Bulgariens Schwierigkeiten mit der Transformation
Fremde sind umso fremder, je ärmer sie sind.
H. M. Enzensberger, Die große Wanderung
Nichts macht so bitter wie das Gefühl, nicht willkommen zu sein.
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft
Der Unterschied zwischen West- und Osteuropa lässt sich derzeit vielleicht am ehesten durch sprechende Details beschreiben. So gibt es im Westen Intellektuelle, Melancholiker und schwarze Romantiker, die auf alte Friedhöfe gehen, um einen morbiden Drang zu befriedigen, nostalgischen Gefühlen nachzuhängen oder einfach nur die Ruhe einer größeren Parkfläche zu genießen, die in der Beschleunigung des modernen Lebens an fast allen anderen Plätzen verloren gegangen ist. Im Osten geht man indes nur auf den Friedhof, wenn man tot ist oder jemanden zu Grabe tragen muss. Ansonsten ist der Friedhof in Ost- und Südosteuropa ein ziemlich unheimlicher, wenig feierlicher Ort, ein Wald aus Steinen mit aufgeklebten Bildern der Toten.
von Tomas Frahm
Auf manchen Gräbern stehen kleine Plastikschälchen mit Brot und Wein, wovon aber wohl eher die Raben und die streunenden Hunde kosten als die Seelen der Toten, die sich so ist das hier noch nie ganz vom Leben, von den Hinterbliebenen, von der Sippe lösen können. Denn eine Seele leidet auch nach dem Tod des Körpers, dem sie Leben eingehaucht hatte, weiter unter der Trennung.
Die Baracke, in der ich mich zur Nachfeier einfinde, gleicht einem Gebäude aus dem Zigeunerghetto. Die Kapelle wirkt schnell zusammengehauen aus Spanplatten wie eine lebensgroße Laubsägearbeit. Die Särge werden rüde in die Leichenhalle hinein- und wenig später wieder herausgetragen wie bei jedem anderen Umzug auch. Und wieder sind es Zigeuner vom Stamm der Roma, die mit Spaten und Schaufeln rechteckige Löcher in die schwarze, fettige Erde am Rande des Nordfriedhofs der bulgarischen Hauptstadt Sofia stechen. Ja, hier ist der Friedhof noch die nackte Wahrheit über das Leben, und sie ist schlicht und unbarmherzig: Es verläuft tödlich. Und das allzu oft früher als geplant.
In den Jahren der Transformation seit 1989 gilt dies gleich in doppelter Hinsicht: Da in Bulgarien beispielsweise ein Standardbegräbnis unter 400 Euro kaum zu haben ist die Grabmiete von bis zu 1500 Euro für acht Jahre nicht eingerechnet , ist dies bei einem monatlichen Durchschnittslohn von rund 150 Euro eine finanzielle Katastrophe. So laufen die Tränen der Hinterbliebenen zu recht aus beiden Augen. Zwar stöhnt die alte Frau, die in meinem Blockeingang den Treppenflur putzt, bei jeder Begegnung: Niama shiwot Es gibt kein Leben!, aber es ist besser, weiterzuleben und für ein paar Lewa pro Woche weiter zu putzen, als sich zum Sterben hinzulegen, weil der Tod unbezahlbar geworden ist. Kein Wunder, dass ein Deutscher wie ich, der versucht, Bulgarien zu begreifen, als erstes aufgehört hat, zu glauben, Widersprüche seien etwas, das sich ausschließt. Stattdessen habe ich begonnen, in Paradoxen zu denken: Sowohl entweder als auch oder.
