Wenn der Süden an Gewicht gewinnt
Ein neues Selbstbewusstsein der Entwicklungsländer zeigte sich auf der Konferenz für Handel und Entwicklung der Vereinten Nationen (UNCTAD XI) in São Paulo. Sie wollen eine “neue Geographie des Welthandels” schaffen und die teils noch aus der Kolonialzeit stammenden Strukturen verändern.
von Jürgen Duenbostel
Der Minister bat zum Konzert. Gilberto Gil, der populäre Sänger und Kulturminister Brasiliens, hatte die 2800 Delegierten der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD) eingeladen. Er wollte sie am Auftaktabend der Mammutveranstaltung in São Paulo durch einige seiner mitreißenden Lieder in Aufbruchstimmung versetzen. Nach den Dissonanzen zwischen Industrie- und Entwicklungsländern, die im Sommer 2003 zum Scheitern der Welthandelskonferenz im mexikanischen Cancún geführt hatten, waren die Vertreter der reichen wie der armen Nationen sichtlich bemüht, den Gesprächsfaden nicht endgültig abreißen zu lassen.
Das Leitmotiv der UNCTAD XI-Konferenz (13. bis 18. Juni 2004) - sehr diplomatisch formuliert - ließ dafür genügend Raum: Wie man mehr “Einklang zwischen nationalen Entwicklungsstrategien und globalen Wirtschaftsprozessen” erreichen könne, um Wirtschaftswachstum und Entwicklung zu fördern, das wollten die Delegierten diskutieren. Deutlichere Worte fand Kofi Annan, der Generalsekretär der Vereinten Nationen (UN), dafür in seiner Rede bei der Eröffnung der Konferenz: “Länder die andere drängen, ihren Handel zu liberalisieren, sollten selbst willens sein, dasselbe zu tun. Wenn sie es nicht tun, nennen wir es höflich Unstimmigkeiten, wir könnten es genauso gut Diskriminierung nennen.”
In der Tat ist es mit der Glaubwürdigkeit der Industrieländer nicht weit her. In der Welthandelsorganisation (WTO) drängen sie auf Liberalisierung und Freihandel, also auf den Abbau von Schutzzöllen und Einfuhrquoten anderer Staaten, damit diese ihre Märkte für Konkurrenzprodukte öffnen. Gleichzeitig aber beharren sie auf Einfuhrzöllen und -quoten im eigenen Land und haben vielerlei andere Vorschriften erlassen wie Verpackungs- und Sicherheitsrichtlinien, Hygiene- und Gesundheitsstandards, die von Exporteuren in Entwicklungsländern kaum einzuhalten sind und als nichttarifäre Handelshemmnisse bezeichnet werden können. Damit wollen die Industrieländer eigene Branchen, die gegenüber Schwellen- und Entwicklungsländern nicht mehr wettbewerbsfähig sind - etwa die Landwirtschaft und Bekleidungsindustrie -, vor der Konkurrenz schützen.
Deshalb ist es gar nicht so paradox, wie es zunächst scheint, dass auf der Konferenz in São Paulo viele Delegierte aus Entwicklungsländern sich als hartnäckige Verfechter der Liberalisierung darstellten. Sie forderten von den Industrieländern Freihandel, sprich die Öffnung der Märkte der Reichen für die Waren der Armen.
Solche Differenzen, die auch zum Abbruch der Welthandelskonferenz in Cancún geführt hatten und jetzt im Mittelpunkt der Diskussionen bei der UNCTAD-Konferenz standen, sind nicht gerade neu. Schon vor 3000 Jahren, so betonte Rubens Ricupero, der scheidende Generalsekretär der UNCTAD, habe es Streit gegeben um Zölle und Einfuhrregeln für zwei Produktgruppen: landwirtschaftliche Erzeugnisse und Textilien. Und wenn heute noch nicht einmal diese Fragen gelöst seien, müsse man sich fragen, warum manche Länder so sehr darauf drängten, schon in anderen Bereichen wie in der Frage des intellektuellen Eigentums die nationale Souveränität zu beschränken.
Zwar fordern die Entwicklungsländer von den Industrieländern freien Marktzugang, ihre eigenen Märkte wollen sie aber auch nicht bedingungslos für Einfuhren aus Industrieländern oder aus anderen Entwicklungsländern öffnen, wenn sie befürchten, dass dadurch heimische Produzenten in den Ruin getrieben werden. Sie fordern, dass es keine Einheitsregeln für alle geben dürfe, sondern den Entwicklungsländern genügend politischer Spielraum für eine eigenständige Entwicklungsstrategie erhalten bleiben müsse. Solange eigene Branchen im Wettbewerb mit den Industrieländern noch nicht mithalten könnten, sollten sie vor Billigimporten geschützt werden dürfen.
Im Grunde verfolgen also alle Länder die gleiche Strategie: Für Erzeugnisse und Dienste, bei denen die heimischen Produzenten im Wettbewerb überlegen sind, sollen die anderen Länder ihre Märkte öffnen. Die eigenen Märkte aber sollen für die Waren und Dienste geschlossen sein, bei denen die anderen einen Konkurrenzvorsprung haben.
Mitte des 19. Jahrhunderts haben die Länder des europäischen Kontinents sich wirtschaftlich entwickelt, indem sie ihre jungen Industrien vor billigeren Angeboten aus dem weiter fortgeschrittenen England geschützt und zum Beispiel englische Lokomotiven kopiert haben, ohne Patentgebühren dafür zu bezahlen. Dann folgte Japan diesem Weg, schützte sich vor Importen aus Europa und imitierte bis in die 1960-er Jahre europäische Produkte wie Fotoapparate. Später folgten die so genannten asiatischen Tigerstaaten, jetzt Länder wie China, Brasilien und Indien. Diese Strategie widerspricht zwar dem Modell des reinen Freihandels, war aber für die Länder erfolgreich.
