Ein Prinzip erobert die Welt
Die Systeme der sozialen Absicherung haben ihren Ursprung in Erfahrungen in Europa. Von dort haben sich mehrere Modelle, wie Lebensrisiken - etwa Erwerbsunfähigkeit und Krankheit - sozial abgefedert werden können, über den ganzen Globus ausgebreitet und sind dabei den Verhältnissen und kulturellen Traditionen der einzelnen Länder angepasst worden. Heute werden die öffentlichen Systeme der Sozialsicherung fast überall reformiert: Westliche Industrieländer leiden an den Folgen des Erfolgs ihrer Modelle, viele Entwicklungsländer an deren Scheitern, und in den früher kommunistischen Ländern hat der Umbruch die alten Instrumente unbrauchbar gemacht.
von John Dixon
Soziale Sicherheit gilt heute überall als erstrebenswert - nicht mehr nur in der kleinen Gruppe europäischer Länder, die Ende des 19. Jahrhunderts dieses Feld dominierten. Laut Artikel 22 und 25 der von den Vereinten Nationen verabschiedeten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gehört der Zugang zu sozialer Sicherung inzwischen zu den Grundrechten. Aber natürlich ist das Recht in verschiedenen Ländern in ganz unterschiedlichem Maß und auf unterschiedliche Weise verwirklicht – entsprechend den jeweiligen Traditionen, dem sozioökonomischen Entwicklungsstand und den vorherrschenden politischen wie sozialen Anschauungen. Vielleicht beruht die weltweite Attraktivität, die das Konzept der sozialen Sicherung genießt, gerade darauf, dass es gut an besondere örtliche Bedingungen – wirtschaftliche, soziale, politische wie ideologische – angepasst werden kann. Als Mechanismus, um zumindest einige menschliche Bedürfnisse zu befriedigen, ist soziale Sicherheit mittlerweile fast weltweit anerkannt: Mindestens 178 Länder verfügen über Programme der sozialen Sicherung. Verbunden mit der weltweiten Ausbreitung des Konzepts während der letzten hundert Jahre war die Übertragung von Werten, die im wesentlichen aus dem Europa des 19. Jahrhunderts stammen, und von Verwaltungs- und Finanzpraktiken des 20. Jahrhunderts.
Obwohl die Vorrichtungen für die soziale Sicherung sehr vielgestaltig sind, lassen sich sieben klar unterscheidbare Strategien feststellen: die Sozialversicherung, die Sozialhilfe mit Bedürftigkeitsprüfung (social assistance), staatliche Zuschüsse ohne solche Prüfung (social allowances), obligatorische öffentliche Sparprogramme (National Provident Funds), Haftungspflichten für Arbeitgeber, obligatorische berufsbezogene Renten- oder Sparprogramme sowie obligatorische private Renten- und Sparprogramme. Sowohl Industrie- als auch Entwicklungsländer haben Systeme der Sozialsicherung aufgebaut, indem sie eine oder mehrere dieser Strategien übernommen und an ihre Bedingungen angepasst haben.
Die Ausgestaltung der Sozialversicherungssysteme in den Entwicklungsländern war zum einen von deren Erfahrungen aus der Kolonialzeit inspiriert; dies wird daran deutlich, dass im frankophonen Afrika das französische System nachgeahmt wurde und die ehemaligen britischen Kolonien auf National Provident Funds und Sozialhilfe zurückgegriffen haben. Zum anderen haben die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), die den Aufbau von Sozialversicherungen befürwortet, und in jüngerer Zeit auch die Weltbank, die für eine obligatorische private Vorsorge über den Markt eintritt, den Entwicklungsländern Modelle geliefert.
Das Ergebnis ist, dass es fast überall auf der Welt Systeme der sozialen Sicherung gibt. Die meisten Länder haben versucht, ein Netz von Einkommensersatzleistungen zu knüpfen, das ihre aufstrebenden Mittelschichten gegen Einkommensausfall sichern und ihnen Schutz vor Verarmung bieten sollte. Zur Armutsbekämpfung oder auch nur zur sozialen Entwicklung trug die Sozialsicherung in den meisten Entwicklungsländern wenig bei. Tatsächlich war sie irrelevant für die Grundversorgung der meisten Menschen – und darunter leider die Bedürftigsten – in den meisten Ländern während des größten Teils des 20. Jahrhunderts.
