Grenzenlose Geschäfte
Diktatorische Regime haben in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts jeweils einen mehr oder weniger bankrotten Staat hinterlassen. Das ist schlimm genug, schlimmer aber ist, dass sie oft auch das Human-und Sozialkapital ihrer Gesellschaften schwer geschädigt haben.
von Peter Lock
Als Humankapital bezeichnet man die in einer Gesellschaft kumulierte Bildung und Ausbildung bzw. die verfügbaren Fähigkeiten und das Wissen. Sozialkapital umschreibt die Kompetenz der Menschen, miteinander umzugehen, Vertrauen zu bilden, die Bereitschaft zum Risiko und eigenständigem Handeln oder soziale Kompetenz.
Die negative Hinterlassenschaft von Diktaturen in den Bereichen Human-und Sozialkapital bildet eine Hypothek für nachfolgende Regierungen. Deshalb bleiben demokratische Neuanfänge häufig im Sumpf alter Strukturen stecken. Die Suche nach Erklärungen für die andauernde Tragödie der argentinischen Entwicklung vom gelobten Modell zum Zerfall der Gesellschaft wird sich zum Beispiel auf diese Bereiche konzentrieren müssen.
Auch Migration ist ein unausweichlicher Schatten von Diktaturen. Zwischen Flucht, Auswanderung oder Ausweisung ist dabei nicht immer klar zu unterscheiden. Diktatoren haben fast alle den ideologischen Anspruch, eine Maximierung der gesellschaftlichen Wohlfahrt zu befördern. Insofern wäre zu erwarten, dass die Einbindung und Mobilisierung des verfügbaren Humankapitals in die nationale Entwicklungsstrategie Priorität hat. (Eine Ausnahme hiervon ist selbstredend die Ausschaltung konkurrierender politischer Eliten im Rahmen der Machtübernahme.) Tatsächlich aber plündern sie meist aus, was sie vorgefunden haben.
So verkommen die verkündeten Zielsetzungen zu einer rhetorischen Fassade des Machterhaltes. Dahinter expandiert ein System klientelistischer Patronage, dessen Eigendynamik bis zur völligen Erschöpfung der verfügbaren Ressourcen die Wirtschaftspolitik bestimmt. Die Bedienung von klientelistischen Ansprüchen entwickelt sich zu einer Lawine von desaströsen wirtschaftspolitischen Eingriffen, die den wirtschaftlichen Niedergang besiegeln. Die Wirtschaftspolitik verkommt zu einer Kriegswirtschaft des Machterhaltes, in der Krisen zu immer neuen widersprüchlichen Prioritätensetzungen führen. Den meisten Diktatoren und ihren Claqueuren ist die wirtschaftliche Perspektivlosigkeit ihrer Regime durchaus bewusst, denn anders lässt sich die massive persönliche Kapitalflucht, vorzugsweise in die Schweiz, nicht erklären.
Aus der Unfähigkeit, eine kohärente Wirtschaftspolitik zu betreiben, ergibt sich ein zynischer Umgang mit der Ressource Mensch. Ein besonderer Zynismus besteht darin, dass in Krisen geratene Diktaturen ihre Untertanen stillschweigend zur Migration vorzugsweise in industrialisierte Länder und ab Mitte der siebziger Jahre in Erdöl exportierende Staaten ermuntern, weil sie sich davon Zugriff auf eingehende Devisen versprechen. Rücküberweisungen von Migranten sind in vielen heruntergewirtschafteten Ländern eine der wichtigsten Positionen in der Zahlungsbilanz, nicht selten der größte Posten auf der Einnahmenseite. Die Parallelen zu den Ökonomien in Kriegsgebieten sind deutlich, auch dort sind Flüchtlinge und die Diaspora eine wichtige Einnahmequelle (vgl. "der überblick" 2/2001).
Diese Politik reicht weit in die Zeit des Kalten Krieges zurück. Das wegen seiner Blockfreiheit gepriesene Tito-Regime ist ein frühes Beispiel. Die Möglichkeit als Gastarbeiter nach Westeuropa und vor allem nach Deutschland zu gehen, wurde Ende der sechziger Jahre allgemein als Ausdruck von Freiheitlichkeit des jugoslawischen Weges zum Sozialismus gefeiert. Dieses Ventil der sozialistischen Misswirtschaft wurde vor allem von besonders qualifizierten Menschen einerseits und von politisch diskriminierten Personengruppen, wie der albanischen Bevölkerung im Kosovo, andererseits genutzt. Es war in Wahrheit jedoch ein Offenbarungseid der sozialistischen Ideologie, die ihre wertvollste Ressource, zumeist gut ausgebildete Menschen, zum Anschaffen in den Kapitalismus schickte.