Die Scheinheiligkeit der Industrieländer kritisierte denn auch der Vietnamese Dr. Hafiz Pasha, stellvertretender UN-Generalsekretär und Leiter des Teams des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) bei der UNCTAD-Konferenz: Diese wollten der Dritten Welt nicht erlauben, denselben Weg zu gehen, der sie zum Erfolg gebracht hat. Zwar gebe es Berge von Literatur, dass Handelsliberalisierung Wirtschaftswachstum fördere. Empirische Studien lieferten jedoch keinen überzeugenden Beweis, dass sie automatisch Wachstum zur Folge habe, und noch weniger, dass sie die Armut verringere und die Entwicklung fördere. Liberalisierung müsse also nicht zugunsten der Länder des Südens verlaufen. Viele Länder Afrikas südlich der Sahara und Lateinamerikas hätten als Mitglieder der WTO im Einklang mit deren Regeln seit Anfang der neunziger Jahre ihren Handel drastisch liberalisiert, Importzölle stark gesenkt und Importquoten aufgehoben. Trotzdem stagniere die Wirtschaft in vielen dieser Länder, ihre sozialen Indikatoren hätten sich verschlechtert und es gebe kaum Fortschritt bei der Integration in die Weltwirtschaft.
Im Gegensatz dazu habe Vietnam seit Mitte der achtziger Jahre einen vorsichtigen, schrittweisen Kurs der Reform verfolgt mit staatlichem Handel, Import-Monopolen, Importquoten und hohen Importzöllen für Bereiche der Landwirtschaft und Industrie. Auch sei Vietnam noch nicht Mitglied der WTO. Gleichwohl habe das asiatische Land seit Mitte der achtziger Jahre ein durchschnittliches Wirtschaftswachstum von sechs Prozent im Jahr, der Außenhandel habe zweistellig zugenommen und die Armut sei stark zurückgegangen. Sein Land habe trotz hoher Handelsbarrieren große Summen ausländischer Direktinvestitionen anwerben können und sich schnell in die Weltwirtschaft integriert. Ein anderes Beispiel gegen die herrschende Lehre sei China. Chinas Wirtschaftswachstum sei bereits in den späten siebziger Jahren angestiegen, aber erst in den neunziger Jahren habe das Land begonnen, den Handel stärker zu liberalisieren.
China hat in der Tat seit 1978 eine eigene Entwicklungsstrategie entsprechend der wirtschaftlichen Verhältnisse im Land verfolgt und zwar mit vorsichtiger, schrittweiser Marktöffnung nur in ausgewählten Branchen. Seit damals erzielt das Land ein durchschnittliches Wirtschaftswachstum von 9,4 Prozent im Jahr. Sein Außenhandel (Summe der Im- und Exporte) ist von 20,6 Milliarden US-Dollar im Jahr 1978 auf gut 851 Milliarden Dollar im Jahr 2003 gestiegen. Nach derzeitigen Prognosen wird sich Chinas Sozialprodukt zwischen den Jahren 2000 und 2020 vervierfachen und die Zahl der Armen um Hunderte von Millionen sinken. Von 1981 bis 2004 ist der Anteil der Menschen, die von weniger als einem Dollar pro Tag leben müssen, bereits von 64 auf 17 Prozent zurückgegangen.
Das UNDP hat empirische Studien analysiert und das Ergebnis zur Konferenz in São Paulo vorgelegt. Daraus wird deutlich, dass die erfolgreichen Entwicklungsländer ihre Zölle und Handelsbeschränkungen verringern, wenn sie reicher werden, und nicht reicher werden, weil sie Zölle und Handelsbeschränkungen abbauen. Die Integration in den Weltmarkt sei die Folge, nicht die Voraussetzung für Wachstum und Entwicklung.
Alle Länder allerdings, ob sie einer orthodoxen Liberalisierungslehre folgen oder nicht, möchten am liebsten mehr exportieren als sie importieren und mit Hilfe des Handelsüberschusses Devisenreserven ansammeln. Solche Strategien können jedoch im Weltmaßstab nicht aufgehen. Denn wer etwas ausführen will, muss ein Land finden, das zur Einfuhr bereit ist und seine Importe aus Exporterlösen bezahlen kann. Wenn jedes Land sich vor den Einfuhren der anderen schützt, um die heimischen Arbeitsplätze zu sichern, passiert das, was in den 1930-er Jahren die Weltwirtschaftskrise verschärft, den Welthandel weitgehend zum Erliegen gebracht und letztendlich mit zum Zweiten Weltkrieg beigetragen hat.
Folglich muss es “Verkehrsregeln” für den Welthandel geben. Die Frage ist allerdings, wer diese Vorschriften bestimmt, wer welche Vorteile für sich daraus ziehen kann, wer welche Nachteile erleidet und ob es einen einigermaßen gerechten Ausgleich für diejenigen gibt, die infolge der Regeln mehr Nachteile als Vorteile haben.
Das Ringen um gerechte Regeln dauert schon etliche Jahrzehnte. Bereits im Jahr 1944 wurde eine neue Friedens- Finanz- und Wirtschaftsordnung zwischen den Völkern im Rahmen von neu zu gründenden “Vereinten Nationen” vorbereitet. Man wollte damit künftig Katastrophen wie den zu jener Zeit noch tobenden Zweiten Weltkrieg vermeiden. Damals konnten die meisten der heutigen Entwicklungsländer bei der Festlegung der Regeln noch nicht mitentscheiden, denn sie waren noch Kolonien. Doch im Interesse einer neuen Friedensordnung wollte die Supermacht USA auch die armen Völker berücksichtigen. Mit der “Havanna-Charta”, die schließlich im Jahr 1948 verabschiedet wurde, waren die Grundlagen für eine “Internationale Handels-Organisation” (ITO) gelegt. Diese sollte mit dem 1945 in Kraft getretenen “Internationalen Währungsfonds” (IWF) gleichberechtigt sein und für einen gerechten Welthandel mit Vollbeschäftigung und stabilen Agrar- und Rohstoffpreisen sorgen.
