In Tunesien keimt Wohlstand unter einer Decke des Schweigens
Die Menschen in Tunesien haben sich auf einfache Weise mit dem politischen System arrangiert: Sie überlassen die Politik dem Präsidenten und er gibt ihnen genug zum Leben.
von Catherine Simon
Tunesien sieht sich gern als ein Symbol einer liebenswürdigen Lebensart und als erfolgreiche Oase der Modernität im Maghreb, wo man andernorts noch darum kämpft, sich vom Vermächtnis der Vergangenheit zu befreien. Am 24. Oktober hat Präsident Zine El Abidine Ben Ali seine Wiederwahl mit mehr als 99 Prozent der Stimmen für eine dritte Amtszeit gefeiert. Im vorausgegangenen Wahlkampf hatte er besonders betont, daß Tunesien ein Land sei, welches in der herausragenden Tradition "Hannibals, Kairouans und Karthagos" stehe und welches beabsichtige, "in der vordersten Front des Marsches Richtung Fortschritt" zu gehen.
"Blödsinn," sagt ein älterer Einwohner der Hauptstadt Tunis. "In Marokko hat einst König Hassan den Boden vorbereitet und Mohammed VI hat begonnen, Veränderungen umzusetzen. Bouteflikas Algerien versucht ebenfalls, zur Normalität zurückzukehren. Sogar Libyen verändert sich ein wenig. Aber hier befindet sich alles im Stillstand." Alya, ein Universitätsprofessor, meint: "Die Entwicklung in die falsche Richtung begann mit dem Aufkommen der islamistischen Gefahr. Im Namen des Kampfes gegen den Fundamentalismus hat Ben Ali einen Polizeistaat errichtet, während ganz Tunesien weggeschaut hat. Ich garantiere Ihnen, daß die Islamisten keine Bedrohung mehr sind. Aber der einmal aufgebaute Kontrollapparat ist außer Kontrolle geraten und das Land ist unter strikterer Überwachung als je zuvor."
In den frühen neunziger Jahren, als das Durchgreifen gegen die Islamisten seinen Höhepunkt erreichte, erhielt Sihem Ben Sedrine, damals stellvertretende Generalsekretärin der Tunesischen Liga für die Verteidigung der Menschenrechte (LTDH), eines Tages einen Brief. Er enthielt Fotos eines Paares beim Liebesakt am Strand. Das Gesicht der Frau war unkenntlich gemacht worden, aber der Fototext konnte keine deutlichere Botschaft enthalten: "Sihem, die Hure".
Frau Ben Sedrine sagt, die Fotos seien auch "an Zeitungen, Freiwilligen-Organisationen, politische Parteien und sogar einzelne tunesische Intellektuelle wie Rechtsanwälte, Ärzte und Akademiker" geschickt worden. Sie habe an den Innenminister geschrieben, daß sie sich "bedroht" fühle, aber keine Antwort erhalten. Vielleicht hat er nicht reagiert, weil sie öffentlich erklärt hatte, daß nur die Polizei ein "Brief-Bombardement" solchen Ausmaßes organisiert haben könne. Ihr Ehemann fand einen weiteren Stapel Fotos und einen Spatz mit abgehacktem Kopf unter den Scheibenwischer seines Autos geklemmt. "An diesem Tag begriff ich, daß sie nicht aufhören würden und fing an, Angst um meine Kinder zu haben," sagt Ben Sedrine. "Kurz nach dem Vorfall mit dem Spatzen folgte ein Mann in Zivilkleidung meiner Tochter, als sie aus dem Kindergarten kam, und ging mit ihr ins Haus und unterhielt sich mit ihr den halben Nachmittag. Ich hätte ihn umbringen können." Auch ihre beiden Söhne seien auf der Straße von Fremden angesprochen worden, die ihnen Obszönitäten zuraunten und drohten, sie zu vergewaltigen.
Ben Sedrine ist die einzige Person, die bereit war, den Abdruck ihres vollen Namens zu gestatten. Sie ist jetzt arbeitslos und ihr Paß wurde konfisziert - wie von hunderten anderer Tunesier.
Ben Ali war im November 1987 an die Macht gekommen, als er über den Rundfunk verkündete, daß der achtzigjährige Habib Bourguiba, der "Vater der Unabhängigkeit des Landes" und Architekt des modernen Tunesiens, angesichts seines "hohen Alters und seiner sich verschlechternden Gesundheit ... in keiner Weise mehr in der Lage sei, die Verantwortung der Präsidentschaft zu tragen".
Dieser "medizinische Putsch", wie die Leute es nannten, wurde in Tunesien weithin begrüßt. Ben Ali versprach ein "Mehrparteien"-System und eine "verantwortliche Demokratie". Er präsentiert sich auch gerne als der Mann, der Tunesien vor dem Fundamentalismus bewahrt hat. In den Jahren 1991/92 sind nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen mehr als 9000 Menschen in Haft genommen worden, die verdächtigt wurden, Mitglieder der islamistischen Partei Ennahda zu sein. Von diesen sind 2000 immer noch in Haft.
