Mehr Liebe für den Fisch
Trotz strengerer Fanggesetze ist der Fischbestand weltweit bedroht. Dafür sind sowohl die Fangmethoden als auch mangelndes Interesse der Öffentlichkeit verantwortlich. Im Gegensatz zu Walen, denen als bedrohten Meeresbewohnern viel Sympathie entgegenschlägt, haben Fische kaum eine Lobby. Vorbild für einen verantwortungsvollen Umgang mit ihnen könnten vormoderne Kleinfischergruppen sein, in deren Weltbild Fische oft einen wichtigen Stellenwert hatten und respektvoll behandelt wurden. Kann Liebe zum Fisch sein Überleben retten?
von James R. McGoodwin
Seit nahezu drei Jahrzehnten steckt die Fischerei weltweit in der Krise. Praktisch alle wichtigen Fischgründe der Welt werden heute über das haltbare Ertragsniveau hinaus befischt, viele sind erschöpft und einige völlig zusammengebrochen. Zudem lässt die gegenwärtige Entwicklung für die Zukunft eine weitere Stagnation oder Abnahme der Bestandszahlen erwarten.
Hauptursache ist das Überfischen, das mit der Einführung industrieller Fischfangtechniken in den fünfziger und sechziger Jahren begann und mit steigender Leistungsfähigkeit dieser Techniken immer größere Ausmaße annahm. Während die Krise für die meisten Fischer der Welt bereits heute katastrophale Auswirkungen hat, werden auch die Auswirkungen auf die Sicherstellung der Ernährung künftiger Menschheitsgenerationen dramatisch sein.
Als Reaktion auf diese Krise wurden neue Ansätze in der Fischereiwirtschaft erprobt - etwa Systeme übertragbarer Quoten und gemeinsamer Bewirtschaftung. Aber meistens waren solche Neuerungen nur begrenzt erfolgreich und konnten die weitere Ausbreitung der Krise nicht verlangsamen.
Gibt es noch ein Heilmittel, das noch nicht ausprobiert wurde? Es gibt sogar ein relativ naheliegendes Gegenmittel, das allzu oft übersehen wird: Die Menschen müssten den Fischen selbst mehr Achtung erweisen und Fürsorge schenken. Dieser Vorschlag ist im Kontext moderner Fischwirtschaft und Politikgestaltung selten oder nie zu hören. Bei traditionellen Kleinfischern und in kleinen vormodernen Gesellschaften, wie sie noch vor wenigen Jahrzehnten überall auf diesem Planeten anzutreffen waren, war es aber selbstverständlich, Fische zu achten.
Die Tatsache, dass wenige Menschen in modernen Gesellschaften zu Fischen einen starken emotionalen Bezug entwickeln, ist ein bislang kaum gewürdigtes Problem, das aber der aktuellen Krise zugrunde liegt. Dabei engagieren sich viele von ihnen durchaus für andere Wildtiere - ein Engagement, das in der jüngeren Vergangenheit entscheidend dazu beigetragen hat, dass sich viele von der Ausrottung bedrohte Arten wieder zu erholen begannen.
Während bislang weder die Fischwirtschaften der Welt noch die Managementstellen, die sie lenken wollen, der weltweiten Fischereikrise ernsthaft etwas entgegenzusetzen hatten, könnte öffentliches Engagement für Fische genau das tun. Und es wäre nicht das erste Mal, dass eine aufgeklärte, sensibilisierte und engagierte Öffentlichkeit die Macht von Industrien und Regierungen verblassen lässt.
Die jüngere Geschichte des Walfangs ist ein Paradebeispiel. Ähnlich wie Fische heute wurden Wale in der Nachkriegszeit weit über die Erhaltung gesunder Bestände hinaus gejagt. Als sich die Lage der Wale immer mehr zuspitzte, wurde 1946 die Internationale Walfang-Kommission (International Whaling Commission, IWC) eingerichtet, um die Walbestände zu erhalten und den Walfang weltweit zu regeln. Das geschah in den Anfangsjahren nicht aus Liebe zu den Walen, sondern um das Fortbestehen des kommerziellen Walfangs zu sichern. Aber nach der Gründung der IWC konnten - genau wie in der heutigen Fischerei - weder die am Walfang Beteiligten noch die IWC die fortschreitende Dezimierung der Walbestände aufhalten, bis schließlich einige Walarten kurz vor der Ausrottung standen und die meisten verbleibenden größeren Arten beängstigend niedrige Bestandszahlen aufwiesen.