Die Grundwerte einer Gesellschaft und ihre Ansichten über soziale Sicherheit sind ein entscheidender Faktor für die Entwicklung von Systemen der sozialen Sicherung in dieser Gesellschaft. Solche Grundwerte haben im Laufe der Zeit bestimmte Vorstellungen, Vorurteile und Vorentscheidungen über Gewinner und Verlierer der Sozialsicherung hervorgebracht, die sich zu Traditionen der Sozialsicherung entwickelt haben.
Die Praxis der Sozialsicherung im 20. Jahrhundert basiert auf Traditionen aus dem 19. Jahrhundert. Man kann sieben verschiedene Traditionslinien unterscheiden, von denen jede in der Praxis deutliche und oft tiefe Spuren hinterlassen hat.
Die erste Tradition ist die der europäischen Armenpflege. Das englische Armengesetz (Poor Law) von 1601 war, seit die Armenfürsorge nicht mehr vor allem eine religiöse Angelegenheit war, dreihundert Jahre lang für das Milieu der sozialen Sicherung bezeichnend. Mit diesem Gesetz sollten Übel wie Verbrechen, Bettelei, Trunkenheit, Vandalismus, Armut und Prostitution bekämpft werden. Denjenigen, die das "Handeln Gottes" arm gemacht hatte, also den "würdigen" Bedürftigen, gewährte die Gesellschaft widerstrebend Schutz. Die "unwürdigen" Bedürftigen hingegen, die aufgrund persönlicher Eigenschaften oder struktureller Probleme der Gesellschaft arm waren, hatten nur Verachtung und die Erniedrigung in Armenhäusern oder gar das Gefängnis zu erwarten. Ebenso wichtig war aber, dass das Armengesetz vorsah, die Fürsorge für die Armen aus einer allgemeinen Steuer und nicht aus wohltätigen Stiftungen zu finanzieren.
Die moralisierende Tradition des Poor Law hat der Sozialsicherung unauslöschlich ihren Stempel aufgedrückt. Erstens begründete sie die Vorstellung, dass Armut die Schuld der Armen sei. So wird Sozialsicherung als ein Mittel begriffen, um die Versager der Gesellschaft nicht unter ein akzeptables Überlebensniveau sinken zu lassen, damit diese keine wirkliche oder vermeintliche Bedrohung für die Allgemeinheit darstellen. Zweitens folgt nach dieser Tradition aus der Bedürftigkeit an sich kein Recht auf Sozialleistungen, sondern diese ist lediglich die Begründung für öffentliche Mildtätigkeit. Drittens wurde dadurch die Vorstellung zum Glaubenssatz erhoben, dass Unterstützungsprogramme mit Bedürftigkeitsprüfung auch Abschreckung zum Ziel und Stigmatisierung zum Ergebnis haben sollten, denn sonst würden öffentliche Mittel an "Unwürdige" verschwendet. Das Erbe dieser Tradition ist die Sozialhilfe, die in einigen Ländern, zum Beispiel Australien, Hongkong und dem Pazifikstaat Nauru, die vorherrschende Form von Sozialsicherung darstellt und in weiteren 49 Ländern als letztes Rettungsnetz dient.