Nach einem Bericht der Internationalen Menschenrechts-Föderation vom Juni 1999 werden Folter und Willkürjustiz, wie sie zur Zeit des schärfsten Durchgreifens gegen den islamischen Fundamentalismus praktiziert wurden, bedauerlicherweise fortgesetzt. In den vergangenen fünf Jahren seien sie schrittweise auf Menschenrechtsaktivisten, Demokraten und die säkulare Opposition ausgeweitet worden.
Offiziell ist Tunesien eine pluralistische Demokratie. Die Anzahl der nichtsaatlichen Organisationen (NGOs) stieg nach Angaben des Präsidentenamtes von 2.000 kurz vor Ben Alis Amtsantritt auf mehr als 7.000. Ein weiteres Zeichen größerer Offenheit ist die Tatsache, daß es vor der Wahl Ben Alis am 24. Oktober zwei Gegenkandidaten gegeben hat. Aber was die lokale Presse als eine "Wahlschlacht" beschrieb, war offenbar schon beendet, bevor es richtig begann: Einer der Gegenkandidaten erklärte, all seine Vorschläge lägen auf einer Linie mit der Politik des Präsidenten und würden ohnehin von Ben Ali im Verlauf seiner dritten Amtszeit umgesetzt.
"Wenn du in Tunesien nur die leichteste Kritik äußerst, wirst du gleich in die Schublade "Gegner des Regimes" einsortiert," sagt Ben Sedrine. "Wenn du deine Zustimmung bekennst, betrachtet man dich als suspekt. Nicht einmal Schweigen ist eine gute Idee - es kann als Zeichen dafür ausgelegt werden, daß du dich auf Abstand zum Regime hälst."
In den jüngsten Jahren entstand eine beispiellose Flut politischer Witze. Einer geht so: Treffen sich zwei Hunde. Der eine, ein dürres Gerippe voller Wunden und Narben, ist aus Algerien nach Tunesien gekommen. Alles, was er möchte, ist: ausruhen, fressen und den Krieg vergessen. Der andere, ein gepflegter, wohlgenährter und parfümierter tunesischer Hund mit einem Kettenhalsband will gerade nach Algerien trotten. Der algerische Hund ist sehr überrascht: "Warum willst Du nach Algerien? Willst Du Dich da umbringen lassen? Und selbst, wenn Du überlebst, wirst Du nichts zu fressen finden!" "Warum nach Algerien?", erwidert der tunesische Hund, "Um bellen zu können, natürlich!"
Korruption und Vetternwirtschaft sind Themen, die in Algerien und Marokko offen in Funk und Fernsehen diskutiert werden, so ein Soziologe; in Tunesien dagegen "sind sie völlig tabu". Im Jahr 1992 war der Bruder des Präsidenten, Habib Ben Ali, bekannt als Moncef, in eine Affäre verwickelt, die als "Couscous-Connection" bekannt wurde. Ein Pariser Gericht hatte ihn in Abwesenheit zu zehn Jahren Haft verurteilt. Er war angeklagt, als Kurier Geld transportiert zu haben, das von einem internationalen Drogenhändlerring gewaschen worden war. Sein Bruder empörte sich über die "Erfindungen" solcher, die "jede Gelegenheit ausnutzen, um Tunesiens Reputation in den Dreck zu ziehen", konnte aber die Situation nicht entschärfen. Pandoras Büchse war geöffnet worden. Die Auseinandersetzungen zwischen Fraktionen innerhalb des Regimes wurden so heftig, daß manche von denen, die sich schlecht behandelt oder bedroht fühlten, beschlossen, die Geheimnisse des Präsidentenpalastes auszupacken.
Vor zwei Jahren wurde eine anonyme Flugschrift über "die Familien, die Tunesien ausplündern," heimlich verbreitet. Die Broschüre beschrieb im Detail die angeblichen Vergehen einer Reihe von Ben Alis nahen Verwandten, darunter Slim Chiboub und Slim Zarrouk, der Schwiegersohn des Präsidenten, und die besonders "aggressiven" und "gierigen" elf Brüder und Schwestern von Leïla Trabelsi (Ben Alis zweiter Frau).
"Heutzutage muß jeder, der in Tunesien Geschäfte machen will, sicherstellen, daß kein Mitglied "der Familie" daran beteiligt ist," erklärt ein Diplomat. "Das ist ein grundsätzlicher Faktor, den man bei finanziellen Kalkulationen berücksichtigen muß." Das könnte erklären, warum im Inland so zögernd investiert wird. Offiziell lagen die Investitionen im Jahr 1998 bei 610 Millionen US-Dollar, den Energiesektor nicht eingerechnet.
Aber selbst die schärfsten Kritiker des Präsidenten geben zu, daß die Wirtschaft floriert. Anders als Marokko erfreut sich Tunesien eines Tourismus-Booms; die Zahl der Besucher übertraf erstmals die 5-Millionen-Marke. Die Landwirtschaft gedeiht. Die Wachstumsrate des Bruttosozialprodukts liegt über 5 Prozent und die Exporteröse haben 5,7 Milliarden US-Dollar erreicht.
