Eine Erfolgsgeschichte
Für Friedenskonsolidierung und Staatsbildung setzt die internationale Gemeinschaft auf schnelle Wahlen und Aufbau von Strukturen, wie sie sich in konsolidierten Ländern bewährt haben. Doch solche sind von außen nur schwer oder gar nicht zu verankern und können neue Konflikte hervorrufen. Dass und wie es anders gehen kann, zeigt der Fall der südpazifischen Insel Bougainville.
von Volker Böge
Erfolgsgeschichten von Friedenskonsolidierung und Staatsbildung sind heutzutage rar. Eine noch wenig beachtete Ausnahme ist die Insel Bougainville im südlichen Pazifik.
Bougainville, mit rund 9000 Quadratkilometern etwa so groß wie Zypern, wurde 1975 Teil von Papua-Neuguinea, einem aus australischer Kolonialherrschaft in die Unabhängigkeit entlassenen Staat. Zwischen 1988 und 1998 tobte auf der Insel ein Konflikt, der blutigste und langanhaltendste im Südpazifik seit dem Zweiten Weltkrieg überhaupt. Ihm sollen rund 20.000 der knapp 200.000 Inselbewohner zum Opfer gefallen sein. Die sezessionistische Bougainville Revolutionary Army (BRA) kämpfte gegen die Papua New Guinea Defence Forces, (PNGDF) der Zentralregierung, die von lokalen bougainvilleanschen Hilfstruppen, den so genannten Resistance Forces,unterstützt wurde.
Am 30. August 2001 wurde ein Friedensabkommen (Bougainville Peace Agreement) unterzeichnet, das eine weitgehende politische Autonomie für Bougainville vorsieht. Innerhalb von 10 bis 15 Jahren nach der Wahl einer Autonomieregierung soll es ein Referendum über die politische Zukunft geben, also über den Verbleib bei Papua-Neuguinea oder die Unabhängigkeit abgestimmt werden. In einem dreistufigen Prozess sollen die Waffen abgegeben, die bewaffneten Gruppierungen aufgelöst und die Regierungstruppen von der Insel abgezogen werden. Um dieses Friedensabkommen zu erreichen und in der Tat umzusetzen, hat sich die Bevölkerung nicht fremde Friedenskonzepte überstülpen lassen, sondern sich auf eigene Traditionen der Konfliktschlichtung besonnen.
Wie so viele der zeitgenössischen "vergessenen" Kriege war auch der Gewaltkonflikt auf Bougainville geprägt von Menschenrechtsverletzungen und Grausamkeiten, die vor allem an der Zivilbevölkerung verübt wurden. Kirchen und ganze Dörfer wurden niedergebrannt, Menschen vertrieben und beraubt, gefoltert und ermordet. Nur wenige der Kriegsopfer waren Kombattanten, die mit der Waffe in der Hand bei Kampfhandlungen fielen. Viele Menschen starben an den indirekten Kriegsfolgen, insbesondere wegen der von der Zentralregierung über die abtrünnige Provinz verhängten totalen Blockade, die jegliche medizinische Versorgung der Bevölkerung verhinderte.
Streit um die Panguna-Kupfermine, ein gigantisches Bergbauprojekt, hatte den Krieg ausgelöst. Die 1972 eröffnete, gewinnträchtige Mine des australischen Bergbaukonzerns Conzinc Riotinto of Australia (CRA) war für den jungen Staat Papua- Neuguinea eine der bedeutendsten Einnahmequellen zur Finanzierung der nationalstaatlichen Entwicklung. Der Bevölkerung im Minengebiet allerdings bescherte sie vor allem die Zerstörung ihrer natürlichen Umwelt, und sie zersetzte ihre traditionelle Lebensweise.
Die Einheimischen leisteten deshalb Widerstand; die Staatsorgane reagierten mit immer schärferer Repression. So entwickelte sich 1988 ein Konflikt, der zu einem Krieg um die Sezession der Insel vom Staatsverband Papua-Neuguinea wurde. Im Kampf gegen die Abtrünnigen kannten die Regierungstruppen keine Rücksicht mehr: Tagesbefehl Nr. 2133 des Militärs von Papua Neuguinea vom 21.Mai 1996: "Sucht die Rebellen und tötet sie. Alle Zivilisten, die verdächtigt werden, Rebellen zu verstecken, müssen ohne Diskussion getötet werden. Zerstört Nahrung, Gärten, Häuser und Unterkünfte im Wald..."