Die zweite Tradition ist die des Herr-Knecht-Verhältnisses. Der Gedanke, dass Arbeitgeber eine gewisse Pflicht haben, für das Wohl ihrer Angestellten Sorge zu tragen, geht auf das Römische Recht zurück. Die rechtlichen Bestimmungen über Fahrlässigkeit und Schadenshaftung, mit denen die Idee von schuldhaftem Handeln verbunden ist, wurden im Europa des 19. Jahrhunderts stets so interpretiert, dass Arbeitgeber von jeder Verantwortung freizusprechen seien. Die humanitär motivierte Besorgnis über diese unfaire Rechtsprechung führte zusammen mit wachsenden Kosten, die den Unternehmern durch Arbeitsunfälle entstanden, nach 1850 dazu, dass die Arbeitgeber schrittweise per Gesetz für die Folgen von Arbeitsunfällen haftbar gemacht wurden. Daraus entstanden in den 1880er und 1890er Jahren Abfindungen für Arbeiter. Damit war das "Berufsrisikos" – oder die Entschädigungspflicht ohne Verschulden – als neues Rechtsprinzip eingeführt, wonach Unternehmer die volle Verantwortung für Kosten übernehmen mussten, die aus Verletzungen oder Todesfällen am Arbeitsplatz entstanden.
Die Rechtstradition der Herr-Knecht-Beziehung hat sowohl das Konzept als auch die Institutionen der Sozialsicherung stark beeinflusst. Zum einen konnten nachlässige Unternehmer für die Kosten von Arbeitsunfällen verantwortlich gemacht werden. Damit erhielten sie eine Funktion in der Sozialsicherung, und es wurde anerkannt, dass sie zu deren Finanzierung beitragen sollten. Zum anderen untermauerte diese Tradition die Anschauung, dass, wer arbeitgeberfinanzierte Sozialleistungen erhält, keine Almosen empfängt, sondern mit der Berufstätigkeit verbundene Vergünstigungen, auf die ein Rechtsanspruch besteht. Dies legitimierte ein neues Ziel der Sozialsicherung: der Armut vorzubeugen. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde die Ersatzpflicht der Unternehmer weit über die Entschädigung bei Arbeitsunfällen hinaus ausgedehnt und spielt heute eine wichtige Rolle für die Finanzierung von Krankenversicherung, Mutterschutz und Arbeitslosenunterstützung. Diese Pflicht existiert in 115 Ländern und ist besonders in Afrika von großer Bedeutung.
Die dritte Tradition ist die der betrieblichen Sparfonds (occupational provident funds). Hier handelt es sich im Wesentlichen um ein Erbe der britischen Kolonien, das seine Wurzeln im Paternalismus von sozial eingestellten Unternehmern des 19. Jahrhunderts hat. Als Reaktion auf die schockierenden Arbeitsbedingungen wäh-rend der Industriellen Revolution gründeten einige von ihnen betrieblichen Sparfonds, mit Hilfe derer ihre Angestellten für die Kosten des Alters, der Arbeitsunfähigkeit oder des Todesfalls vorsorgen konnten.
Dieser Gedanke verbreitete sich bald auch in den britischen Kolonien, wo sich die Kolonialverwaltung der Sache annahm. Mitte der 1920er Jahre fanden sich solche Fonds über das ganze Empire verstreut und darüber hinaus. Sie erwiesen sich in sozialer und institutioneller Hinsicht als nützliches Erbe, auf dem nach der Unabhängigkeit der Kolonien ein Sozialsicherungssystem aufbauen konnte. Die Tradition dieser Fonds nährte die Überzeugung, dass soziale Absicherung durch Spareinlagen erreicht werden kann. Das Erbe dieser Tradition sind die staatlichen Vorsorgefonds (National Provident Funds) – Pflichtsparprogramme, die in 20 Ländern die vorherrschende Form der Sozialsicherung darstellen, darunter in Singapur, Fidschi und Westsamoa.
Der vierte Strang ist die Tradition der Versicherung. Sie entstand in Europa Ende des 19. Jahrhunderts, als dort das private Versicherungswesen bereits weit entwickelt war. Diese Tradition beruht auf zwei Grundwerten: persönlicher Verantwortung und gegenseitiger Hilfe. Persönliche Verantwortung bedeutet die moralische Pflicht der Menschen, für ihr und ihrer Familien Wohlergehen vorzusorgen. Gegenseitige Hilfe stellt die Mittel bereit, um dieser persönlichen Verantwortung gerecht zu werden. Die ersten Vereinigungen zur gegenseitigen Hilfe waren im 16. Jahrhundert in Spanien und Portugal gegründet worden, ihre Blütezeit erreichten sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in ganz Europa, Australien und Lateinamerika.