Aber als der damalige US-amerikanische Präsident Harry S. Truman erkannte, dass der Senat das Abkommen ablehnen würde, legte er den Vertrag gar nicht erst zur Ratifizierung vor. So kam die ITO nie zustande. Nur das vorweg im Jahr 1947 verabschiedete Kapitel über Zölle blieb als Einzelabkommen General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) bestehen und wurde mit der Gründung der WTO im Jahr 1995 in diese integriert.
Im GATT hatten die reichen Nationen ihren Vorstellungen entsprechend die Spielregeln ausgehandelt. Als jedoch in den sechziger Jahren die meisten Kolonien unabhängig geworden waren, bildeten die Entwicklungsländer 1964 die “Gruppe der 77" (G-77), die ihre Interessen stärker vertreten sollte. Zeitgleich wurde auf ihr Betreiben die UNCTAD gegründet, die sich als UN-Unterorganisation vor allem den Anliegen der Dritten Welt widmen sollte. Im Gegensatz zu IWF, Weltbank oder GATT erhielt die UNCTAD jedoch kein Recht, Beschlüsse zu fassen. Sie durfte lediglich Empfehlungen aussprechen.
Beflügelt vom Erfolg des OPEC-Kartells einer Reihe von Öl exportierenden Staaten, das im Jahr 1973 durch Produktionskürzungen drastische Ölpreissteigerungen durchsetzen konnte, nutzten die Entwicklungsländer die UNCTAD als Forum, um eine “Neue Internationale Wirtschaftsordnung” (NIEO) zu propagieren. Diese sollte mit Hilfe von Rohstoffabkommen nach Vorbild des OPEC-Kartells Preise und Produktionsquoten für die Hauptexportprodukte der Dritten Welt reglementieren und so deren Exporterlöse auf einem stabilen hohen Niveau halten.
Die Regierungen der westlichen Industrienationen lehnten eine solche Weltwirtschaftsordnung rundweg ab, widersprach sie doch der von ihnen propagierten freien Marktwirtschaft. Sie waren deshalb auch nicht geneigt, Ausgleichslager zu finanzieren, die bei Ernteschwankungen agrarischer Rohstoffe für Preisstabilität sorgen sollten. Aber auch der damalige Ostblock wollte sich nicht an der Finanzierung solcher Abkommen beteiligen. Die ehemaligen Kolonialmächte seien allein dafür verantwortlich, die Ausbeutung zu Kolonialzeiten wieder gut zu machen. So kamen von 18 geplanten Rohstoffabkommen nur fünf (Kaffee, Kakao, Zucker, Kautschuk und Zinn) zustande.
Immerhin wurde auf Betreiben der UNCTAD die so genannte 1979-er Regel ins GATT aufgenommen. Diese gestattet bei bilateralen, regionalen oder multilateralen Abkommen - entgegen dem Prinzip der vollen Gegenseitigkeit von Handelserleichterungen -, Entwicklungsländern Präferenzen zu geben. So müssen also beispielsweise die Staaten Afrikas, der Karibik und des Pazifik (AKP) in dem Abkommen mit der Europäischen Union (EU) nicht selbst ihre Einfuhrzölle senken, wenn sie für bestimmte Waren zollfreien Zugang zu Ländern der EU erhalten.
Als Anfang der achtziger Jahre viele Entwicklungsländer in der Schuldenkrise versanken, weil sie infolge stark gestiegener Zinsen den Schuldendienst nur noch mit Hilfe der Aufnahme neuer Kredite leisten konnten, versuchten sie, durch gesteigerten Rohstoffexport mehr Devisen zu verdienen. Da aber bei flauer Weltkonjunktur der Rohstoffverbrauch eher ab- als zunahm, sanken aufgrund des Überangebots die Rohstoffpreise in den Keller. Die Rohstofflager wuchsen und wuchsen. Die Exporterlöse der Entwicklungsländer aber sanken infolge fallender Weltmarktpreise für Rohstoffe. Und niemand war bereit, das nötige Geld zur Finanzierung der Lager und für Ausgleichszahlungen zur Entschädigung entgangener Exporterlöse bereit zu stellen. Viele Rohstoffproduzenten überschritten außerdem mit heimlichem Export ihre Quote und trugen dazu bei, dass die Preise weiter fielen. So brachen die bereits bestehenden Rohstoffabkommen zusammen.
Der Traum von einer gerechten neuen Weltwirtschaftsordnung war geplatzt. Die UNCTAD wurde zum Aschenputtel, wo Vertreter der Entwicklungsländer schöne Wünsche äußern und radikale Reden halten durften, auf die aber niemand hörte.
Aber die Organisation erwies sich als lernfähig. Statt sich weiter als Sprachrohr für unrealistische Forderungen benutzen zu lassen, konzentrierte sie sich unter dem im Jahr 1995 angetretenen Generalsekretär Ricupero auf ein anderes Arbeitsgebiet. Sie erstellte nützliche Wirtschaftsanalysen für Entwicklungsländer und unterstützte sie technisch wie organisatorisch. Und nicht zuletzt wurde sie nun zum Forum, wo Vertreter von Entwicklungs- und Industrieländern Ideen und Erfahrungen austauschen und gemeinsame Strategien entwickeln können. Nach dem Scheitern der WTO-Verhandlungen in Cancún sahen plötzlich auch die Industrieländer die UNCTAD nicht mehr als Aschenputtel an. Sie hofften vielmehr, mit Hilfe dieses Diskussionsforums in São Paulo die Gespräche wieder aufnehmen zu können, die in Cancún in die Sackgasse geraten waren. Dort nämlich hatten die USA und Europa sich noch geweigert, ihre Subventionen für Agrarexporte abzubauen.