Doch weit entfernt davon, ausschließlich ein Sezessionskrieg zu sein, wurden unterhalb dieser Ebene eine ganze Reihe weiterer Sub-Kriege geführt, die sich aus überkommenen innergesellschaftlichen Konflikten ergaben. Traditionelle Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Clans, die sich entweder der sezessionistischen BRA anschlossen oder in den Resistance Forces auf Seiten der Regierung kämpften, wurden gleichsam unter dem Dach des "großen" Krieges gewaltsam ausgetragen. Das trug zur Ausfransung des Kriegsgeschehens bei. Die politischen und militärischen Spitzen der Konfliktparteien hatten lediglich nominell, nicht aber faktisch die Führung "ihrer" Einheiten inne.
Der Staat erwies sich als zu schwach, der bewaffneten Sezessionsbewegung Paroli zu bieten, die gleich zu Beginn des Krieges die Panguna-Kupfermine in ihre Hand bringen konnte. Das lag vor allem daran, dass die Staatsorgane in den Augen der Inselbevölkerung kaum Legitimität besaßen. Die Bewohner nahmen Papua-Neuguinea nicht als ihren Staat wahr, sie verstanden sich nicht so sehr als seine Staatsbürger, sondern als Mitglieder sub-nationaler traditioneller Gemeinschaften wie Großfamilien, Abstammungslinien, Klans. Diesen Gemeinschaften galt die Loyalität, nicht dem fremden Staat. Dieser diskreditierte sich vollends durch das Bündnis mit dem multinationalen Bergbaukonzern und das brutale Vorgehen seiner Ordnungskräfte. Auf der anderen Seite gelang es aber auch der BRA nicht, "Staat" zu machen. Ihr Anspruch, im Namen "des bougainvilleanschen Volkes" zu handeln, brach sich ebenfalls an den Realitäten. Auch die BRA hatte ein Legitimitätsproblem.
Auf Vermittlung der neuseeländischen Regierung kam es ab Juni 1997 zu einer Reihe von Gesprächen zwischen den Konfliktparteien. Hinzugezogen wurden Vertreter anderer gesellschaftlicher Kräfte aus Bougainville, um der Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung Ausdruck zu verleihen. Das waren vor allem Kirchen und Frauengruppen, andere nichtstaatliche Organisationen (NGOs) sowie traditionelle Oberhäupter. Im Oktober 1997 einigte man sich auf einen Waffenstillstand, den so genannten Burnham Truce.
Diese Erklärung wurde nicht allein von den politischen und militärischen Spitzen der Konfliktparteien, sondern auch von Vertretern der Organisationen der Zivilgesellschaft sowie den lokalen Kommandeuren der BRA und der Resistance Forces unterzeichnet. Deshalb betrachteten weite Kreise der Bevölkerung die Erklärung als verbindlich, was die Chancen zur Umsetzung erheblich verbesserte. Im April 1998 wurde schließlich ein "permanenter und unwiderruflicher" Waffenstillstand verkündet, der als das Ende des Krieges gelten kann.
Beendigung des Krieges bedeutet allerdings in Verhältnissen wie auf Bougainville noch lange nicht Frieden. Vielmehr folgten nunmehr Jahre mühsamer Friedensbildung.
Ein Element hiervon war ein komplizierter, immer wieder von Verzögerungen, Rückschlägen und Unterbrechungen begleiteter politischer Verhandlungsprozess. Schließlich konnte in den politischen Schlüsselfragen eine Einigung erzielt werden. Am 30. August 2001 wurde das Friedenabkommen unterzeichnet.
Die Regierungstruppen zogen sich danach völlig aus Bougainville zurück, und BRA und Resistance Forces gaben nach und nach ihre Waffen ab. Von 2002 bis 2004 arbeitete eine bougeainvilleansche Kommission an einer Autonomie-Verfassung; mehrere Entwürfe wurden der Bevölkerung auf Bougainville vorgelegt und von dieser ausführlich diskutiert. Im November 2004 erfolgte die Verabschiedung durch eine Verfassunggebende Versammlung; im Dezember stimmte ihr die Zentralregierung zu, und am 15. Januar 2005 trat sie in Kraft.