Mit Hilfe des Modells der privaten Versicherung, zu dem das kommerzielle Interesse an solidem Finanzgebaren gehört, konnte die soziale Sicherung neu konzipiert werden: als Wirtschaftstätigkeit, die Marktgesetzen unterliegt, statt als reine Wohltätigkeit. Tatsächlich lässt sich mit der gesetzlichen Pflicht zur Rentenversicherung das Problem lösen, dass ein Teil der Bevölkerung aufgrund mangelnder Voraussicht, Unzulänglichkeit des Versicherungsmarkts und ungenügender Information freiwillig zu wenig für die Altersvorsorge anspart.
Die Versicherungs-Tradition hatte im 20. Jahrhundert entscheidenden Einfluss auf die Konzepte von sozialen Sicherung. Das Wort "Versicherung" beschwor Bilder von Sicherheit, Ehrbarkeit und tugendhafter Vorsorge herauf. Die Neudefinition der Sozialsicherung, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann, bildete zwei konkurrierende Entwicklungslinien. Die erste folgte den konservativ-autoritären Prinzipien Bismarcks, die in die Statuten der deutschen Sozialversicherung der 1880er Jahre eingeflossen waren. Diese akzeptierte nur Angehörige bestimmter Berufe, bemaß die Ansprüche gemäß den geleisteten Beiträgen sowie dem früheren Gehalt und machte sich den Solidaritätsbegriff des "Generationenvertrags" zu eigen. Diese Prinzipien bestimmten bis zum Zweiten Weltkrieg die Vorstellungen von einer Sozialversicherung und sind bis heute in Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich und großen Teilen der Dritten Welt maßgebend.
Die zweite Entwicklungslinie folgte den reformistisch-liberalen Prinzipien, die im Konzept des britischen Sozialpolitikers William Beveridge für den Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit niedergelegt sind. Hier stand im Vordergrund, alle Arten von Risiken abzudecken und die gesamte Bevölkerung einzubeziehen. Der Versorgungsanspruch wurde als erworbenes Recht gesehen, und es galt als angemessen, dass alle die gleichen Leistungen erhalten sollten, und der Staat sollte einen erheblichen finanziellen Beitrag leisten. Diese Prinzipien sind heute noch in Dänemark, Irland, den Niederlanden und Großbritannien sowie in manchen Dritte-Welt-Ländern, besonders auf Mauritius und den Seychellen, bestimmend.
Die Tradition der Versicherung veränderte gründlich den Blickwinkel, unter dem die soziale Sicherung betrachtet wird. Erstens wird damit betont, dass es nicht um die Linderung von, sondern um die vorbeugende Verhinderung von Armut gehe – also nicht um die Armen, sondern um diejenigen, die möglicherweise verarmen könnten. Damit wurden eine Reihe von biologischen und Gesundheitsrisiken benannt, die zum zeitweiligen oder endgültigen Verlust der Erwerbsfähigkeit führen könnten – Alter, Invalidität, Krankheit, Tod. Zusammen mit der Gefahr, arbeitslos zu werden, sowie den Folgen der Mutterschaft und der Aufzucht von Kindern ergab sich ein Katalog "sozialversicherungsfähiger" Risiken. Zweitens hat diese Tradition dem Bezug von Sozialleistungen das Stigma genommen und ihn zu einem erworbenen Recht gemacht, da sie sich auf die vertraglichen Rechte der Versicherten gründet. Sie hat der beitragsfinanzierten Sozialversicherung eine Legitimität verschafft, um die die aus Steuermitteln finanzierte Modelle lange kämpfen mussten. Programme der Sozialversicherung bestehen heute in 152 Ländern der Erde.