Welchen Schaden eine mit Hilfe von Exportsubventionen verursachte Preisunterbietung in Entwicklungsländern anrichten kann, machte Samuel Amehou deutlich, Benins Botschafter bei der WTO in Genf und Leiter der Delegation in São Paulo: Nach der Unabhängigkeit Benins sei der Baumwollsektor seines Landes - aufgebaut mit Entwicklungshilfe der USA und Europas - sehr wettbewerbsfähig gewesen. Auch kleine Farmer, die fünf bis sechs Hektar besitzen, hätten genug zu essen gehabt, das Lebensnotwendige kaufen und ihre Kinder zur Schule schicken können. Inzwischen aber subventionieren die USA den Export ihrer gut 25.000 Baumwollfarmer jährlich mit 3,2 Milliarden US-Dollar und die EU ihre Baumwollproduktion mit 700 Millionen Dollar. Dadurch seien die Weltmarktpreise für den Rohstoff so gesunken, dass die Bauern Westafrikas nicht mehr konkurrieren können, obwohl sie ihre Baumwolle nur zu einem Fünftel der Produktionskosten der USA erzeugen. In Westafrika müssten 9 Millionen Menschen, die vom Anbau und Handel mit Baumwolle abhäng sind, mit Verarmung dafür zahlen, dass der Lebensstandard von 25.000 Farmern der USA geschützt wird.
Ein Schiedsspruch der WTO lässt aber nun die Dritte Welt hoffen, dass die WTO-Regeln nicht nur für arme Länder gelten. Er wurde während der Konferenz in São Paulo bekanntgegeben: Die Exportsubventionen der USA für Baumwolle, so urteilte das WTO-Schiedsgericht, verzerren die Weltmarktpreise und müssen binnen dreier Jahre abgebaut werden. Damit wurde einer Klage von Brasilien und der Nebenkläger Benin und Tschad stattgegeben. Auch mit einer weiteren Klage gegen die Zuckersubventionen der EU konnte sich Brasilien durchsetzen. Am 4. August 2004 wurde ein ähnliches Urteil gefällt. Noch ist nicht klar, ob die USA und die EU Einspruch gegen die Urteile erheben und damit die Umsetzung weiter verzögern werden.
Immerhin dürfte die Konferenz in São Paulo und der Zwang solcher Urteile mit dazu beigetragen haben, die in Cancún gescheiterten WTO-Verhandlungen in Genf wieder aufzunehmen. Ende Juli 2004 haben die Teilnehmer dort ein Rahmenabkommen vereinbart, das die im Jahr 2001 in Katars Hauptstadt Doha begonnene WTO-Verhandlungsrunde zu einem erfolgreichen Abschluss bringen soll. Die Industrieländer sagen in dem Abkommen ausdrücklich zu, dass sie ihre Agrarexportsubventionen vollständig abbauen wollen. Bis wann, ließen sie allerdings offen. Darüber hinaus billigten sie den Entwicklungsländern zu, dass diese, wenn sie zollfreien Zugang zu Märkten der Industrieländer erhalten, nicht automatisch ihre Einfuhrzölle in gleicher Weise senken müssen. Die ärmsten Länder sollen die heimische Wirtschaft besonders stark vor ausländischer Konkurrenz schützen dürfen.
Über die Fristen, Zollhöhen und die Frage, für welche Waren was gilt, wird sicher noch heftig gestritten werden. Gleichwohl besteht jetzt eine Chance, dass die “Doha-Runde” der Verhandlungen über neue Regeln im Welthandel zu dem wird, was der ihr schon anfangs gegebene Name verheißt: zu einer “Entwicklungsrunde”.
Der neue Schwung bei den WTO-Verhandlungen ist nicht zuletzt einem neuen Selbstbewusstsein von Ländern des Südens zu verdanken, das sich in São Paulo deutlich zeigte. Schon in Cancún hatte sich eine informelle “Gruppe der 21+” gebildet. Inzwischen heißt sie “Gruppe der 20" (G-20). Darunter sind Länder wie China, Indien, Mexiko, Brasilien und Südafrika, die als Schwellenländer mit modernen Industrien bei Verhandlungen gemeinsam erhebliches Gewicht in die Waagschale werfen können, zumal sie riesige Märkte bilden, auf welche die alten Industrieländer nicht verzichten wollen.
Wenn Länder des Südens sich einig sind und eine gemeinsame Strategie fahren, können sie offensichtlich auch etwas bewirken. Dass das nicht einfach ist und auch jedes einzelne der G-20-Länder seinen eigenen Vorteil gegenüber den anderen Mitgliedern sucht, zeigte sich just während der UNCTAD-Konferenz an einem Handelsstreit zwischen Brasilien und China. China hatte sich geweigert, fünf Frachter aus Brasilien zu entladen, weil deren Sojaladung mit Fungiziden (chemischen Pilzvernichtungsmitteln) belastet sei. Laut brasilianischer Angaben war es mit einem belasteten Korn je Kilo weniger als international üblich - die USA erlauben zwei, die EU drei belastete Körner je Kilo. Brasilianische Sojahändler vermuteten denn auch, dass die vermeintliche Fungizidbelastung für Chinas Importeure ein willkommener Vorwand war, um aus Vertragsabschlüssen herauszukommen. In Erwartung steigender Sojapreise hatten diese nämlich Anfang des Jahres Importverträge über große Mengen Soja abgeschlossen. Danach sanken die Preise aber wieder um rund 20 Prozent. Dank der Fungizidbelastung konnten die chinesischen Importeure aus ihren Verträgen aussteigen und Soja jetzt billiger bekommen. Inzwischen ist nämlich der Streit geschlichtet. Brasilien hat strengere Kontrollen zugesichert. Und China bleibt als weltgrößter Sojaimporteur ein guter Kunde Brasiliens.
Dass der Handel von Ländern des Südens untereinander künftig große Chancen bietet, war eines der Hauptthemen in São Paulo. Bis heute ist die Verkehrs- und Handelsstruktur in vielen Entwicklungsländern noch von der Kolonialzeit geprägt. Von Plantagen oder Bergwerken führen Straßen oder Eisenbahnlinien zu Häfen, von denen die Rohstoffe in Industrieländer ausgeführt werden. Und in den Häfen landen die Fertigwaren aus Industrieländern an. Jetzt soll eine neue Verhandlungsrunde den Handel der Entwicklungsländer untereinander ausweiten. Das beschlossen in São Paulo die Entwicklungsländer, die das Abkommen des Global System of Trade Preferences (GSTP) unterzeichnet haben. In der neuen Verhandlungsrunde wollen die Mitglieder ihre Einfuhrzölle für Waren aus anderen Entwicklungsländern senken, ohne den Industrieländern die gleichen Vorteile zu gewähren. Das wichtigste Ergebnis der Konferenz, so fasste es UNCTAD-Generalsekretär Ricupero zusammen, sei neben der “neuen Selbstbehauptung” der Entwicklungsländer “das Bekenntnis zu einer neuen Geographie des Welthandels”.