Die ab 1976 verfügbaren Daten des Internationalen Währungsfonds belegen, dass über lange Zeit die Rücküberweisungen nach Jugoslawien mal mehr, mal weniger als die Hälfte des gesamten Warenexportes ausmachten und somit eine zentrale Stütze für das Überleben des maroden Regimes geworden waren. Dass dieser Anteil ab dem Ende der achtziger Jahre zurückging, ist darauf zurückzuführen, dass das Vertrauen in die Institutionen des Regimes, die Währung und die Banken stark zurückging und sich immer leistungsfähigere informelle Transferformen herausbildeten. Für dauerhafte Güter und Immobilien in Jugoslawien, aber auch in Polen unter Jaruselski, waren Dollar und Mark längst die einzig akzeptierten Tauschmedien geworden.
Die Unfähigkeit und die Unwilligkeit der stark serbisch dominierten Bürokratie, auch Minderheiten faire Chancen wirtschaftlicher Betätigung einzuräumen, hat schließlich zur Bildung eines in Ansätzen parastaatlichen transnationalen Lebensraums der albanischen Bevölkerung des Kosovo geführt. Die durch andauernde Diskriminierung bewirkte Migration hatte zum Ergebnis, dass Ende der neunziger Jahre mindestens die Hälfte der Kosovo-Albaner im erwerbsfähigen Alter legal oder illegal im Ausland lebten und arbeiteten.
Der dramatische wirtschaftliche Niedergang und die damit verbundenen Kriminalisierung der Wirtschaft unter Milosevic hatte aus den jahrzehntelang diskriminierten Albanern im Kosovo eine wirtschaftlich weitgehend unabhängige und relativ privilegierte Gruppe gemacht, deren kollektives Einkommen nur zum kleineren Teil im Kosovo erwirtschaftet wurde. Daher war man über zehn Jahre in der Lage, sich abseits vom jugoslawischen Staat zu organisieren und sogar ein autonomes Bildungssystem aufrechtzuerhalten. Grundlage für diese parastaatliche Selbstorganisation war eine informelle Besteuerung der albanischen Diaspora vor allem in der Schweiz, Österreich und Deutschland. Diese transnationale Eigenständigkeit war insofern ein Erbe der Nomenklatura des Tito-Regimes.
Für die Salazar-Diktatur in Portugal galt ähnliches. Die Rücküberweisungen der im Ausland schaffenden Bürgerinnen und Bürger entsprachen mehr als der Hälfte des gesamten Warenexportes. Für die Kolonien, euphemistisch Überseeprovinzen genannt, wurde zudem Geld durch Entsendung von afrikanischen Kontraktarbeitern in die Minen des südafrikanischen Apartheidregimes erwirtschaftet. Fünfzehn Jahre nach dem Ende der Diktatur beliefen sich die Rücküberweisungen nur noch auf ein Viertel des Warenexports.
Soweit die Transfers der Diaspora überhaupt in den nationalen Zahlungsbilanzen näherungsweise ausgewiesen werden, sind sie unter anderem in folgenden weiteren Ländern zumindest in bestimmten Zeiträumen bedeutsam: El Salvador, Guatemala, Pakistan, Israel, Bangladesch, Haiti, Jemen, aber auch Polen während der Verhängung des Kriegsrechts in den achtziger Jahren.
Voraussetzung für den Export von Arbeitskräften ist die legale oder illegale Zugänglichkeit von Importländern, also Absatzmärkten für die Ware Mensch. Sie ist abhängig von ökonomischen Konjunkturen, aber auch von kulturellen Affinitäten und bereits existierender Diaspora. Es ist jedoch schwierig, die Instrumentierung von Emigration durch Diktaturen und klientelistische Machtkartelle an der Spitze von Staaten über einen längeren Zeitraum nachzuweisen. Das scheitert unter anderem daran, dass sie typische Zyklen der ökonomischen Regulierung durchlaufen. In deren Verlauf vermischt sich strikt kontrollierte zentralstaatliche Regulierung zunehmend mit Elementen schattenwirtschaftlicher Steuerung, die schließlich in wirtschaftskriminelle Aneignung der verbliebenen staatlichen Instrumentarien mündet. Im Verlauf dieser Entwicklung bildet die amtliche Statistik das realgesellschaftliche Geschehen immer weniger ab.