Doch die nackte Wahrheit nimmt noch nicht einmal auf Analysen dieses an Zynismus grenzenden Kalibers Rücksicht: Die Menschen sterben einfach. Trotzdem. Ungefragt. Aus Not. Sie sind verhungert, erfroren, an Drogen oder in Verkehrsunfällen gestorben oder an Krankheiten, für deren Behandlung sie dem schlecht bezahlten Chirurgen an der staatlichen Klinik unter der Hand 1000 oder 2000 Lewa umgerechnet etwa 500 beziehungsweise 1000 Euro hätten zuschieben müssen. Denn die wirtschaftliche Talfahrt der Übergangsländer war rasant. Die Anarchie oder vornehmer ausgedrückt: Deregulierung , die in fast allen Lebensbereichen grassierte, war nicht minder total als der Totalitarismus zuvor. Keine Sicherheit nirgends. Die offiziell nicht registrierte reale Arbeitslosigkeit erreichte zeitweilig 30 Prozent, unter den Minderheiten, vor allem den unqualifizierten Roma, ging sie auf 70 Prozent zu. Die Noch-Nicht-Arbeitslosen duckten vor der Willkür ihrer Chefs, weil sie täglich ihre Entlassung befürchteten.
Der Lebensstandard der meisten Bulgaren hat erst heute, eine halbe Generation nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, annähernd wieder das Niveau des Wendejahres erreicht auch wenn die Zeichen der wirtschaftlichen Genesung nicht zu übersehen sind. An den Stadträndern wachsen die Business-Center, die Lager und Großmärkte. Hier weideten noch bis um die Jahrtausendwende alte Leute ihre Kühe und Schafe im Schatten der gewaltigen Plattenbau-Schlafstädte. So als seien sie einem Traum von der guten, alten Zeit entsprungen, der hier manche Träne nachgeweint wird.
Wenn man wissen will, wann der Tiefpunkt erreicht war, dann braucht man nur auf die Grabsteine aus echtem oder künstlichem Marmor zu schauen: Überzufällig viele Inschriften darunter die Namen erschreckend vieler junger Leute tragen das Todesjahr 1995, ein Jahr nach der Zerschlagung der letzten landwirtschaftlichen Kooperativen. In deren Folge verarmten viele bulgarische Türken und viele Roma strömten in die Städte. Die Ghettos entstanden, ein Jahr vor der Hyperinflation, die im Winter 1996/97 auf über 1000 Prozent anstieg und selbst die protestscheuen Bulgaren in einer Aufwallung des Volkszorns dazu bewegte, ihr Parlament anzuzünden, in dem viel zu viele Abgeordnete 240 Deputierte bei nur 7,8 Millionen Bulgaren viel zu wenig Arbeit leisteten. Bis bei vorgezogenen Neuwahlen der zu Unrecht gescholtene Christdemokrat und Finanzexperte Iwan Kostow noch 1997 den Lew an die D-Mark koppelte, Verträge mit dem Internationalen Währungsfonds abschloss, einen eisernen makroökonomischen Stabilisierungskurs fuhr und die kompromisslose Westorientierung einleitete. Er machte den EU- und NATO-Beitritt zum parteiübergreifenden politischen Konsens.
Wenn wir verstehen wollen, warum die ehemaligen kommunistischen Länder Ost- und Südosteuropas so große Probleme mit der sozialökonomischen Transformation haben von den Auflagen der EU-Kommission gar nicht zu reden dann genügt es nicht, die allfällig bekannten Phänomene Korruption, Überindustrialisierung bei vollkommen veralteter, nicht mehr konkurrenzfähiger Technologie und Überbürokratisierung heranzuziehen. Es genügt auch nicht, den Chip in den Köpfen der Menschen zu wechseln, wie es der bis August 2005 amtierende Ministerpräsident Simeon Sakskoburggotski einmal frustriert gesagt hatte. Auch wenn der Witz aus Sozialistenzeiten: Sie machen uns vor, dass sie uns bezahlen, und wir machen ihnen vor, dass wir arbeiten noch immer zu einem guten Teil wahr ist. Heute wird er angesichts oft Monate lang nicht ausgezahlter Löhne in den restlichen großen Staatsbetrieben in der Variante erzählt: In Amerika arbeiten sie, wenn sie gut bezahlt werden. In Bulgarien arbeiten sie. Wenn sie bezahlt werden gut.