Die fünfte Tradition ist die marxistisch-leninistisch-stalinistische. Sie ist ebenfalls eine Reaktion auf die Erfahrungen der europäischen Armenpflege. Marx sah das Armengesetz als erniedrigende Bemäntelung der Armut an – ein Hilfsmittel, das der Bourgeoisie dazu dienen sollte, die Klassengesellschaft und die Ungleichheit zu festigen. In seinem festgefügten Weltbild war für die Zukunft eine egalitäre Gesellschaft vorgesehen, in der jedes Mitglied den gleichen Anteil am erwarteten Überfluss und gleiche Möglichkeiten haben sollte, zum allgemeinen Wohlstand beizutragen. Marx sagte allerdings nur wenig darüber, wie die Gesellschaft, die aus den Ruinen des Kapitalismus hervorgehen würde, im Einzelnen aussehen sollte. Er deutete nur schlicht an, dass es einen Notfonds geben würde, um die zu unterstützen, die nicht arbeiten könnten.
Lenins Konzept von sozialer Sicherheit war ausgefeilter und deutlich beeinflusst von den frühen Erfahrungen mit der Sozialversicherung in Europa. Es sah vor, dass eine Arbeitsversicherung, die alle Arbeitenden erfassen und das Arbeitseinkommen zu 100 Prozent ersetzen sollte, Schutz von der Wiege bis zur Bahre böte. Finanziert werden sollte dies von Unternehmern und dem Staat, die Verwaltung hingegen sollte von den versicherten Arbeitern eines Territoriums selbst übernommen werden. Stalin steuerte zu dieser Tradition drei macchiavellistische Beiträge bei. Der erste war, die Sozialversicherung mit Arbeitsdisziplin und materiellen Arbeitsanreizen zu verbinden. Der zweite war, politische und ideologische Konformität zur Voraussetzung für den Bezug von Leistungen zu machen, um den Sozialismus zu festigen, und der dritte, den Gewerkschaften Einfluss auf die Verwaltung der Sozialsicherung zuzugestehen. Das Erbe dieser Tradition zeigt sich in 27 postsozialistischen Ländern.
Die sechste Tradition ist die des staatlichen Wohlfahrts-Paternalismus. Sein Grundprinzip ist, dass der Staat das Recht hat, individuelle Freiheiten im Namen der Wohltätigkeit zu beschneiden. Diese Tradition hat zwei unterschiedliche, aber miteinander verwobene Erscheinungsformen: soziale Stabilität und sozialen Fortschritt. Die Stabilitäts-Variante entstammt den Erfahrungen mit dem Armengesetz und ist Ausdruck für die Weigerung einer Gesellschaft, sich den liberalen Prinzipien von individueller Freiheit und Verantwortung gänzlich auszuliefern. Die Variante sozialer Fortschritt will sich staatlicher Intervention bedienen, um den sozialen Zusammenhalt zu fördern und damit einer freien, gleichen und sicheren Gesellschaft näher zu kommen. Ihre geistigen Wurzeln liegen in der Romantik (die mit gefühlvoller Melancholie die Würde und die Rechte des Individuums feierte), im Humanismus (der sich auf die ethische Grundforderung nach größtmöglichem Glück für die größtmögliche Zahl beruft) und im Funktionalismus (der die Notwendigkeit betont, das Überleben, die Stabilität und den Wohlstand einer Gesellschaft zu sichern.)
Die Haltung, die eine Gesellschaft zum staatlichen Wohlfahrts-Paternalismus einnimmt, beeinflusst ihre Wahrnehmung von sozialer Sicherung. Die Tradition ist auch verantwortlich für die einzig neue Form von Sozialsicherung, die das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat: staatliche Zuschüsse ohne Bedürftigkeitsprüfung (social allowances). Sie finden sich in 38 überwiegend wohlhabenden Ländern, darunter Hongkong und Mauritius.
Die siebte ist die Tradition der Kommerzialisierung. Sie ist als Reaktion auf den staatlichen Wohlfahrts-Paternalismus entstanden, schöpft ihre Kraft aus dem Geist des Liberalismus und betont die Vorzüge des Individualismus. Das ideologische Fundament dieser neoliberalen Sichtweise sind einige Glaubenssätze, die sich stark auf das klassische Buch von 1776 "Wohlstand der Nationen" von Adam Smith berufen. Im Zentrum steht der Mythos des Marktes, der als effizienter und unparteiischer Verteiler der Ressourcen einer Gesellschaft gilt, sowie der Glaube, dass der öffentliche Sektor ineffizient und verschwenderisch und daher sein Geld nicht wert sei.