Wie sehr sich diese Geographie des Handels seit einigen Jahren schon zu verschieben beginnt, zeigen folgende Zahlen: Mit 11 Prozent pro Jahr wächst heute der Süd-Süd-Handel zweimal so schnell wie der Welthandel insgesamt und macht inzwischen 43 Prozent des Außenhandels der Entwicklungsländer aus. Im Jahr 2003 haben die USA erstmals mehr aus Entwicklungsländern als aus Industrieländern importiert. Und Prognosen kündigen an, dass im Jahr 2050 das Sozialprodukt von China, Indien, Russland und Brasilien zusammengenommen größer sein wird als das gemeinsame Sozialprodukt von den USA, Japan, Deutschland, Frankreich, Italien und Großbritannien.
Allein wenn in China und Indien die Mittelschichten wachsen und reicher werden, wird dort der Verbrauch etwa von Fleisch, Textilien und Benzin gewaltig zunehmen. Wegen des wachsenden Bedarfs an Viehfutter wurde China binnen weniger Jahre vom Soja-Exporteur zum weltgrößten Soja-Importeur. Nicht mehr die Industrieländer, sondern die neuen Aufsteiger werden schon bald die größten Rohstoffimporteure sein. Wegen der zahlreichen Neubauten von Hochhäusern, Industrieanlagen und Schiffen ist China heute schon weltgrößter Stahlimporteur.
Rohstoffe werden also knapper und teurer. Und weil die Weltbevölkerung wächst, gleichzeitig aber riesige Agrarflächen infolge von Umweltschäden unbrauchbar werden, wird die Zeit von Agrarüberschüssen und Subvention von Agrarexporten nicht mehr lange andauern, auch wenn in der WTO heute noch heftig darum gestritten wird.
Für die ärmsten der Entwicklungsländer aber kann die neue Geographie im Welthandel bedeuten, dass sie noch mehr an den Rand gedrängt werden. Denn mit der Konkurrenz aus Ländern wie China, Indien oder Brasilien können sie noch weniger mithalten als mit Wettbewerbern aus den alten Industrieländern. Sie sind dann vollends auf den guten Willen der übrigen Welt angewiesen, sie zu unterstützen. Nur, wo gibt es solchen guten Willen? Es wäre - statistisch gesehen - bereits heute ein leichtes, die Zahl der Hungrigen in der Welt bis zum Jahr 2015 auf die Hälfte zu senken. Was das kosten würde, hielt bei Eröffnung der Konferenz Brasiliens Präsident Luiz Ignácio “Lula” da Silva den Teilnehmern vor Augen: Nicht mehr als drei Wochen weltweite Rüstungsausgaben oder zwei Monate Agrarsubventionen. Wird es künftig mehr Solidarität geben?
Gleichwohl gibt es Produkte oder Dienste, mit denen Arme etwas auf dem Weltmarkt verdienen können. Brasilien rührte auf der Konferenz die Werbetrommel für einen Welthandel mit Produkten biologischer Vielfalt. Ein Beispiel dafür liefert der brasilianische Konzern Boticario. Er exportiert Kosmetik aus Pflanzen des Regenwaldes, die von Kleinbauern umweltverträglich gezüchtet oder im Regenwald gesammelt werden. Die Kleinbauern verdienen damit mehr, als wenn sie den Regenwald brandroden und etwa Zuckerrohr für Agrarkonzerne anbauen. So tragen sie zum Erhalt der biologischen Vielfalt bei. Der Umsatz solcher Naturkosmetik auf dem Weltmarkt beträgt zurzeit rund 6 Milliarden US-Dollar im Jahr. Das Potenzial dafür, so schätzt die UNCTAD, ist mehr als das Dreifache.
Und noch ein Potenzial, so betont Brasiliens Kulturminister Gilberto Gil, hätten die Länder des Südens bei weitem nicht ausgeschöpft: den Handel mit ihrer Kreativität. Dazu zählt er Software, Fußball, Musik, bildende Künste und audiovisuelle Medien. Solche Schöpfungskraft erbringe hohen Mehrwert, aber zur Zeit eigneten sich Konzerne in den Industrieländern diesen Mehrwert an. Gil veranschaulichte die Chancen der “kreativen Industrien” am Beispiel des Kongo: “Die Wirtschaft des Landes liegt infolge des Krieges völlig danieder, aber der Musikexport ist nicht betroffen.” Kurz nach der UNCTAD-Konferenz ging der Minister selbst auf Konzert-Tournee nach Europa, “um etwas dazuzuverdienen”. Lala de Heinzelin von der brasilianischen nichtstaatlichen Organisation Enthusiasmo Cultural bekräftigte Gils Ansicht, dass man selbst etwas gegen trübselige Prognosen tun kann: “Die beste Art, die Zukunft vorherzusagen, ist sie selbst zu schaffen.”