Nein, mit der gesonderten Feststellung absoluter Tatbestände kommt man nicht weiter. Man muss und dies macht die Bewertung des faktischen Bewältigungsgrades der Tripelaufgabe von Demokratisierung, Aufbau der Privatwirtschaft und Reform aller rechtsstaatlichen Strukturen in Justiz, Exekutive und Legislative sowie unabhängiger demokratischer Institutionen so schwierig Politik, Wertschöpfung und Gesellschaft sowohl im Ganzen betrachten als auch in ihrem Verhältnis zueinander. Dabei fällt es einem wie Schuppen von den Augen: Demokratie kostet ja Geld, viel Geld! Diese Wahrheit von frustrierender Nüchternheit und Plattheit können wir Deutschen nur schwer nachvollziehen und noch schwereren Herzens einräumen. Wir müssen es ja auch nicht. Denn wir haben Geld. Noch immer. Genug Geld, um unsere Demokratie zu bezahlen: den Bundestag und die Diäten der Abgeordneten, die Residenz und die Reisen des Bundespräsidenten, die Ministerien und ihre Angestellten, und die staatlichen Ämter und Institutionen, die uns informieren oder verwalten. Unserer horrenden Staatsverschuldung das ist das Entscheidende steht noch immer ein wirtschaftliches Bruttosozialprodukt gegenüber, das sie egalisiert.
Der EU-Beitritt der zehn neuen Länder im Mai 2004 unter ihnen acht junge Demokratien aus Osteuropa war deshalb ein gelinder Schock. Denn deren gesammelte Wirtschaftskraft erreichte noch nicht einmal fünf Prozent der Wertschöpfung im bisherigen Europa der Fünfzehn. Und wenn im Jahre 2007 oder 2008 Rumänien und Bulgarien beitreten, wird der Schock noch einmal ein bisschen größer ausfallen. Das derzeitige Bruttoinlandsprodukt Bulgariens beträgt bei Erscheinen dieses Artikels immer noch kaum mehr als 20 Milliarden Euro. Das ist gerade einmal doppelt so viel wie der Haushalt von Hamburg.
Das wäre nicht weiter schlimm, wenn das Verhältnis zwischen den Kosten für die demokratische Infrastruktur und den Leistungen der Wirtschaft sich wenigstens annähernd so darstellen würde wie in Deutschland. Dies ist jedoch alles andere als der Fall. Eine einzige Vergleichszahl genügt, um zu illustrieren, wovon ich spreche: Ein befreundeter bulgarischer Schriftsteller, der sich seit jeher intensiv mit den Machtstrukturen Bulgariens auseinander gesetzt hatte, rechnete mir vor, dass ein einziger Abgeordneter dem bulgarischen Staat so viel kostet wie 800 Rentner! Und damit hätten wir weder die Ministerien und ihre Beamten und Angestellten berücksichtigt, noch die übrigen Beschäftigten im Staatsdienst oder in den im Staatsbesitz verbliebenen Betrieben.
Viele haben aber nicht das Glück, in akzeptabel bezahlten Staatsstellen zu arbeiten. Sehr viele dagegen das Pech, überhaupt nicht gegen Bezahlung arbeiten zu können. Offiziell sind 9,2 Prozent der Erwerbsfähigen arbeitslos. Tatsächlich das weiß hier jeder sind es viel mehr. Menschen, die sich gar nicht erst arbeitslos melden, um nicht in die Mühlen der Bürokratie zu geraten oder aus alter Angst vor dem Moloch Staat. Viele von ihnen sind ausgewandert oder ernähren ihre Familien unter Ausnutzung der Möglichkeit, drei Monate in den Schengen-Staaten zu bleiben, mit halblegaler oder illegaler Arbeit.