Während des gesamten 20. Jahrhunderts haben sich Regierungen bemüht, private Märkte für spezielle Dienstleistungen zu schaffen, die im Zusammenhang mit sozialer Sicherheit stehen. Vor dem Zweiten Weltkrieg schufen viele Regierungen einen regulierten privaten Versicherungsmarkt, indem sie Unternehmer verpflichteten, private Versicherungsverträge abzuschließen, um ihren Verpflichtungen bei Arbeitsunfällen oder sogar Krankheit der Beschäftigten nachzukommen. Seit Anfang der 1980er Jahre hat die Kommerzialisierung allerdings einen Kultstatus erreicht. Die wichtigste Folge davon ist, dass obligatorische Sozialversicherungen über den Markt angeboten werden; das geschieht in 33 Ländern in unterschiedlicher Form.
Zum einen können Regierungen Arbeitnehmer und/oder Arbeitgeber verpflichten, amtlich anerkannte Rentenversicherungen von amtlich anerkannten privaten Anbietern (einschließlich nicht gewinnorientierter Organisationen der Sozialpartner) zu kaufen, um dadurch die staatliche Sozialversicherung zu ergänzen; das ist zum Beispiel in Finnland, Frankreich, Hongkong, der Elfenbeinküste, Venezuela und Mexiko der Fall. Zum anderen kann erlaubt werden, dass private Dienstleister öffentliche Sozialprogramme abwickeln. Dies kann der Fall sein, wo staatlich anerkannte betriebsgebundene Programme bestehen (wie in Griechenland, Japan und vielen Ländern mit National Provident Funds) oder anerkannte private Sicherungen wie in Großbritannien, Peru, Argentinien und Kolumbien. Schließlich kann die Regierung Arbeitnehmer verpflichten, private Rentenversicherungen von amtlich anerkannten privaten Anbietern zu kaufen, um auf diese Weise die staatlich finanzierte Sozialversicherung abzuschaffen; Beispiele dafür sind Chile, Peru, Uruguay, Bolivien, Mexiko, El Salvador, Ungarn und Polen.
Die Sozialsicherung steht in verschiedenen Ländern vor ganz unterschiedlichen Aufgaben und Gefahren. In den meisten Industrieländern müssen die Regierungen sich mit den Folgen des Erfolges ihrer Versicherungssysteme auseinandersetzen. Hier sind alle abhängig Beschäftigten und in manchen Fällen sogar die gesamte Bevölkerung abgesichert. Die Systeme ermöglichen Renten und Leistungen, von denen sich sagen lässt, dass sie einen akzeptablen Einkommensersatz bieten, wenn Angehörige der Mittelschichten sie in Anspruch nehmen müssen. Aber die Stimmen werden lauter, die behaupten, dass die soziale Sicherung nicht nur beginnt, das moralische Kapital der Gesellschaft aufzuzehren, sondern auch den Staatshaushalt zu sehr belastet und damit das Wirtschaftswachstum gefährdet. Die Regierungen sehen sich nun schwierigen Widersprüchen im Sicherungssystem gegenüber und müssen politische und soziale Ziele anstreben, die unvereinbar sind.
Sie suchen nach Möglichkeiten, Sozialleis-tungen zu kürzen. Die Sicherungssysteme werden so umgestaltet, dass sie weniger häufig in Anspruch genommen werden können, die Zahl möglicher Leistungsempfänger sinkt und die Leistungen weniger üppig ausfallen, zugleich aber die politisch einflussreiche Wohlfahrts-Lobby und die vielen Wähler aus der geburtenstarken Generation der Nachkriegszeit nicht verprellt werden. Doch wer schon Leistungen der Sozialversicherung empfängt oder voraussichtlich in naher Zukunft in diese Lage kommen wird, fühlt sich bedroht. Dies geht so weit, dass diese Betroffenen schon bei bloßen Vorschlägen protestieren, bisherige Leistungen oder Ansprüche zu kürzen; denn sie haben sich daran gewöhnt, ein bestimmtes Niveau des sozialen Schutzes vom Staat zu erwarten.
