Buyemah Fateh unterrichtet behinderte Kinder in den Flüchtlingslagern der Saharaui mitten in der Wüste
Castro heißt eigentlich Buyemah Fateh, ist 40 Jahre alt, Pädagoge, Sozialarbeiter und Arzt – alles in einem, ein klassischer Autodidakt. Sein eigentlicher Name ist schon fast vergessen, alle Saharauis nennen ihn nur Castro, alle kennen ihn. Ob er seinen Spitznamen wegen des dichten Vollbarts oder wegen sozialistischer Ideen bekommen hat, weiß niemand mehr. Immerhin doziert Castro genauso gerne wie sein kubanischer Namensvetter. «Wir setzen Integration und Autonomie gegen die Marginalisierung», beschreibt er das Motto seiner Schule.
von Charlotte Schmitz
Wäre Castro nicht halsstarrig, beharrlich und hartgesotten, dann wäre es ihm nie gelungen, eine Schule für behinderte Kinder in den Flüchtlingslagern der Saharauis aufzuziehen. Die Umstände dafür könnten schwieriger nicht sein. Der Ort ist die Hamada, eine Geröllwüste im Südwestzipfel Algeriens – Sand, Steine und Wind in einer Einöde, die sich von Horizont zu Horizont erstreckt. Die Schüler: 58 Kinder zwischen vier und 25 Jahren, körperlich oder geistig behindert. Die Finanzierung: Keine.
Castro heißt eigentlich Buyemah Fateh, ist 40 Jahre alt, Pädagoge, Sozialarbeiter und Arzt – alles in einem, ein klassischer Autodidakt. Sein eigentlicher Name ist schon fast vergessen, alle Saharauis nennen ihn nur Castro, alle kennen ihn. Ob er seinen Spitznamen wegen des dichten Vollbarts oder wegen sozialistischer Ideen bekommen hat, weiß niemand mehr. Immerhin doziert Castro genauso gerne wie sein kubanischer Namensvetter. »Wir setzen Integration und Autonomie gegen die Marginalisierung«, beschreibt er das Motto seiner Schule.
Eine Schule, die für Ali so wichtig ist, dass er sich jeden Morgen eine halbe Stunde an seinen Krücken durch die Wüste schleppt. Er setzt einen Fuß vor, zieht die schiefe Hüfte nach, stützt sich ab und schiebt das anderen Bein nach vorne. Schritt für Schritt. Durch eine staubige Ödnis, auf die die Sonne schon morgens um acht erbarmungslos niedersticht. Der 18-jährige hat vier Hüftoperationen hinter sich. In der Schule lernt er, seinen störrischen Gliedern kleine Siege abzuringen: Heute hat er ein komplettes Wort von der Tafel abgeschrieben. Die ganze Klasse klatscht stürmisch Beifall. Alis samtbraune Augen strahlen.
1993 begann Castro mit dem Aufbau dieser Schule für geistig und körperlich Behinderte. Damals habe er »eine Menge Rippenstöße« verteilt, sagt Castro. »Aller Anfang ist schwer, aber die Geschichte hat mich gelehrt: Nichts ist unmöglich.« Diesen Spruch hat er an die weißgekalkte Wand des Klassenzimmers gepinnt, um sich immer wieder selbst anzuspornen. Zu Beginn unterrichtete er zwei Kinder. Als sich seine Erfolge herumsprachen, kamen immer mehr. Heute drängen sich 58 Schüler in drei winzigen Klassenräumen. Das Konzept, sich individuell um die Schwächen der einzelnen zu kümmern, scheint aufzugehen.
Salama tritt in die Pedale, als wolle er die »Tour de France« gewinnen, als wolle er dieser glühenden Ebene für immer entkommen, doch das Trimm-dich-Rad trägt ihn keinen Meter vom Schulhof. Der 14-jährige hat schon andere Dinge gesehen als die Geröllwüste, in der die Saharauis ihre Lager aufgeschlagen haben, seit sie vor 25 Jahren vor der Besetzung ihres Landes durch die marokkanische Armee flohen. Wie hunderte anderer Kinder aus den Lagern verbrachte er einen Sommerurlaub bei einer spanischen Gastfamilie. Die Worte, die er dort gelernt hat, hütet er wie einen Schatz: »Hola, que tal? Estás bien?«
Worte sind der größte Reichtum dieses Jungen. Bis vor zwei Jahren konnte er nicht verständlich sprechen. »Erst als er aus dem Militärhospital zu Castro gekommen ist, hat er richtig reden gelernt«, sagt Mentenna Mohammed. Die 62-jährige mit dem zerfurchten Gesicht ist Salamas Großmutter, bei der er aufgewachsen ist. Ihr schlaksiger Enkel lacht gerne, aber bei der Frage nach seiner Zukunft wird er sofort ernst und blickt zu Boden. Leise, als traue er seinem eigenen Wunsch nicht, kommt die Antwort: »Automechaniker werden.«
Castros Augen funkeln vor Übermut und Stolz, wenn er über seine Schule redet. Dass es die einzige Sonderschule für Behinderte in einem Flüchtlingslager ist, das von humanitärer Hilfe lebt. Dass selbst in den reichen Ländern Behinderte oft benachteiligt werden. Castro findet es nicht nötig, sein Engagement groß zu erklären. »Ich bin gläubiger Muslim, aber bete nicht regelmäßig«, sagt er. Und kramt ein Jugendbild hervor, auf dem er Che Guevara zum Verwechseln ähnlich sieht.