Unter den Hunderttausenden, die ganz ausgewandert sind, befinden sich viele der best qualifizierten Absolventen bulgarischer Elite-Universitäten, die bei einem Verbleib im Lande vermutlich als Kellner oder Taxifahrer hätten arbeiten müssen und es daher vorgezogen haben, ihr Glück in Kanada, USA, Südafrika, Deutschland oder England zu versuchen. Von Familiengründung kann bei den dabei erzielbaren Einkommen keine Rede sein, und von den Perspektiven für junge Frauen möchte man lieber nicht sprechen. Etwa ein Drittel der überhaupt Beschäftigten arbeitet in der Schattenwirtschaft und führt keine Sozialbeiträge ab. Ein Großteil der auf dem offiziellen Arbeitsmarkt Beschäftigten bezieht das steuer- und abgabenfreie Mindestsalär von derzeit 160 Lewa. Zumindest steht das im Arbeitsvertrag auch wenn sie den Rest ihrer mit dem Arbeitgeber vereinbarten Bezüge unter der Hand erhalten. Auch sie zahlen also keine Steuern.
Schon an dieser groben Skizze der sozialökonomischen Lage und der Folgen für die staatliche Sozialversicherung dürfte klar geworden sein, vor welchem Hintergrund sich der Demokratisierungsprozess in Transformationsländern wie Bulgarien vollziehen muss. Schlicht gefragt: Wovon soll man ihn bezahlen? Man könnte sagen, dass die Demokratie wie sie in der neuen bulgarischen Verfassung vom 12. Juli 1991 makellos und nach westlichem Muster festgeschrieben wurde bisher eher ein Postulat als eine institutionell verankerte und funktionierende Realität ist. Wie sich die schwarze Katze in den Schwanz beißt, ist schwer zu beschreiben. Man kann nicht mehr bestimmen, was Ursache und was Wirkung ist. In einer hilflosen Annäherung könnte man es auf paradoxe Weise so ausdrücken: Genau jene Deregulierung und die von ihr erzeugte Unsicherheit, die nach ordnungspolitischen Maßnahmen und wirtschaftsbegünstigenden Gesetzen geradezu schreien, verhindern eben diese Maßnahmen.
Die Abgeordneten der Volksversammlung, die in ihren etwa zwanzig parlamentarischen Ausschüssen dem Postulat einer repräsentativen Demokratie einen festen Rahmen geben müssten, tun dies offiziell zwar durchaus, sind aber in keiner Weise in der Lage oder auch nur daran interessiert, zu kontrollieren, ob eine unbestechliche Justiz und eine unbestechliche Exekutive ihren Gesetzen auch zur Wirksamkeit verhilft. Sie gehen vielmehr in der typisch bulgarischen Mischung aus Misstrauen und Existenzangst davon aus, dass sie mit viel Glück genau eine Legislaturperiode, vier Jahre also, Zeit haben, ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen und fürs Leben ausgesorgt zu haben. Das macht sie ebenso wie die Beamten in Justiz und Verwaltung in hohem Maße anfällig für Bestechungen. Bei einer anonymen Umfrage unter Beamten vor der letzten Parlamentswahl im Juni 2005 gaben fast die Hälfte der Befragten an, dass sie jene Partei wählen wollten, die laut den Prognosen der Umfrageinstitute die Wahlen voraussichtlich gewinnen würde aus Angst vor Entlassung oder Suspendierung vom Dienst.
Vladimir Zarev, einer der wenigen Schriftsteller des Landes, denen es gelungen ist, die Lage sowohl vor als auch nach der Wende kompromisslos auf den Nenner zu bringen, schreibt zu dieser Art privaten Vorsorgedenkens: Der Bulgare ist von Natur aus Individualist. Dazu hat ihn seine Geschichte gemacht. Er verachtet alles Kollektive. Parteien, Institutionen und sogar die Staatlichkeit. Denn von diesen hat er nichts erfahren als Schlechtigkeit und Gemeinheit. In diesen Worten drückt sich aus, dass das Volk und seine politischen Repräsentanten nicht viel miteinander im Sinn haben: Die Politiker leben auf Kosten des kleinen Mannes. Der kleine Mann versucht, sich durch bauernschlaues Umgehen der erdrückenden Auflagen einer vornehmlich an ihrer Selbsterhaltung interessierten Bürokratie, der es an der für eine Demokratie so wichtigen Transparenz vollkommen fehlt, durchzubringen. Die Politiker haben nicht und hatten es in Bulgarien nie vor, das ihnen ausgesprochene Vertrauen zu rechtfertigen.
