Zwischen Bekehrung und Belehrung
Kirchliche Schulen haben in Indien eine 300-jährige Tradition. Sie standen und stehen im Spannungsfeld zwischen Bekehrung und Belehrung, zwischen Kirche und Staat. Einher geht die Frage, wer unterrichtet werden soll: Sollen einzelne bekehrt, wenige zu Gemeindehelfern ausgebildet oder allen eine christliche Geisteskultur und Ethik vermittelt werden?
von Eva-Maria Eberle
Diese drei Möglichkeiten entsprechen auch der historischen Entwicklung der Missionsschulen.
Obwohl es in Indien schon seit dem dritten Jahrhundert christliche Gemeinden gab und ab Anfang des 16. Jahrhunderts katholische Missionare zusammen mit portugiesischen Händlern und Kolonialsoldaten ins Land kamen, waren es am Anfang des 18. Jahrhunderts Protestanten, die im Zuge ihrer Missionstätigkeit auch systematisch Schulen einrichteten. Obwohl die Missionsschulen nur als Hilfsmittel für die Vorbereitung auf die Taufe und schließlich für die Ausbildung von einheimischen Gemeindehelfern gedacht waren, sorgten sie für die Alphabetisierung weiter Teile der indischen Bevölkerung.
Anfang des 18. Jahrhunderts gründeten die Missionare Ziegenbald und Plütschau der dänisch-halleschen Mission eine Schule, weil sie so der vorherrschenden Armut der Menschen begegnen wollten. Mit der Schule sollten die Armen und Ausgegrenzten erreicht werden. Ihnen, den Kastenlosen und den Menschen unterer Kasten, verwehrte das brahmanisches System, selbst so etwas wie Bildung zu entwickeln. Ziegenbald und Plütschau stellten ihren Missionsauftrag hinter ihre sozialen Anliegen zurück und ernteten dafür harsche Kritik aus Deutschland und Dänemark. Denn die Muttergemeinden waren eher bereit für eine evangelistische Arbeit als für eine Ausbildung Geld aufzubringen. Für die Finanzierung der Schule war dies sehr bedeutend, da sie neben einem geringen Schulgeld von Kollekten und Spenden der Heimatgemeinden lebten.
Begonnen hatte die Schule für Randgruppen der Gesellschaft wie die Dalits - die Kaste der Unberührbaren - aber auch für Mädchen, was damals revolutionär war. Auch die Hindus aus höheren Kasten, die sich von der modernen Bildung weitere Vorteile in der Gesellschaft versprachen, besuchten bald die Missionsschulen. Von der indischen Oberschicht traten nur wenige zum Christentum über, hingegen weitaus mehr Menschen der benachteiligten gesellschaftlichen Gruppen. Trotzdem mussten die Missionare einsehen, dass die Schule zur Bekehrung wenig beitrug.
1836 wurde in Indien eine britische Bildung in englischer Sprache eingeführt. Propagiert wurde dies von britischen Missionaren, noch mehr aber von britischen Philanthropen. Dadurch wurden Universitäten geschaffen. Aber diese Forcierung der britisch geprägten Bildung löste bei den Indern auch Gegenreaktionen aus. Hindus begannen schon Mitte des 19. Jahrhunderts, eigene Schulen und Universitäten zu gründen. Der Höhepunkt dieser Bewegung war Anfang des 20. Jahrhunderts erreicht, als die indische Unabhängigkeitsbewegung sich gegen das fremde Bildungswesen richtete. Die Wirkung der Missions-und Regierungsschulen war also paradoxerweise so, dass sie eine kulturelle Renaissance in Indien hervorriefen. Erst durch die Schulen und Universitäten setzten sich die Inder neu mit ihren alten religiösen Texten auseinander. So entstand ein eigenes indisches Bildungswesen.