Erst im Jahr 1982, fast 40 Jahre nach ihrer Gründung, erließ die IWC ein weltweites Moratorium gegen den kommerziellen Walfang, das 1986 in Kraft trat und bis heute gilt. Aber glauben Sie nicht, dass das Moratorium in erster Linie deswegen heute noch gilt, weil die Walbestände noch besonders niedrig wären oder gar weil die Walfangindustrie seine Weiterführung wünschen und verfechten würde. Es liegt vielmehr an dem breiten Interesse und Engagement für Wale, das Bürgerinnen und Bürger in den modernen Gesellschaften seit 1986 entwickelt haben, und an dem Druck, den diese heute gemeinsam auf die IWC ausüben, damit das Moratorium seine Gültigkeit behält.
Vor 1986 machten sich die meisten Menschen in Industrieländern kaum Gedanken über Wale. Wale waren für die Mehrzahl von ihnen keine wichtige Nahrungsquelle, und wenn sie überhaupt über Wale nachdachten, gingen sie zumeist davon aus, dass die Walbestände so reich wie die Meere weit seien. Aber mit Erlass des Moratoriums und der in der Folge breiteren Aufmerksamkeit für den gefährdeten Status vieler Wale änderte sich das.
Dieser Wandel im öffentlichen Bewusstsein wurde durch die Aktivitäten verschiedener Umwelt- und Tierschutzorganisationen angestoßen, die in den sechziger und siebziger Jahren ihren Anfang nahmen und in den achtziger und neunziger Jahren weiter Kräfte sammelten. Gleichzeitig verlieh die kritische Situation, in der sich die Wale weltweit befanden, auch der wissenschaftlichen Walforschung Auftrieb. Obwohl also die meisten Menschen in den Industrieländern vor 1986 kaum einen Gedanken an Wale verschwendeten, bilden sie heute gemeinsam eine Kraft, die so mächtig ist, dass sie die IWC daran hindert, eine Wiederaufnahme des Walfangs zu gestatten - auch wenn sich die meisten Walbestände bemerkenswert erholt haben und sachgemäße, fortschrittliche und effektive Methoden für einen bestandserhaltenden Walfang zur Verfügung stehen.
Was hat sich zwischen 1986 und heute geändert? In der Quintessenz hatten Wale die Sympathie, das Interesse und die emotionale Betroffenheit so vieler Menschen in der modernen Welt geweckt, dass es nunmehr als gewissenlos betrachtet wurde, sie zu kommerziellen Zwecken zu töten.
Würden Fische heute auch nur einen Teil des öffentlichen Interesses auf sich ziehen, das den Walen zuteil wurde, könnte die sich zuspitzende weltweite Fischereikrise eingedämmt werden. Aber natürlich haben Fische - abgesehen davon, dass sie im Wasser leben - wenig mit Walen gemein. Sie sind keine warmblütigen Säugetiere wie Menschen und Wale und haben allem Anschein nach keine so hochentwickelten Systeme der sozialen Organisation und Kommunikation - deswegen können sich Menschen vielleicht schwerer mit ihnen identifizieren als mit Walen.
Nichtsdestoweniger sind Fische - anders als Wale - seit langem ein wichtiges Nahrungsmittel für die gesamte Menschheit, unabhängig davon, wo die Menschen leben, welcher Kultur sie angehören, und ob sie aus einem mehr oder weniger entwickelten Land kommen. Wale dagegen waren vorwiegend für Meeresküstenbewohner und ihre nächsten Nachbarn, mit denen sie Handel trieben, wichtige Nahrungsmittel. Fische sind vor allem in vielen weniger entwickelten Ländern oft die wichtigste, wenn nicht einzige Quelle tierischer Proteine im Speiseplan der Menschen. Heute wird der Gesundheits- und Nährwert von Fisch für die menschliche Ernährung in fast allen Kulturregionen der Welt geschätzt - zur Förderung der Gehirnentwicklung beim Kind und zur Vermeidung von Herz- und Gefäßkrankheiten, um nur zwei wichtige Beispiele zu nennen. Deshalb muss Fisch ein wichtiger Bestandteil auf dem Speiseplan der Menschen bleiben.