Die Regierten fühlen sich verraten und verkauft und suchen sobald sie unternehmerisch aktiv werden oder auch nur ein Haus bauen wollen ihrerseits durch Bestechung die erdrückenden und immer teurer zu bezahlenden gesetzlichen Auflagen zu umgehen. Man kann verallgemeinernd sagen: Die Gesetze dienen nicht der Ordnung, sondern der Eintreibung von Steuern und Gebühren, Strafen und Akzisen, und schon aufgrund ihrer Widersprüchlichkeit mindern sie die Korruption nicht etwa, sondern vermehren sie eher. Bei einer breit angelegten Erhebung durch das Sozialforschungsinstitut Witoscha Research zwischen Frühjahr und Herbst 2004 wurde nicht nur die Zunahme der Korruption konstatiert, sondern auch eine Erhöhung der Bestechungssummen woraus makabrerweise der Schluss gezogen wurde, dass sich das verfügbare Haushaltseinkommen der Bulgaren erhöht haben muss!
Die Politikmüdigkeit ist im Lande entsprechend groß. Die Wahlbeteiligung bei Parlamentswahlen fällt seit der Wende kontinuierlich und erreichte bei den letzten Parlamentswahlen im Juni 2005 mit 55 Prozent den tiefsten Stand seit 1990. Bei den letzten Kommunalwahlen erreichte sie im Schnitt kaum 30 Prozent. Von Sauberkeit und Ordnung reden die Parteien immer nur so lange, wie sie noch nicht ins Parlament eingezogen sind. Auch die neue nationalistische law-and-order-Partei Ataka, die von null auf über acht Prozent kam, wird nicht lange eine Ausnahme von der Regel bilden. Sie hat in übelster populistischer Manier aus der Unbelangbarkeit der politischen Klasse geschlossen, dass politisch am meisten profitiert, wer den Unmut der anständigen Leute gegen jene richtet, die sich als Sündenböcke am ehesten eignen, weil sie am ärmsten sind: die große Minderheit der Roma. Die fällt durch Kleinkriminalität auf, ist dem sauberen bürgerlichen Selbstbild der Bulgaren hinderlich und steht durch ihren Kinderreichtum im Ruf, die Sozialkassen des Staates zu missbrauchen, aus denen auch die Bulgaren gern mehr Unterstützung erhielten. Was bei einem durchschnittlichen Kindergeld von rund zehn Euro im Monat mehr als verständlich ist.
Wo Geld derart durch Fehlen glänzt, sind einseitige Schuldzuweisungen wie sie in Bulgarien übrigens in beide Richtungen ausgesprochen werden: von den Roma an die Adresse der Bulgaren und umgekehrt ebenso fehl am Platze wie hehre moralische Standpunkte. Unter solchen Umständen wird auf bittere Weise deutlich, dass universale moralische Ansprüche nicht einlösbar sind und die Parteinahme für eine Bevölkerungsgruppe immer nolens volens Parteinahme gegen eine andere ist.
Vor diesem Hintergrund erst wird begreiflich, wie es kommt, dass zwischen der Erfüllung der Anforderungen für den EU-Beitritt und der gesellschaftlichen Realität Bulgariens eine so große und kaum zu begreifende Lücke klafft. Dies betrifft, nachdem die Justizreform auf dem Papier vor dem Abschluss steht, insbesondere die Frage der Minderheiten Bulgariens, die sich quantitativ auf etwa 15 Prozent der Bevölkerung belaufen. An ihnen wird besonders deutlich: Es ist eines, in der Verfassung festzuschreiben, dass der Staat sich aktiv um die Gewährleistung ihrer kulturellen Identität kümmern wolle, und etwas ganz anderes, dies auch in entsprechenden Programmen und Maßnahmenpaketen umzusetzen weil das Geld kostet.