Damit war der Weg zu den Wahlen für eine Autonomieregierung frei. Diese fanden im Mai/Juni 2005 statt. Wahlkampf und Wahlen verliefen ohne Zwischenfälle. Gewählt wurden 40 Abgeordnete eines autonomen Parlaments und ein Präsident. Dieses Amt bekleidet nunmehr Joseph Kabui. Er war in den achtziger Jahren bereits einmal Chef der damaligen Provinzregierung, hatte sich dann den Sezessionisten angeschlossen und war für die BRA in maßgeblicher Position an allen Verhandlungen seit der Kriegsbeendigung beteiligt. Er bildet gemeinsam mit einigen Ministern das Autonomous Bougainville Government der Autonomous Region of Bougainville so die offiziellen Namen der gewählten Regierung und neuen politischen Einheit. Die Autonomie ist sehr weitreichend. Bougainville kann jetzt eine eigenständige Verwaltung, Justiz, Gefängniswesen und Polizei aufbauen. Selbst in Fragen der Außen- und Verteidigungspolitik hat es Kompetenzen. Die Autonomieregierung kann auf dem internationalen Parkett präsent sein; und sie kann mit ausländischen Gebern Übereinkommen zur Entwicklungszusammenarbeit abschließen.
Mit der Bildung der neuen Regierung ist die Phase der Friedenskonsolidierung im wesentlichen abgeschlossen, seither ist Bougainville in die Phase der Staatsbildung eingetreten. Hierbei macht man sich bewusst die positiven Erfahrungen der Friedenskonsolidierungsphase zu Nutze.
Von herausragender Bedeutung für die Friedenskonsolidierung war der Rückgriff auf traditionelle Formen der Beendigung von Gewaltkonflikten auf der lokalen Ebene. Der Krieg war eine Mischung aus modernem Sezessionskrieg und traditionellen Sub-Kriegen. Deswegen konnte und musste seine Beendigung ebenfalls auf modernen und traditionellen Wegen zugleich erfolgen. Überkommene Verfahren der Kriegsbeendigung und Versöhnung wurden in der Übergangs- und Nachkriegsphase vielerorts praktiziert. Vor allem geht es dabei um den Ausbruch aus der Logik der Vergeltung. Dem liegt ein komplizierter und oft langwieriger Aushandlungsprozess zugrunde, in dem autorisierte Führungspersonen der Konfliktparteien die Bedingungen für einen Friedensschluss sowie Form und Umfang von Kompensationen für entstandene Schäden und begangene Gewalttaten festlegen. Abgeschlossen wird ein solcher Prozess mit einer festlichen Friedenszeremonie, in deren Rahmen die Kompensationen übergeben werden. Kompensation tritt an die Stelle des Heimzahlens (siehe Kasten).
Diese lokalen Friedensprozesse wurden verstärkt durch Einbeziehung christlicher Elemente. Die Bevölkerung Bougainvilles in der großen Mehrheit Katholiken ist streng gläubig. Aus diesem Grund spielten Kirchenvertreter auf lokaler Ebene eine wichtige Rolle in der Friedenskonsolidierung. Sie bahnten mit ihrem Engagement an vielen Orten die Friedensprozesse an. Deshalb waren für deren erfolgreichen Abschluss auch nicht allein traditionelle Friedenszeremonien, sondern auch gemeinsame Gottesdienste der ehemals verfeindeten Gruppen von hoher symbolischer Bedeutung.
Entscheidend für den Erfolg war, dass Versöhnungsprozesse in den einzelnen Orten stattfanden, aber zugleich mit der nationalen politischen Ebene verbunden waren. Vertreter der Zivilgesellschaft und traditionelle Autoritäten waren in recht großer Zahl bei allen wichtigen Verhandlungsrunden zugegen; Frauengruppen hatten dabei starken Einfluss, denn in den matrilinear organisierten Gemeinschaften auf Bougainville haben Frauen eine starke soziale Stellung.
Die politische Führung und die Menschen Bougainvilles stehen heute vor der schwierigen Aufgabe, tatsächlich "Staat machen" zu müssen, zunächst für ein autonomes, in 10 bis 15 Jahren womöglich ein unabhängiges Bougainville.
Die künftige Entwicklung auf Bougainville wird auf einer Verbindung von modernen staatlichen und traditionellen Institutionen und Verfahren beruhen müssen. Letztere haben sich in der "staatslosen" Zeit des Krieges und bei der Konsolidierung des Friedens in der Nachkriegsphase bewährt. Nachdem sich nämlich der Staat seit Beginn des Krieges von Bougainville hatte zurückziehen müssen und die BRA-Führung nicht in der Lage war, neue staatliche Strukturen aufzubauen, ging die Verantwortung für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung auf die vor-staatlichen Institutionen über. Diese erlebten eine Renaissance.