Ausweichmanöver in BrasilienGinga, Ginga, wende dich!Eine quirlige Fußgängerzone in einer brasilianischen Großstadt. Die Menschentrauben gleiten aneinander vorbei, ohne einander zu berühren. Selbst ungelenkere Nordeuropäer haben keine Chance, jemanden anzurempeln. Denn kurz vor der schon fast unvermeidlichen Berührung reagieren die Körper wie von Zauberhand und geben die entscheidenden Millimeter nach. Dieser höflich-flexible Stil heißt ginga, sprich “dschinga”. Der weiche, biegsame Klang des Wortes mit dem vielsagenden Nasal auf dem “i” hat Methode; das zugehörige Verb gingar bedeutet “sich beim Gehen hin und her wiegen”. Es ist ein tief verwurzeltes Lebensgefühl, das in allen wichtigen Bereichen zu spüren ist: auf der Straße, beim Fußball, beim Samba. Den Samba-Grundschritt nach Art des ginga kann man schon bei dreijährigen Mädchen bewundern. Blitzschnell wechseln sie Stand- und Spielbein zum ohrenbetäubenden Rhythmus der Samba-Schlagzeuger. Dazwischen vibrieren sie so mühelos mit den Hüften, mit Oberschenkeln, Po und Bauch, dass im Kinderkörper schon die um ihre Wirkung wissende erwachsene Frau zu erstehen scheint. Auch der brasilianische Fußball verdankt seinen Ruf des tänzerischen und schönen Spiels ebenfalls der Attitüde des ginga. Das spielerische Vortäuschen einer Attacke, ein scheinbar endloses Dribbling, ein Austanzen sogar des Torwarts, all dies beruht auf der geschmeidigen Körperbeherrschung, die Hindernissen mit untrüglichem Reflex auszuweichen vermag. Die Hypothese sei gewagt, dass von ginga durchwirkter Fußball Energien eher freisetzt als sie verbraucht und deshalb selbst bei vierzig Grad im Schatten keine “Kampfmoral” vonnöten ist. Im Autoverkehr bedeutet ginga das Ignorieren amtlicher Regeln, aber auch das stets wache, genaue Wahrnehmen des sich stets ändernden Verkehrsflusses. Wer sich gekonnt vordrängt, wird vorgelassen. Häufige Spurwechsel bestimmen den Fahrstil, als Blinker dient mitunter nur ein lässiges Handzeichen aus dem geöffneten Fenster. Manch einer steigert die Absicht, zwischen den Spuren zu pendeln, noch und fährt gleich ganz in der Mitte. Was in Deutschland als breitbeinig kritisiert würde, ist in Brasilien eine Selbstverständlichkeit: Halte dir so lange wie möglich alle Optionen offen. Im “zwischenmenschlichen Konfliktgespräch” schließlich - denn von harter Auseinandersetzung oder gar Streit mag man angesichts so viel gleitender Eleganz gar nicht reden - ist das Verhalten gemäß ginga von elementarer Bedeutung. Absolute Formulierungen wie “das ist unmöglich” werden tunlichst vermieden, stattdessen heißt es “das wird schwierig werden”. An diplomatischen Wendungen ist der brasilianische Stil kaum zu überbieten und das allmorgendliche “Alles klar?” - “Alles ruhig.” - “Und der Regen?” - “Tja, du sagst es.” ist wie eine Aufwärmübung mit Softbällen. Ginga sichert letztlich das Überleben in der Bürokratie des Alltags in Brasilien: sich in leichten Schwüngen um den harten Kern der Schwierigkeiten herumzuplaudern und das Gegenüber für sich zu gewinnen und auf seine Seite zu ziehen. Anja-Rosa Thöming |
Rubens RicuperoBewegendManchmal kommt es auf einzelne Personen an, ob sich in der internationalen Staatengemeinschaft etwas bewegt. Der Brasilianer Rubens Ricupero, der 1995 sein Amt als Generalsekretär der UNCTAD antrat und im September 2004 in den Ruhestand geht, ist so eine bewegende Person. Nicht zuletzt auf ihn ist es zurückzuführen, dass die UNCTAD von einer Organisation, die trotzig auf Ideologien beharrte, auf die keiner hörte, zu einem Forum geworden ist, in dem Vertreter armer und reicher Staaten miteinander reden und nach pragmatischen Lösungen suchen. Dazu beigetragen hat, dass sich kaum jemand dem persönlichen Charme Ricuperos entziehen kann. Wenn es nötig ist, beharrt er hartnäckig auf bestimmten Formulierungen eines Paragraphen bis zur Verabschiedung. Aber er liebt nicht die Funktionärssprache, sondern zieht es vor, nach brasilianischer Art blumig und in Gedichten zu sprechen und ganz persönlich auf Menschen zuzugehen. “Mite, Mitezza”, wie er es in der Sprache seiner italienischen Vorfahren einmal auf Julius Nyerere bezogen hat, Sanftheit und Beharrungsvermögen, sind auch für ihn kennzeichnend. Ihn selbst hat bewegt, dass seine letzte UNCTAD-Konferenz in São Paulo ganz in der Nähe seines Geburtsorts stattgefunden hat, den er vor 45 Jahren verlassen hatte. So zitierte er auf Portugiesisch, “in der Sprache, in der ich die Bibel lese”, in seiner ansonsten frei auf Englisch gehaltenen Abschlussrede den Psalm 131: Seine Seele habe Frieden in sich selbst gefunden. du |