Bis zur Jahrtausendwende nutzten bulgarische Politiker daher geschickt die ethnischen Pogrome im zerfallenden Jugoslawien, um den ethnischen Frieden im eigenen Lande nach dem Ende der Türkenverfolgungen und der anti-türkischen Propaganda des Staatschefs Todor Shivkov zwischen 1956 und 1989 herauszustreichen und sich dafür von der EU belohnen zu lassen. Man sprach griffig vom bulgarischen ethnischen Modell, das im Bericht des Ministerrates zur Lage der inneren Sicherheit im Jahre 1999 angesichts der Kosovo-Krise bestimmt wurde als Auffassung, die den Akzent auf Zusammenarbeit und Integration legt und nicht auf die Selbstidentifikation der einzelnen Ethnien.
Doch genau dieses so friedlich daherkommende verbale Fahnenschwenken hat Michail Ivanov, Staatssekretär für demografische und Minderheitenfragen, in einer wegweisenden Broschüre unter dem Titel Minderheiten in Bulgarien 2003 als nicht verfassungskonform enthüllt. Denn dieser Integrationsbegriff wurde, wie er in seiner Analyse der Minderheitenfrage vor dem Hintergrund der neuen Verfassung aufzeigt, von einem ethnischen Nationalbegriff abgeleitet; die bulgarische Verfassung jedoch definiert das Land als Willensnation, welche die Zugehörigkeit ihrer Bürger nicht vom Grad ihrer Konvergenz zur slawisch-orthodoxen Leitkultur abhängig macht. Der Begriff Leitkultur soll hier kein Seitenhieb auf die entsprechende Diskussion in Deutschland sein, sondern erhellt Artikel 13, Absatz 3 der bulgarischen Verfassung von 1991, in dem es heißt: Die traditionelle Religion in der Republik Bulgarien ist das östlich-orthodoxe Glaubensbekenntnis.
In einem früheren Aufsatz, den er 2001 zusammen mit Ljutvi Mestan, dem stellvertretenden Vorsitzenden der bulgarischen Minderheitenpartei Bewegung für Rechte und Freiheiten in der liberalen Vierteljahrs-Zeitschrift Demokratische Rundschau veröffentlichte, schrieb Ivanov: Man kann nicht von Zusammenarbeit und Integration reden, und schon gar nicht von ethnischem Frieden, wenn der Akzent nicht auch auf Selbstidentifikation gelegt wird. Denn erst dies bedeutet, dass das Recht des Einzelnen, anders zu sein und sich als Anderer zu entwickeln, garantiert ist.
Genau hier jedoch, wo das verführerische Wort Garantie die freie Selbstbestimmung der ethnischen Minderheiten Bulgariens vor allem jener 750.000 Menschen, die sich bei der letzten Volkszählung (Zensus 2001) als Türken und jener 370.000 Menschen, die sich als Roma bezeichneten zu einer reinen Frage politischer Willensbildung macht, schließt sich der Teufelskreis zu unserer bitteren Eingangsfeststellung, dass Demokratisierung und Partizipation aller Ethnien an der Macht und ihrer Kontrolle auch eine Geldfrage ist. Denn bevor der Unterricht in türkischer, armenischer, hebräischer und der Roma-Sprache als Ausdruck einer pluralistischen, in freier Selbstbestimmung gewählten kulturellen Selbstbestimmung überhaupt Sinn macht, muss erst einmal das vorgängige demokratische Ideal des mündigen Bürgers Realität werden. Ein mündiger Bürger aber muss lesen können. Und wenn wir hören, dass der unter dem real existierenden Sozialismus fast besiegte Analphabetismus in erschreckendem Umfang zurück gekehrt ist und es leider kein Ausdruck des Rassismus ist, wenn man die Mehrzahl der Analphabeten unter den Roma vermutet dann hat man eine Vorstellung davon, wie groß die Anstrengungen sein müssen, um eine nicht-repressive Integration der Minderheiten in freier kultureller Selbstbestimmung zu realisieren.
Ja, Demokratie ist teuer. Und wer arm ist, dem kommt sie teuer zu stehen.
aus: der überblick 01/2006, Seite 74
AUTOR(EN):
Tomas Frahm
Tomas Frahm lebt als freier Autor in Sofia, Bulgarien.