Immerhin haben umweltschädliche Fischfangmethoden wie Dynamit- und Giftfischen, die intensive Befischung von Laichgründen, der Einsatz riesiger Treibnetze, die alles, was in ihrem Weg liegt, mitnehmen, Schleppnetzpraktiken, die große Mengen von Beifang einbringen (ungewollt mitgefangene Arten, die dann - meist verletzt oder tot - wieder ins Meer zurückgeworfen werden) oder Ökosysteme am Meeresgrund zerstören, in den letzten Jahren deutlich abgenommen. Das ist in erster Linie der wissenschaftlichen Arbeit zu verdanken, die der Öffentlichkeit die Nachteile dieser Praktiken deutlich gemacht hat, und dem darauf folgenden Ruf der Öffentlichkeit nach Einstellung dieser Praktiken. Massenmedien bringen Bilder von Umweltverbrechen wie Kahlschlag von Wäldern oder illegale Ablagerung von Schadstoffen und ihre schädlichen Auswirkungen direkt in die Wohnzimmer. So werden die Menschen auch Zeuge von katastrophalen Auswirkungen von Umweltfreveln auf bislang ungesehene Ökosysteme im Meer.
Aber so hilfreich dieses neue öffentliche Bewusstsein im Kampf gegen die oben genannten zerstörerischen Fischfangpraktiken auch gewesen sein mag, scheint es die weltweite Fischereikrise insgesamt nicht entschärft zu haben. Dafür braucht es mehr: Menschen müssen von der Misere unserer Ozeane und Meere und ihrer Lebewesen stärker emotional berührt werden - so wie sie sich von der Misere der Wale berühren ließen.
Von den traditionellen Kleinfischern, die noch vor wenigen Jahrzehnten rund um die Welt in kleinen vormodernen Gesellschaften lebten und deren Nachkommen noch heute in vielen Regionen anzutreffen sind, können wir für den Umgang mit der aktuellen Fischereikrise einiges lernen. Wie zahlreiche ethnographische Berichte zeigen, wandten die meisten dieser Menschen fischwirtschaftliche Methoden an, die modernen Managementmethoden vergleichbar sind und auf dem Prinzip beruhten, Fische heute zu schützen, damit sie auch in Zukunft noch verfügbar sind. Die meisten betrachteten verschiedene Umweltsphären als miteinander in einem größeren Netz allen Lebens verbunden. Im Gegensatz zu modernen Gesellschaften unterschieden sie dabei oft nicht zwischen belebter und unbelebter Umwelt. Der Zusammenhang zwischen den verschiedenen Sphären der Umwelt ist auch Grundlage der Umweltwissenschaft unserer Zeit.
Aus ethnographischen Studien über verschiedene vormoderne Fischergruppen geht ferner hervor, wie einige ihrer religiösen Überzeugungen solchen Anliegen dienten, die wir heute unter praktischen Gesichtspunkten durchaus befürworten würden: Die Fischarten, die für sie am wichtigsten und am gefährdetsten waren, wurden am höchsten geachtet und als heilig betrachtet, während den weniger wichtigen, häufiger vorkommenden und weniger gefährdeten Spezies geringere Bedeutung zugemessen wurde.
In wichtigen Aspekten wichen die Überzeugungen dieser Menschen allerdings vom gängigen Denken über Fische und Fischwirtschaft in heutigen Industrieländern ab. So hatten viele dieser Bevölkerungsgruppen Ursprungsmythen, die unterstrichen, wie Menschen und Fische sich von einer Form in die andere und zurück verwandeln können. "Wir sind die Fische in Menschenform", mochten sie sich sagen, "und die Fische sind wir in Fischform."
Während Menschen in Industrieländern zuweilen ein Lippenbekenntnis nach dem Motto "Du bist, was du isst" ablegen (auch wenn ihre tatsächlichen Essgewohnheiten Zweifel an der Aufrichtigkeit dieser Überzeugung aufkommen lassen), nahmen viele vormoderne Menschen diese Vorstellung sehr ernst. Zudem betrachteten sie bestimmte Meeresspezies als besonders heilig oder als Verwandte der Menschen - und ein wesentliches Merkmal ihres Fischereimanagements bestand darin, diese Spezies entsprechend zu behandeln.