GruppenbildungGemeinsam sind sie stärkerWeil einzelne Staaten bei Verhandlungen in großen internationalen Organisationen kaum etwas durchsetzen könnten, versuchen sie, sich mit anderen Nationen zusammenzuschließen und als Gruppe eine gemeinsame Strategie zu verfolgen. Dabei gehören viele Länder mehreren Gruppen an, um je nach Themengebiet wirksamer verhandeln zu können. Manche solcher Gruppen treffen nur informelle Absprachen, einzelne haben jedoch permanente mit festem Personal besetzte Büros. Bei Verhandlungen über Themen des Welthandels sind vor allem die im folgenden aufgeführten Gruppen von Bedeutung: G-77: Die “Gruppe der 77" wurde von 77 Entwicklungsländern am 15. Juni 1964 auf der ersten Tagung der Konferenz für Handel und Entwicklung der Vereinten Nationen (UNCTAD) in Genf gegründet, um gemeinsame Strategien gegenüber den Industrieländern zu entwickeln und für eine gerechte “Neue Internationale Wirtschaftsordnung” (NIEO) zu werben. Sie ist die älteste immer noch aktive Gruppe bei Verhandlungen über den Welthandel. Cairns-Gruppe: Diese setzt sich zusammen aus Vertretern von 18 Saaten, für die der Agrarexport große Bedeutung hat. Sie wurde im Jahr 1986 in der australischen Stadt Cairns gegründet, um bei den Verhandlungen im General Agreement on Tariffs and Trade (GATT), dem Vorläufer der Welthandelsorganisation (WTO), und jetzt in der WTO die Interessen von Agrarexporteuren gegen Agrarprotektionisten zu vertreten. Mitglieder sind Argentinien, Australien, Bolivien, Brasilien, Kanada, Chile, Costa Rica, Guatemala, Indonesien, Kolumbien, Malaysia, Neuseeland, Paraguay, Philippinen, Südafrika, Thailand und Uruguay. G-10: Die “Gruppe der 10" hat der Cairns-Gruppe entgegengesetzte Interessen. Sie umfasst Staaten, die Netto-Importeure landwirtschaftlicher Erzeugnisse sind, also weit mehr davon importieren als exportieren. Sie wollen ihre heimischen Bauern mit hohen Importzöllen und Quoten vor agrarischen Billigimporten schützen. Mitglieder sind Bulgarien Island, Israel, Japan, Lichtenstein, die Schweiz und Südkorea. G-33: Die “Gruppe der 33" verfolgt Ziele, die teilweise mit denen der Cairns-Gruppe und teilweise mit denen der G-10 identisch sind. Sie besteht aus Entwicklungsländern, die landwirtschaftliche Produkte importieren, aber zum Teil auch große Exporteure einzelner landwirtschaftlicher Produkte sind wie Tabak oder Kaffee. Sie fordern Ausnahmen für bestimmte Grundnahrungsmittel von der vollen Liberalisierung im Agrarbereich, um ihre Bauern zu schützen. Es handelt sich derzeit um die 30 Staaten Barbados, Botswana, Côte d’Ivoire, Dominikanische Republik, Haiti, Honduras, Indonesien, Jamaika, Kenia, Demokratische Republik Kongo, Kuba, Mauritius, Mongolei, Mosambik, Nicaragua, Nigeria, Pakistan, Panama, Peru, Philippinen, Sambia, Senegal, Simbabwe, Sri Lanka, Südkorea, Tansania, Trinidad und Tobago, Türkei, Uganda und Venezuela. G-20: Die “Gruppe der 20" hat sich kurz vor der WTO-Ministerrats-Konferenz im September 2003 im mexikanischen Cancún auf Betreiben Brasiliens gebildet (damals nannte sie sich G-21+). Ihr Ziel ist es - was insbesondere durch die Teilnahme Chinas, Indiens, Südafrikas und Brasiliens ermöglicht wird - eine stärkere Verhandlungsposition gegenüber den Industrieländern zu haben. Als die Industrieländer sich gleichwohl weigerten, ihre Agrarsubventionen abzubauen, scheiterte die Konferenz von Cancún. Ein paar Länder verließen anschließend die G-20, andere kamen hinzu. Derzeit besteht sie aus 19 Staaten: Ägypten, Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, China, Indien, Indonesien, Kuba, Mexiko, Nigeria, Pakistan, Paraguay, Philippinen, Simbabwe, Südafrika, Thailand, Tansania und Venezuela. Diese Gruppe sollte nicht verwechselt werden mit der im Jahr 1999 im “Helsinki- Prozess für Globalisierung und Demokratie” gegründeten “Gruppe der 20", die ein informelles Dialogforum von Finanzministern bedeutender Industriestaaten ist, - darunter Deutschland, Australien und Schwellenländer. G-90: Die “Gruppe der 90" - überwiegend bestehend aus ärmsten Entwicklungsländern (LDCs) - wurde ebenfalls 2003 in Cancún gegründet, um Versuche der USA und der Europäischen Union abzuwehren, Themen wie Investitionsschutz, Gleichbehandlung im Wettbewerb und Transparenz im öffentlichen Beschaffungswesen - die so genannten Singapur-Themen - in die WTO-Verhandlungsrunde einzubeziehen. Die Gruppe wird derzeit von Guyana angeführt. P-5: Die “fünf interessierten Parteien” - die USA, die Europäische Union, Brasilien und Indien - als Vertreter für die G-20 - und Australien - als Sprecher der Cairns-Gruppe - fanden sich nach dem Scheitern der WTO-Verhandlungen in Cancún zusammen, um nach Wegen zu suchen, wie der Gesprächsfaden wieder aufgenommen werden könnte. Die manchmal auch FIPs genannte Gruppe hat das Ende Juli 2004 vereinbarte Rahmenabkommen für die Fortsetzung der WTO-Verhandlungen im Wesentlichen vorbereitet. du |
Welthandels-FachchinesischUndurchschaubares klar gemachtWelthandelsabkommen Das General Agreement on Tariffs and Trade (GATT - Allgemeines Abkommen über Zölle und Handel) trat 1947 in Kraft. Die Bestimmungen des GATT wurden in die Vereinbarungen der 1995 geschaffenen Welthandelsorganisation (WTO) integriert. Es ging dabei zunächst um den Handel mit Gütern. Für den internationalen Handel mit Dienstleistungen wurde 1995 das General Agreement on Trade in Services (GATS) geschaffen, das auch in die WTO integriert ist. Bestimmungen über grenzüberschreitende handelsbezogene Investitionen (wie das Verbot der Diskriminierung ausländischer Anbieter gegenüber inländischen Wettbewerbern) werden im Abkommen für Trade Related Investment Measures (TRIMS) geregelt, das seit Januar 1995 in Kraft ist. Für den internationalen Handel mit intellektuellen Eigentumsrechen (wie Lizenzen und Urheberrechte, Patente, Sortenschutz und dergleichen) wurde ein Abkommen mit dem Namen Trade Related Intellectual Property Rights (TRIPS) abgeschlossen, das für Industrieländer seit 1996, für Entwicklungs- und Transformationsländer seit dem Jahr 2000 und für die am wenigsten entwickelten Länder (LDCs) ab 2006 gilt. Während die