Yasmina, die die Hauptstadt Tunis für das Beste in Tunesien hält, verbringt ein paar Tage im Jahr bei ihren Eltern in einem Gebirgsdörfchen in der Kaf-Region. Anders als in Tunis, wo sich die Menschen frei bewegen können, ist dieser Weiler ein Ort, wo "Frauen keine Freiheit haben: Sie dürfen nicht ausgehen, und immer paßt jemand auf sie auf". Es ist ein abgelegenes Dorf. Ein Minibus-Taxi bringt einen zum nächstgelegenen Dorf, aber von dort geht es zu Fuß oder auf dem Esel weiter. Es gibt dort keine Schule oder Arzneiausgabe; aber Wasseranschluß und Elektrizität wurden vor fünf Jahren gelegt.
Nach Yasminas Ansicht war Bourguiba "der große Mann, der Frauen die Freiheit und jedermann genug zu essen gab". Der Kodex über den persönlichen Status, den Bourguiba im Jahr 1956 kurz nach der Unabhängigkeit einführte, ist bis heute hinsichtlich der Rechte der Frau der fortschrittlichste in der gesamten arabischen Welt. Er hat die Polygamie ebenso abgeschafft wie das Recht der Männer, ihre Frau zu verstoßen (beides ist noch in Marokko und Algerien möglich), und hat die gesetzliche Scheidung eingeführt. Spätere Gesetze hoben die Pflicht für Frauen auf, ihren Mann um Erlaubnis fragen zu müssen, wenn sie einen Arbeitsvertrag abschließen, reisen, ein Bankkonto einrichten oder eine Firma gründen wollen.
Ben Ali sieht die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern als "einen Schlüssel zum Erfolg des tunesischen Modells" an, wie es in seinen Wahlkampfprogrammen stand. Als Folge von Gesetzen, die er durchgesetzt hat, kann ein minderjähriges Mädchen nicht ohne die Zustimmung ihrer Mutter verheiratet werden; die Frau schuldet ihrem Mann nicht mehr "Gehorsam" , sondern es wird erwartet, daß Partner, die jetzt heiraten, "aufeinander Rücksicht nehmen"; und geschiedene Frauen erhalten finanzielle Unterstützung, wenn "der Unterhaltspflichtige sich entzieht oder die Zahlung verweigert."
"Im Grunde genommen ist Ben Ali einer von uns - ein etwas unbeholfener Kerl aus den Provinzen, der eine Menge Brillantine und Aftershave benutzt," sagt Tahar, ein Manager in einer Fabrik, die Ersatzteile fertigt. "Doch selbst wenn er sich wie ein Mafiosi kleidet, versteht er es, das Land zu führen. Es gibt hier keinen Krieg wie in Algerien. Und wir haben keine Elendsviertel wie in Marokko."
Tahar besitzt ein Fernsehgerät, eine Klimaanlage und einen Gefrierschrank. Er ist Hausbesitzer wie 80 Prozent der 9,4 Millionen Einwohner Tunesiens. Er ist verheiratet, hat drei Kinder, und seine Frau arbeitet als Lehrerin. Er ist typisch für die Mittelklasse, die das Fundament des Regimes Ben Ali bildet. "Wenn meine Frau und ich in Casablanca oder Algier leben würden, hätten wir das hier alles nicht," sagt Tahar.
War es das, warum er Ben Ali unterstützte? "Ich unterstütze ihn nicht, ich stimme für ihn. Wir haben in diesem Land eine sehr einfache stille Übereinkunft: Wir überlassen die Politik dem Präsidenten und er gibt uns im Gegenzug genug zu essen. Das ist etwas, was du sehr schnell lernst: Man redet nicht beim Essen."
Karim, ein Landarbeiter, lebt gemeinsam mit seiner Frau und seinen drei Kindern in einem kleinen zweistöckigen Haus am Rande der Farm. Sie haben weder Strom noch fließend Wasser. Seine Frau Farida bäckt Brotfladen in einem Lehmofen im Hof. "Mit den 170 Dinar (umgerechnet 265 Mark), die ich im Monat verdiene, kann ich es mir leisten, meine Kinder zur Schule zu schicken. Aber sie müssen ihre Schularbeiten im Licht einer Petroleumlampe machen," sagt Karim, der weder lesen noch schreiben kann. Wenn er "unglücklich" ist, macht er niemand dafür verantwortlich. "Das ist der Wille Allahs," murmelt er. Was ihm Hoffnung macht, das sind seine Kinder und das kleine Haus, welches er in einem Nachbardorf zu bauen begonnen hat. Seine jüngste Tochter, vierjährig, hat schon eine Vorstellung von ihrer Zukunft: "Ich werde mal eine Ärztin", sagt sie. Ihr Vater hört ihr aufmerksam zu und meint: "Wenn sie in der Schule gut ist, warum nicht?"
aus: der überblick 04/1999, Seite 56
AUTOR(EN):
Catherine Simon:
Catherine Simon ist Korrespondentin in Tunis und schreibt für Le Monde. Dieser Artikel ist ein Nachdruck eines Le Monde-Artikels aus dem Guardian Weekly vom 4.-10. November 1999.