Die hohe Wertschätzung von Fischen, von denen man besonders abhängig war, entspricht dem, was man heute als Respekt bezeichnen würde. Im Kern ließe sich das Denken vormoderner Menschen etwa so zusammenfassen: "Wir sind Fische und sie sind wir. Weil sie uns ernähren, sind unsere Schicksale untrennbar miteinander verbunden. Deswegen müssen wir sie behandeln, wie wir selbst behandelt werden möchten - mit Respekt."
Religiös begründete Tabus gegen den Verzehr von Fisch und anderen Meeresfrüchten finden sich ebenfalls in ethnographischen Berichten und werden als wichtige Beiträge zum Umweltschutz in vielen vormodernen Kulturen der Welt beschrieben. So sicherten Tabus gegen den Verzehr bestimmter Fischarten in Teilen des amerikanischen Südwestens, in Küstenregionen Australiens, Afrikas, Indiens, Sri Lankas und auf Hawaii häufig deren Bestand als Nahrungsreserve. Auf diese konnten die Menschen zurückgreifen, wenn sie aufgrund von Engpässen bei anderen Nahrungsmitteln verzweifelt genug waren, um vorübergehend die Tabus zu brechen und ihren Hunger zu stillen.
Vertrauter dürfte den Menschen in westlichen Kulturen und insbesondere in Europa die Tatsache sein, dass Fischfang am Sabbat über lange Zeit tabu war. Damit waren 52 Tage des Jahres vom Fischfang ausgenommen. In den Gemeinschaften, die sich an diese Regel hielten, dürften sich die Fischfangaktivitäten insgesamt und die Zahl der getöteten Fische um 14 Prozent reduziert haben.
Bei den heutigen Inuit (Eskimos) in Südwestalaska stehen der Fang, die Konservierung und der Verzehr von Lachs seit Jahrtausenden im Zentrum ihrer Kultur. Und obwohl sie sich der modernen Welt durchaus bewusst sind und viele ihrer materiellen Errungenschaften nutzen, halten sie auch an traditionellen Überzeugungen fest, die ihre Verbundenheit mit dem Schicksal dieser Fische unterstreichen und die verlangen, dass Lachs immer mit anderen Mitgliedern der Gemeinschaft geteilt wird.
Als ich letzten Sommer bei diesen Inuit Feldforschung betrieb, hielt ich eines Tages einen herrlichen Lachs in der Hand, der gerade aus einem Netz genommen worden war und dessen Kiemen sich noch langsam bewegten, und ich spürte die Kraft, die noch in seinem Körper war, als sein Leben zu Ende ging. "Ein wilder Fisch", sagte einer der Fischer zu mir. "Er wurde hier geboren, genau wie wir. Er wuchs in diesem Fluss heran, demselben Fluss, von dem wir unser Leben lang gelebt haben und an dessen Ufern wir keine Industrieanlagen zulassen werden, die das Wasser vergiften und die Fische oder unsere Kinder, die hier im Sommer gerne schwimmen, krank machen. Er verabschiedete sich vor einiger Zeit von uns und reiste durch das Meer, fast bis nach Japan und dann wieder hierher zurück. Auf seiner langen Reise fing er alle Nahrung, die er brauchte, und entging vielen Gefahren. Er hat nie Chemikalien für schnelleres Wachstum oder zur Vermeidung von Krankheiten gefressen - und schau, wie schön er jetzt ist. Nun ist er nach Hause gekommen, um mich und meine Familie zu ernähren, um zu laichen, eine neue Generation seinesgleichen zu erzeugen und zu sterben."
Was wäre, wenn moderne Zeitgenossen sich ähnliche Gedanken über die Fische auf ihren Tellern machten? Wenn sie es täten, könnten sie eine stärkere Macht im Kampf gegen die aktuelle weltweite Fischereikrise werden als alle Regierungen und Fischerei- Managementstellen zusammen.
aus: der überblick 02/2004, Seite 63
AUTOR(EN):
James R. McGoodwin:
James R. McGoodwin ist Professor für Ethnologie an der Universität von Colorado in Boulder, USA. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf maritimer Ethnologie und derzeit auf der Untersuchung der Auswirkung der globalen Erwärmung auf Fischergemeinschaften. Er ist Autor des Buches "Crisis in the World's Fisheries: People, Problems, and Policies".