In Haiti, das man als Dauerdiktatur bezeichnen kann, sind die Menschen seit langem so wenig qualifiziert, ist die Gesellschaft so zerfallen, dass die Chancen gering sind, in der Emigration ein hinreichendes Einkommen zu erzielen, das größere Rücküberweisungen erlauben würde. Unter der Duvalier-Dynastie hatte der Menschenhandel lange Zeit quasi-zwischenstaatlichen Charakter: Der Diktator verkaufte Kontraktarbeiter zur Zuckerernte in die Dominikanische Republik. Inzwischen aber fliehen die Menschen aus der gewaltgeprägten Armut Haitis ins Nachbarland, obwohl dort Rechtlosigkeit und Ausbeutung auf sie warten. Ihre Kinder haben dort nicht einmal Schulzugang. Ökonomisch formuliert: Sämtliche Ressourcen des Landes, einschließlich des Humankapitals, sind aufgrund diktatorischer Misswirtschaft aufgebraucht oder ins Ausland transferiert worden.
Die durch die Erdölpreiserhöhung nach 1973 entstandene große Nachfrage nach Arbeitskräften machte die Arbeitsmigration zum wichtigsten Exportsektor der verschiedenen pakistanischen Regime. Die Rücküberweisungen waren ab 1978 meist höher als der Wert des gesamten Warenexportes. Die Militärherrscher haben nicht nur viele Bürger zum Arbeiten ins Ausland geschickt, sie haben selbst qualifiziertes Militärpersonal, zum Beispiel Piloten, gegen gute Bezahlung an Staaten wie Saudi-Arabien ausgeliehen. Über eine Million Pakistani arbeiten allein in Saudi-Arabien im Status rechtloser Apartheid. Seit September letzten Jahres steht die pakistanische Regierung unter Druck, die informellen Hawala-Netzwerke in transparente reguläre Banken zu überführen. Seitdem haben sich die registrierten Rücküberweisungen auf jährlich fast drei Milliarden US-Dollar verdreifacht. Doch auch das ist mit Sicherheit nur ein bescheidener Teil der Rücküberweisungen.
Ökonomisch profitieren Diktatoren und andere Machtkartelle von den Rücküberweisungen auf vielfältige Weise: Sie stabilisieren die Zahlungsbilanz und erhalten die Kreditwürdigkeit. Beim Tausch in die nationale Währung wird das Geld durch Verzögerung und Inflation, aber auch durch Wechselkursmanipulationen "verdünnt" und damit ein Teil abgezweigt. Ohne diese Rückflüsse, auf die internationale Kreditgeber zunächst keinen Zugriff haben, ist die massive Kapitalflucht der Eliten nicht denkbar.
Es ist höchst unsicher, inwieweit sich die expandierenden transnationalen Netzwerke ökonomischer Selbsthilfe, häufig auch unter Einsatz von Gewalt, in einen demokratischen Neuanfang einbinden lassen. Denkbar ist, dass sich äußerst hybride Formen von territorialer Staatlichkeit herausbilden oder dass die ökonomischen Interessen derartiger Netzwerke Identitätsideologien ausbilden, die entweder separatistische territoriale Forderungen erheben oder nur einen schwachen Staat zulassen, der ihren jeweiligen transnationalen Netzwerken und vielleicht auch bereits Identitäten förderlich ist. Die kumulative Expansion transnationaler Netzwerkökonomien außerhalb staatlicher Regulierung ist der Schatten der derzeitigen Globalisierung, die für große Teile der Menschheit keine Perspektive bietet. Sie verändern die internationale Ordnung in nicht vorhersehbarer Weise. Diktaturen und Kriege legen die Fundamente für derartige Entwicklungen.
aus: der überblick 03/2002, Seite 64
AUTOR(EN):
Peter Lock :
Dr. Peter Lock ist Politologe und Friedensforscher und lebt in Hamburg. Er koordiniert die "European Association for Research on Transformation e. V." (EART).