Vielerorts gelang es Räten von traditionellen Oberhäupter, die Verwaltung und den Schutz ihrer jeweiligen lokalen Gemeinschaften zur Zufriedenheit der Gemeinschaftsmitglieder zu organisieren und ihre Dörfer zumindest zeit- und teilweise aus dem Kriegsgeschehen heraus zu halten. In der Übergangsphase vom Krieg zum Frieden spielten sie oft entscheidende Rollen. Diese positiven Erfahrungen der Menschen mit ihrer traditionellen Form von Regierung in Krieg und Nachkrieg haben dazu geführt, dass es heute ein starkes Bedürfnis gibt, kastom die traditionellen Strukturen und Verfahren in die Staatsbildung mit einzubeziehen. Kastom sorgt für ein Regieren, das dicht an den Menschen ist, gekennzeichnet durch ein hohes Maß an Teilhabe und Konsensorientierung, sind doch die Chiefs und Ältesten darauf angewiesen, in stetiger Rücksprache mit ihren Leuten zu handeln.
In den Friedenabkommen wurde die Bedeutung von kastom für die Friedenskonsolidierung explizit gewürdigt, und in die Autonomie-Verfassung wurden traditionelle Institutionen ganz bewusst prominent aufgenommen. So wird den Ältestenräten in der Verfassung die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung im lokalen Rahmen zugewiesen. Auch die Rechtsprechung liegt weitgehend in ihren Händen, sie soll den Prinzipien lokaler wiedergutmachender Gerechtigkeit statt den westlichen Regeln der Strafjustiz folgen. Die Polizei wird auf Gemeindeebene organisiert und zur engen Zusammenarbeit mit den Ältestenräten verpflichtet. Der Staat gibt vom Kernbereich seiner Kompetenz, nämlich der Rechtsordnung und ihrer Durchsetzung, erhebliche Teile an die lokalen Gemeinschaften ab.
Zudem werden Elemente aus den basisdemokratischen Gepflogenheiten dieser Gemeinschaften in den Staatsaufbau übernommen; gewählte Abgeordnete können etwa während einer Legislaturperiode wieder abgewählt werden, wenn sie sich in den Augen der Gemeinschaft als unfähig erweisen. Schließlich soll der Autonomen Regierung Bougainvilles ein beratendes Gremium aus den Ältesten zur Seite gestellt werden. Regierung, Parlament und alle Staatsbediensteten werden von der Verfassung auf die Achtung, Pflege und Förderung von kastom verpflichtet. Höchstmögliche Einbeziehung der Bevölkerung und das Streben nach Entscheidungen im Konsensverfahren, die sich im Friedensbildungsprozess bewährt haben, sollen nunmehr auch Leitlinien der Staatsbildung werden.
Zwar ist ein solches Gewicht von kastom mit westlichen Vorstellungen von repräsentativer Demokratie und Menschenrechten nicht leicht in Einklang zu bringen, die Legitimität staatlicher Strukturen lässt sich damit aber deutlich stärken. Die Menschen sind eher bereit, einen Staat anzuerkennen, der in den lokalen Traditionen gründet, als einen von außen importierten Staat, wie es der koloniale und nachkoloniale Staat waren. Darüber, wie stark oder schwach ein Staat ist und damit darüber, wie fähig er ist, Gewaltkontrolle auszuüben und einen Rahmen für gewaltlose Konfliktaustragung zu bieten hängt letzten Endes davon ab, ob die Bürger ihn als legitim betrachten. Auf Bougainville ist auf Grund der gemeinsamen bitteren Erfahrung des Kriegsleids und der gemeinsamen positiven Erfahrung der Friedensbildung eine "bougainvilleansche Identität" gewachsen, die Staatsbildung leichter machen könnte als andernorts wenn der Weg der Verbindung von kastom und modernen Verfahren auch jetzt weiter verfolgt wird.
aus: der überblick 02/2006, Seite 80
AUTOR(EN):
Volker Böge
Dr. Volker Böge ist Friedensforscher und Historiker am Bonn International
Center for Conversion (BICC). Zur Zeit arbeitet
er als Gastforscher beim Australian Centre for
Peace and Conflict Studies (ACPACS), der Universität
von Queensland, Brisbane, Australien.