Zu den Sorgen der Regierungen tragen einflussreiche Lobbys der Geschäftswelt bei. Für sie stellt die Aussicht, auf einem regionalen oder gar globalen Markt auftreten zu müssen, eine wirkliche oder vermeintliche Bedrohung dar, sodass sie dafür plädieren, die Lohnnebenkosten und Steuern zu senken, damit sie konkurrenzfähig bleiben oder werden. Hinzu kommt die Lobby privater Rentenversicherer, die behaupten, dass der Markt angemessenen Sozialversicherungsschutz kostengünstiger liefern kann als die öffentliche Hand. So entwirft sie das politisch verlockende langfristige Ziel – es ist fast eine Verheißung –, dass die Ausgaben der und sogar die Beiträge zur staatlichen Sozialversicherung gesenkt werden könnten. Das Dilemma wird noch verschärft durch die offensichtliche Unfähigkeit der Sicherungssysteme, sich auf die Folgen des wirtschaftlichen Strukturwandels und veränderte soziale Wertvorstellungen (insbesondere im Umgang mit Frauen und ethnischen Minderheiten) angemessen einzustellen. Langfristig bedroht zudem die Zeitbombe eines zunehmenden Anteils der Alten an der Bevölkerung die Sozialsysteme.
Die Regierungen der meisten Entwicklungsländer befinden sich in einer völlig anderen Situation: Sie müssen sich mit den Folgen des Scheiterns ihrer sozialen Sicherungssysteme auseinandersetzen. Es ist ihnen keineswegs gelungen, die soziale Sicherung auf alle Beschäftigten auszudehnen. Sie erreicht nicht die Armen, gerade auf dem Land, und vor allem nicht die Frauen. Die Sicherungssysteme können auch keine Renten und Leistungen bieten, die ihre Leistungsbezieher – diese kommen überwiegend aus der Mittelschicht – vor Armut schützen; oft wird nur eine einmalige Pauschale ausbezahlt, oder die Renten sind für alle einheitlich, völlig unzureichend und ersetzen das frühere Einkommen nur zum geringen Teil. Im allgemeinen steigen die Leistungen auch nicht mit der Inflation.
Viele Regierungen wollen erreichen, dass ihre Systeme der sozialen Sicherung besser funktionieren, um auf Wohlfahrtseinbußen reagieren zu können, die mit dem sozioökonomischen Wandel und der Modernisierung einhergeht. Sie führen neue Varianten der Sozialversicherung ein, versuchen, mehr Menschen einzubeziehen (vor allem Landarbeiter, selbstständige Bauern und andere Selbstständige), und gestalten die Versicherungsleistungen großzügiger. Das wollen sie aber erreichen, ohne ihre mageren Staatsbudgets aufzuzehren, die schon von anderen Forderungen überlastet sind. Weiteres Kopfzerbrechen bereiten den Regierungen die verbreiteten Ausfälle von Beitrags- und Zinseinnahmen (dies besonders bei Systemen mit Kapitaldeckung). Die Ursachen dafür sind negative inflationsbereinigte Erträge für Investitionen, die Korruption unter Regierungsbeamten und Unternehmern, Unfähigkeit in der Verwaltung sowie die Frustration der Beitragszahler. Diese sehen ihre Beiträge als zeitlichen Aufschub von Konsumausgaben, den sie angesichts ihres heutigen Lebensstandards sowie der mageren Renten und Leistungen, die sie zu erwarten haben und die aller Voraussicht nach von der Inflation schnell entwertet werden, kaum leisten können.