»Du bist kein Monster, sondern ein Mensch« ist das erste, was Castro einem neuen Schüler sagt. In der saharauischen Gesellschaft sind Behinderte keine Außenseiter. Der islamische Glaube fordert dazu auf, Behinderte als Geschöpfe Allahs zu akzeptieren. Wenn behinderte Kinder in der Familie nicht gefördert werden, liegt es schlichtweg an Unkenntnis und am Mangel an Möglichkeiten. Castro geht methodisch vor. Mit einem Einstellungstest überprüft er die geistigen und motorischen Fähigkeiten neuer Schüler. Alle drei Monate beurteilt er ihre Entwicklung und berät sich mit den Eltern. »Die Familie soll einen Teil der Last auf ihren Schultern tragen«, erklärt Castro. Deshalb unterrichtet er nicht ganztags, nachmittags sollen die Kinder zu Hause bleiben.
Der Autodidakt kokettiert damit, dass er eigentlich nur Hirte sei, räumt aber ein, in Spanien und Algerien studiert zu haben. Das hört sich bei ihm so an: »Ich habe meine Nase in viele Bücher gesteckt.« Auch jetzt stapeln sich französische, spanische, arabische und englische Schriften im Fernsehraum, der gleichzeitig Castros Wohnzimmer ist. Seine Wissbegierde lässt ihm kaum Zeit, sich um seine Cousins, Cousinen, Onkel, Tanten, Brüder, Schwestern, Nichten und Neffen zu kümmern. Damit verstößt er bewusst gegen die Tradition der Saharauis, die Familiensolidarität über alles stellt. »Mein Charakter ist unerträglich«, meint Castro. Er hebt eine Hand senkrecht vor die Nase und ruckt sie nach vorne, um seinen Querkopf zu demonstrieren. Neulich hat er eine Lehrerin derart angeschnauzt, dass sie in Tränen ausbrach. Bei der wöchentlichen Aussprache des Kollegiums wird er sich dafür entschuldigen.
Trotz seines explosiven Charakters ist Castro durch und durch Pädagoge. Er nutzt jede Gelegenheit, um zu lehren und selbst zu lernen. Besucher aus dem Ausland bittet er um neue Worte, um seinen Sprachschatz zu erweitern. Und die Versammlung der Lehrerinnen am Ende jeder Woche gleicht einer Supervision samt eingeschlossener Fortbildung: Nachdem die Entwicklung der einzelnen Schüler detailliert durchgesprochen worden ist, erteilt Castro Unterricht in Englisch. Die sechs jungen Frauen, die ihm zur Seite stehen, sollen ihre Arbeit in der Weltsprache schildern können. Doch Castro ist damit nicht zufrieden, er geht einen Schritt weiter: Mit seinen Lehrerinnen diskutiert er die Unterschiede zwischen Mann und Frau, die Bezeichnung der Geschlechtsorgane und die Symptome von Frauenkrankheiten. Nach anfänglichem Gekicher lassen sich die jungen Frauen auf Themen ein, die in ihren Familien nie so offen besprochen werden. Später ziehen sie ihre Umhänge am Kinn wieder fest zusammen und gehen heim. Castro ist sichtlich stolz auf sein unorthodoxes Vorgehen. Mit seiner Schule hat er nicht nur eine Insel der Glückseligkeit für die behinderten Kinder geschaffen, sondern auch einen Hort der freien Meinungsäußerung.