Zunehmend unterstützten auch die Kolonialregierungen die Missionsschulen finanziell. Allerdings knüpften sie an ihre Hilfe ein Mitspracherecht, denn sie wollten ausgebildete Einheimische für ihren Verwaltungsapparat: Sie wollten in Fragen des Lehrplans und des Fächerkanons, der Prüfungsinhalte und der Abnahme von Prüfungen mit einbezogen werden. Außerdem verlangten sie, dass nicht mehr in den einheimischen, sondern in der Kolonialsprache unterrichtet werden sollte.
In Indien war es aber keineswegs so, dass nur Missionsschulen von der Kolonialverwaltung finanziell unterstützt wurden. Auch Schulen, die Hindus oder Muslime oder andere gesellschaftliche Gruppen einrichteten, wurden ab 1857 durch das Grant in Aids-System unterstützt, so dass die Zahl der nicht-christlichen Schulen stieg.
Was mit der Bibel als Textbuch und als Vorbereitung auf die Taufe begann, entwickelte sich zu einer Bewegung für die Alphabetisierung. Wie in Indien waren im 19. Jahrhundert auch in Afrika und im pazifischen Raum die Missionsschulen wegweisend für die Verbreitung eines modernen Bildungssystem. Sie sorgten für die Ausbildung einer bürgerlichen Elite und behielten lange ein Monopol auf institutionelle Bildung, das auch nach der Unabhängigkeit weiterhin einen bedeutenden Teil des Bildungssystems ausmachte.
Missionare waren die ersten, die Sprachen oraler Gesellschaften verschriftlichten. Oftmals versäumten sie es aber, einheimische Traditionen der Wissensvermittlung zu nutzen, sondern verwendeten die ihnen bekannten Lehrmethoden und das Bildungssystem ihrer Herkunftsländer.
Da Missionsschulen sich besonders um gesellschaftliche Randgruppen bemühten, veränderten sie die bestehende soziale Ordnung. Die indische Sozialordnung war eine brahmanisch geprägte, äußerst rigide Kastengesellschaft. Frauen etwa hatten keinerlei Recht auf Bildung. So wurden christliche Schulen innovative Orte, die die hinduistische Gesellschaft herausforderten, indem sie diese mit anderen - christlichen oder aufklärerischen Werten - konfrontierten.
Auch heute erhalten Benachteiligte eine Ausbildungschance an kirchlichen Schulen. Gleichzeitig eilt ihnen der Ruf einer ausgezeichneten Bildung voraus, weshalb viele Personen der heutigen Elite in Verwaltung, Politik und Wirtschaft, die selbst in Missionsschulen ausgebildet wurden, ihre Kinder ebenfalls auf diesen Bildungsweg schicken.
Es ist die gute Reputation der Schulen, die selbst nationalistische Hinduisten ihre Kinder auf christliche Schulen schicken lässt, obwohl sie gleichzeitig politisch gegen Christen Stimmung machen. Der Ministerpräsident der hinduistisch-nationalen Partei BJP im Bundesstaat Gujarat Keshubhai Patel beispielsweise lässt seinen Enkelsohn in einer katholischen Schule unterrichten. Auch andere BJP-Politiker nutzen das breit gefächerte Bildungsangebot für ihre Kinder: etwa der Minister für Verkehr, der für Fischerei und der für die Jugend. Gleichzeitig werfen die Politiker den christlichen Schulen aktive Missionierungsversuche vor. Während aber die Kinder der hinduistischen Elite, so argumentieren sie, aus ihrer Geschichte und Tradition heraus gegen diese Missionierungen immun seien und damit unbeschadet christliche Schulen besuchen könnten, gelte das für die arme Bevölkerung nicht. Die Hindu-Bevölkerung aus ungebildeten Familien der unteren Kasten könnten den Christianisierungsversuchen nichts entgegenstellen und müssten deshalb vor solchen Schulen bewahrt werden.
aus: der überblick 04/2002, Seite 38
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Eva-Maria Eberle:
Eva-Maria Eberle ist Redakteurin beim überblick.