Liberalisierung beim Warenverkehr und Handel mit Diensten und Eigentumsrechten bereits weit fortgeschritten ist, gibt es noch starke Beschränkungen bei der Arbeitserlaubnis für ausländische Arbeitskräfte. Regeln für die zeitlich begrenzte Migration von Arbeitskräften - im Fachterminus Temporary Movement of Natural Persons (TMNP) genannt - werden im Artikel III des GATT im so genannten Mode 4 festgelegt. Diese gelten insbesondere für Dienstleistungen, die Vertragsarbeiter (zum Beispiel auf Montage) im Ausland erbringen. Bei all diesen Verträgen ist die so genannte Meistbegünstigung, in den englischen Vertragstexten Most Favoured Nation (MFN) Status genannt, ein wichtiges Element. Es handelt sich dabei um ein Diskriminierungsverbot. Danach soll jedes Mitgliedsland eines Vertrages seine Handelspolitik so ausgestalten, das allen anderen Mitgliedsländern gleich günstige Bedingungen geboten werden. Wenn also etwa ein WTO-Mitglied einem anderen leichteren Zugang zu seinem Markt einräumt, muss es allen anderen WTO-Mitgliedern die gleiche Vergünstigung gewähren. Eine Ausnahme gestattet die so genannte GATT-1979er-Regel in regionalen oder multilateralen Verträgen. So darf beispielsweise das Abkommen der Europäischen Union (EU) mit Staaten Afrikas, der Karibik und des Pazifik (AKP) diesen Entwicklungsländern besonders niedrige (präferenzielle) Zölle für Einfuhren in die EU einräumen, ohne diese auch anderen Industrieländern gewähren zu müssen. Ähnlich wird beim GSTP (Global System of Trade Preferences Among Developing Countries) verfahren. Das ist ein Abkommen, in dem - erstmals im Jahr 1988 - Entwicklungsländer sich untereinander niedrigere Einfuhrzölle gewährten, ohne diese auch den Industrieländern zuzugestehen. China und Südafrika sind zur Zeit noch nicht Mitglied dieses Abkommens, wurden aber auf der UNCTAD XI Konferenz in São Paulo von den Mitgliedsländern eingeladen, an der im Herbst 2004 beginnenden neuen Verhandlungsrunde teilzunehmen. Zwar haben all diese Verträge eine Liberalisierung, also mehr Freihandel, zum Ziel, aber die Industrieländer versuchen in den Verhandlungen oft, ihre heimischen Hersteller von sensiblen Produkten besonders zu schützen. So bezeichnen sie die Waren, die Entwicklungsländer kostengünstiger produzieren können und welche die Industrieländer deshalb vom Freihandel ausnehmen möchten. Bei der WTO werden deshalb auch gerne so genannte Green-room Gespräche geführt. Das sind informelle Treffen von 20 bis 30 ausgewählten Vertretern von Mitgliedstaaten hinter verschlossenen Türen, in denen Vorabsprachen über Entscheidungen getroffen werden. Bei vielen Verhandlungen im Rahmen der WTO gibt es ein Tauziehen um Agrarsubventionen. Bei diesen unterscheidet die WTO so genannte amber-box (bernsteinfarbene Kiste) Maßnahmen wie Mengen- und Exportprämien, welche zu niedrigeren Agrarpreisen führen und handelsverzerrend sind. Green-box (grüne Kiste) Maßnahmen (etwa direkte Einkommenszuschüsse aus dem Staatshaushalt, die nicht an Produktionsmengen oder Preise gekoppelt sind, werden als nicht oder nur minimal handelsverzerrend betrachtet. Die USA hatten ihre Baumwollsubventionen als green-box Maßnahmen bezeichnet. Das WTO-Schiedsgericht hat jedoch geurteilt, dass es amber-box- Maßnahmen sind. Blue-box (blaue Kiste) Maßnahmen sind Subventionen für Produktionseinschränkung (wie Flächenstillegungsprämien), die nach WTO-Regeln erlaubt sind. Verhandlungsrunden Rio: Der Name steht oft als Kürzel für die 1992 in Rio de Janeiro abgehaltene UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung. Bei diesem Treffen wurde die Agenda 21 beschlossen, ein Aktionsprogramm für das 21. Jahrhundert, in dem sich Gemeinden, Verbände und Einzelpersonen für Entwicklung und den Umweltschutz engagieren sollten. Nach Gründung der WTO im Jahr 1995 tagte deren erste Ministerratskonferenz 1996 in Singapur. Der Ministerrat ist das höchste Beschlussgremium der WTO. Dort legte er Themenschwerpunkte fest, die verhandelt werden sollten, die so genannten Singapur-Themen. Dazu gehören Handel und Schutz von Investitionen, Handel und Gleichbehandlung im Wettbewerb, Nichtdiskriminierung ausländischer Anbieter im Öffentlichen Auftragswesen sowie Handelserleichterungen, zum Beispiel der Abbau von Bürokratie und umständlichen Zollformalitäten. Die Doha-Runde (Doha Development Agenda) wurde als neue Verhandlungsrunde der WTO beim Ministerratstreffen im Jahr 2001 in Doha, der Hauptstadt von Katar, eröffnet. Die Doha-Runde wird als Entwicklungsrunde bezeichnet, um entwicklungsfördernde Faktoren von Handel zu betonen, und sollte nach den ursprünglichen Planungen im Jahr 2005 beendet sein. Nach dem Scheitern der Ministerratskonferenz im mexikanischen Cancún im Jahr 2003 und der Wiederaufnahme im August 2004 wird sie wohl länger dauern und noch nicht beim Ministerratstreffen 2005 in Hong Kong abgeschlossen werden. Monterrey: Der Name wird oft als Kürzel für die im März 2002 im mexikanischen Monterrey abgehaltene UN-Konferenz über Finanzierung für Entwicklung verwendet. Johannesburg: Der Name der Stadt steht oft als Kürzel für den im August/September 2002 in Johannesburg abgehaltenen UN-Weltgipfel über zukunftsfähige Entwicklung (World Summit on Sustainable Development). Jürgen Duenbostel |
aus: der überblick 03/2004, Seite 49
AUTOR(EN):
Jürgen Duenbostel :
Jürgen Duenbostel ist Redakteur beim überblick.