Doch den vollen Einsatz, den Castro sich selbst abverlangt, erwartet er auch von den Lehrerinnen. »Es ist schwer, Pünktlichkeit und Engagement zu verlangen, wenn die Arbeit nicht entlohnt wird«, sagt er. In den Flüchtlingslagern spielt Geld kaum eine Rolle. Alle – Lehrer, Krankenschwestern, Ärzte, Kindergärtnerinnen und Verwaltungsbeamte – arbeiten unentgeltlich. Wasser, Lebensmittelrationen, Gasflaschen zum Kochen und Zelte erhalten die Familien kostenlos von internationalen Hilfsorganisationen.
Castro hat nach einigen gescheiterten Versuchen die Zusammenarbeit mit privaten nichtstaatlichen Organisationen (NGOs) aufgegeben. Deren Unterstützung aus dem Ausland erreichte ihn nur unregelmäßig. Die Einrichtung der Schule, zu der auch therapeutisches Spielzeug gehört, haben zumeist Freunde gespendet.
Alles, was darüber hinaus geht, ist Luxus. Shampoo am Waschtag zum Beispiel. Die Lehrerinnen schleppen Bottiche mit Wasser in den Schulhof, und der Spaß geht los. Der kleine Hamdi bekommt einen weißen Klecks Shampoo mitten auf den Kopf, Salama und ein paar andere auch, dann ist die Flasche leer. Die übrigen müssen sich damit begnügen, das verstaubte Haar mit Wasser auszuspülen. Die Lehrerinnen flechten den Mädchen neue Zöpfe. Hamdi zerrt sich die Hose vom Hintern und taucht prustend in einem Bottich unter. Vor Begeisterung über die Spritzerei schmeißt sich Salama der Länge nach auf den Boden.
Castro war heute morgen zum saharauischen Ministerium für Entwicklungszusammenarbeit gebrettert, nur um zu hören, dass eine neue Lieferung Haarshampoo und Seife erst in vier Tagen zu erwarten sei. 25 Kilometer hin und 25 Kilometer zurück, bei glühender Hitze über eine Wüstenpiste. Kein Shampoo. Castro wird seine Freunde bald wieder bitten müssen, ihm Benzin zu spendieren. Der Rest im Tank reicht gerade noch, um die Kinder nach Hause zu fahren. Sie klettern johlend in den Jeep, bis die Bänke gedrängt voll sind, die letzten lassen ihre Beine herausbaumeln. Am Steuer hängt Castro, 40 Jahre und sechs Monate alt, mit einem Herzleiden und noch vielen Plänen im Kopf. Ali wedelt zum Abschied mit einer Krücke. Der Jeep schwankt mit geöffneten Türen durch die Wüste davon.
Das Volk der SaharauiMarokko verweigert die DemokratieDer Konflikt um die Westsahara ist eines der letzten Dekolonisationsprobleme Afrikas. Die Westsahara ist ein Landstrich an der Küste Westafrikas, direkt gegenüber von den Kanarischen Inseln. Die spanischen Kolonialherren verließen 1975 das Gebiet überstürzt, ohne eine Selbstverwaltung durch die Saharauis zu regeln. Am 31. Oktober 1975, kaum war der letzte spanische Soldat abgezogen, rückten marokkanische Truppen nach. Den Saharauis blieb nur die Flucht in die Wüste. Ihre politische Vertretung, die 1973 gegründete Frente Polisario (spanische Abkürzung für Volksbefreiungsfront für Saguia el Hamra und Río de Oro, das heißt Westsahara), kämpfte bis 1988 einen Guerillakrieg gegen Marokko, und ein großer Teil der Bevölkerung floh ins benachbarte Algerien und lebt dort in Flüchtlingslagern. Völkerrechtlich gesehen sind jedoch die Saharaui die eigentlichen Herren der Westsahara. Die UN-Generalversammlung hat immer wieder die Selbstbestimmung für die Westsahara gefordert. 1988 haben Marokko und die Polisario beide einer UN-Mission zugestimmt, die ein Referendum über die Unabhängigkeit des Gebietes durchführen soll. Doch Marokko verzögerte die Abstimmung acht Jahre lang mit immer neuen Anträgen, um Anfang 2001 dann offen zu erklären, es werde kein Referendum zugelassen. Daraufhin kündigte die Frente Polisario den Waffenstillstand einseitig auf, jedoch bislang ohne Kampfhandlungen zu beginnen. Die UN versuchen nun, beide Parteien wieder an einen Tisch zu bringen. Charlotte Schmitz |
aus: der überblick 02/2001, Seite 88
AUTOR(EN):
Charlotte Schmitz:
Charlotte Schmitz ist freie Journalistin mit dem Schwerpunkt Entwicklungspolitik und lebt in Frankfurt.