Die Lage des Staatshaushalts und der Volkswirtschaft lässt den Regierungen der meisten Entwicklungsländer wenig Spielraum, wenn sie die Sozialversicherung reformieren wollen. Die Einzelnen zum privaten Sparen zu zwingen, ist eine Strategie, die angesichts der Erfahrung in Chile sicher öfter angewandt werden wird. Sie lockt mit dem Versprechen von privatwirtschaftlicher Effizienz und dem Traum, dass Arbeitgeber gar nicht und die Steuerzahler kaum zuzahlen. Den Beschäftigten allerdings bietet sie die Aussicht auf ganz ungewisse Leistungen. Dies ist ein Wesenszug jeder Sozialsicherungsstrategie, die sich ausschließlich auf die Anhäufung von Sparguthaben verlässt. Wenn man zu Gunsten dieser Strategie auf die Versicherung verzichtet, gibt man das Prinzip auf, Risiken unter den Versicherten zu teilen, einen Grundgedanken der Sozialversicherung seit hundert Jahren.
Im Gegensatz zu Industrie- und Entwicklungsländern müssen sich die Regierungen postsozialistischer Länder mit den Folgen der Tatsache auseinandersetzen, dass ihre soziale Sicherung in der Vergangenheit für ideologische Ziele benutzt wurde. Mehr oder weniger stecken sie alle in den Wehen eines politischen und/oder wirtschaftlichen Übergangs und haben es heute mit speziellen Problemen der sozialen Sicherheit zu tun, denn sie haben Systeme der Sozialsicherung geerbt, um die sie einst von vielen beneidet wurden, die sie sich jetzt aber nicht mehr leisten können.
Anfangs versuchten die meisten postsozialistischen Länder vor allem, die Regierung dadurch von ihren finanziellen Verpflichtungen in der sozialen Sicherung zu entlasten, dass sie die Arbeitgeberbeiträge gewaltig erhöhten und den Beschäftigten nur geringe, meist rein symbolische Beiträge auferlegten. Doch das verschärfte nur das größte Problem, das manche dieser Staaten bis heute nicht angegangen sind. Sie müssen sich entscheiden, wie sie am Besten die früheren Staatsbetriebe von den Kosten für Sozialleistungen entlasten können, damit diese überlebensfähige wirtschaftliche Einheiten werden, die in einer freien Wirtschaft konkurrieren können, die sich in die Weltwirtschaft integriert. Die Verantwortung für die Finanzierung der sozialen Sicherheit muss neu verteilt werden, wobei die Beschäftigten die großen Verlierer sein werden. Das heißt auch, dass die bisherigen großzügigen Leistungen kritisch geprüft werden müssen. Leider müssen diese politischen Aufgaben genau zu einer Zeit angegangen werden, wo wirtschaftliche Erschütterungen, die die Einführung der Marktwirtschaft mit sich gebracht hat, sowohl die Arbeitsplätze unsicherer gemacht als auch den Lebensstandard gesenkt haben. Überdies ist die Demokratie noch schwach und in den Kinderschuhen. Beides trägt dazu bei, dass Entscheidungen, durch die einige an sozialer Sicherheit verlieren, schwer umsetzbar sind.
Die soziale Sicherung befindet sich zweifellos im Übergang. Auf der ganzen Welt wird man weiter nach einem besseren Kosten-Nutzen-Verhältnis in der sozialen Absicherung streben, nach besseren Leistungen zu erschwinglichen Kosten. Dazu müssen Regierungen das heikle politische Problem angehen, dass einzelne Gruppen unrealistische oder sich widersprechende Erwartungen haben. Sie müssen die Pflichten von Unternehmern, Beschäftigten und Steuerzahlern neu überdenken, während das Gespenst der Privatisierung drohend am Horizont lauert. Es ist gut möglich, dass am Ende das Prinzip, Risiken zu teilen, auf der Strecke bleibt und die Linderung der Armut als einzig legitime, wenn auch minimale, Rolle für den Staat in der Sozialsicherung übrig bleibt. Diese Anforderung wird die Tagesordnung der sozialen Sicherung bis weit ins 21. Jahrhundert hinein bestimmen.
aus: der überblick 01/2001, Seite 23
AUTOR(EN):
John Dixon:
John Dixon ist Professor am Fachbereich Sozialpolitik der Universität Plymouth in Großbritannien. Er ist Autor mehrerer Bücher, darunter "Social Security in Global Perspective" (Westport /USA 1999), auf dem dieser Artikel beruht.