einen Großkonzern aus Korea arbeitet, ist bezeichnend: Mir geht es sehr gut hier. Besser als in Russland. Ganz zu schweigen von Usbekistan oder Kirgisistan. Warum soll sich etwas ändern?
Dank des Ölbooms hat der Staat viel Geld, um Fortschritt zu zeigen. Damit kein Gedanke an Wandel keimt, werden Nasarbajews Meriten in den von Tochter Dariga kontrollierten Medien unablässig gepriesen. Irgendwo im Keller gedruckte Flugblätter der Opposition müssen im Vergleich zur kostspieligen Nasarbajew-Werbung einfach dilettantisch wirken, kommentiert eine kasachische freie Journalistin.
Kasachstan ist das Land der Region, in dem man dieser Tage Geschäfte unter recht soliden Bedingungen machen kann. Die kasachische Metropole Almaty zieht große und kleine Geschäftemacher aus ganz Zentralasien an. Nicht nur die Spielkasinos der Millionenmetropole suggerieren nahezu, man sei in Las Vegas. Es mangelt auch nicht an Boutiquen und schicken Limousinen. Plakattafeln neben Bürotürmen werben für Luxusherbergen in Dubai. Abseits der Spielkasinos und Edelrestaurants trifft man die Menschen, die ihr täglich Brot dadurch verdienen, dass sie Kaugummis oder Zigaretten einzeln verkaufen. Bei einer typischen Rentnerin wie der fast achtzigjährigen Ewgenija Alexandrowna gibt es immerhin einmal die Woche Fleisch. Vor den Kirchen oder Moscheen sitzen ärmste Mütterchen. Sie warten auf Almosen. Auch im Wirtschaftswunderland und gerade auf dem Land leben noch 12 bis 15 Prozent der Menschen unter dem Existenzminimum.
Man muss nicht lange suchen, um in Kasachstan Arbeitsmigranten und Wirtschaftsflüchtlinge aus ganz Zentralasien zu finden mit Ausnahme Turkmenistans. Von dort werden Arbeitskräfte nicht weggelassen. Sie hoffen auf ein besseres Leben. Wenn man in die Forbes-Liste der reichsten Weltbürger 2005 schaut, dann muss man den Eindruck haben, dass man in Kasachstan sogar sehr reich werden kann. Erstmals werden dort Pathokh Schodiew, Alijan Ibragimow und Alexander Maschkewitsch aufgeführt. Diese Vermögensmilliardäre Almatys machen gutes Geld in Zentralasien. Sie kontrollieren die kasachische Eurasia-Holding, die in den Sektoren Rohstoffe, Bau und Finanzdienstleistungen tätig ist. Der Jahresumsatz ihrer Holding liegt bei fünf Milliarden, das Privatvermögen der Magnaten wird auf je eine Milliarde US-Dollar beziffert. Heute sind alle drei Staatsbürger Kasachstans. Eigentlich sind Ibragimow und Schodiew gebürtige Usbeken. Letzterer ist zugleich Staatsbürger Belgiens. Der dritte im Bunde ist ein ehemaliger Kirgise, der auch Israeli ist.
Ähnlich wie seine russischen Oligarchenkompagnons hat Schodiew einen eigenen Wohltätigkeitsfonds seines Namens gegründet, und der Halbisraeli Maschkewitsch präsidiert dem Euro-Asian Jewish Congress. Damit ist er im World Jewish Congress eine Figur von Bedeutung.
Das Erbe des Kommunismus wirkt in Zentralasien in russischer Manier nach. Auch hier schuf er Strukturen, die zur Korruption geradezu verführen. Der internationale Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International bestätigt, dass die fünf Republiken Hochburgen des Filzes sind. Geld und Macht sind in besonderer Manier eins im postsowjetischen Zentralasien. Der Polizeipräfekt will schon mal eine neue Uhr, damit ein Anliegen seinen Gang nimmt. An der Spitze sicherten sich Komsomol- und KP-Seilschaften die Filetstückchen der Industrie und den Zugang zu Macht und Rohstoffen. Ein symptomatisches Spiegelbild für die Gesamtsituation nach fünfzehn Jahren Transformation in Zentralasien ist, dass die einzige überall längs der einstigen Seidenstraße boomende Geschäftigkeit heute der Drogenschmuggel von Afghanistan nach Russland oder in den Iran und in die Türkei ist. Auf dieser neuen Handelsroute mischen sich althergebrachte Geschäftstätigkeit Zentralasiens und gefahrvolle Machtstrukturen.
Dennoch gilt: Potenzial für gesamtgesellschaftlichen Wohlstand ist in Kasachstan dank Rohstoffen, Stabilität, soliden makroökonomischen Eckdaten und der Nähe zu den Wachstumsmärkten China, Indien und Russland vorhanden. Die Regierung kann sich derzeit Luxusproblemen wie einer Inflation unter zehn Prozent oder der Förderung von Technologieparks widmen.
Ob das Land ein Ölstaat B la Saudi-Arabien wird oder der bis 2012 im Amt bestätigte Präsident die noch ausstehende politische Liberalisierung in die Wege leitet, ist offen. Geschieht letzteres, dann könnet Kasachstan über Zentralasien hinaus beispielhaft sein.
aus: der überblick 01/2006, Seite 14
AUTOR(EN):
Gunter Deuber
Der Volkswirt Gunter Deuber arbeitet als Wirtschaftskorrespondent für Zentralasien der deutsch-russischen Deutsche Allgemeine Zeitung. Von der kasachischen Metropole Almaty aus hat er zahlreiche Recherchereisen in die Länder der Region unternommen. Derzeit nimmt er an dem Postgraduiertenprogramm Philosophy&Economics der Universität Bayreuth teil.