Die entführte Sicherheit
Ohnmächtig stehen die Bewohner im Großraum Buenos Aires den zunehmenden Gewaltverbrechen gegenüber. Während Kleinkriminelle Entführungen oft nur vortäuschen oder im Schnellverfahren durchziehen, gehen die großen Banden mit generalstabsmäßiger Planung vor. Weil sie von Polizeibeamten gedeckt werden und ungestraft bleiben, können sie so erfolgreich operieren. Politiker wollen dem organisierten Verbrechen jetzt mit Reformmaßnahmen im Sicherheitssektor zu Leibe rücken.
von Antje Krüger
Keiner von all denjenigen, die sich am späten Nachmittag des 1. April 2004 vor dem Kongressgebäude in Buenos Aires eingefunden hatten, hätte vorher geglaubt, an einem historischen Akt teilzunehmen. Niemand hatte mit 130.000 Menschen gerechnet, die sich noch in den Seitenstraßen rund um den riesigen Platz drängten. Denn zum Protestmarsch aufgerufen hatte kein Politiker, kein Gewerkschafter, keine Massenorganisation. Nur ein Vater. Juan Carlos Blumberg, ein Unternehmer aus Buenos Aires, der seinen Sohn verloren hatte. Und die ganze Stadt schrie auf vor fassungsloser Wut.
Die Entführung und Ermordung des 23-jährigen Studenten Axel Blumberg wenige Tage zuvor war der Auslöser dafür, dass die angestaute Angst, das Entsetzen und die Ohnmacht alle Dämme brechen ließ. Bis dato hatten die Argentinier die Nachrichten von Entführungen, Erpressungen und Mord allein in ihren Wohnstuben verfolgt. Nachrichten, die in dieser Art immer häufiger wurden. Jetzt aber gingen sie auf die Straße. Sie demonstrierten gegen die Straflosigkeit, gegen die mafiösen Verwicklungen von Verbrechern, Polizisten und wahrscheinlich auch Politikern. Sie erhoben ihre Stimme gegen eine ausufernde Kriminalität, die ein politisches Problem zu werden droht. Axel Blumberg, der am 17. März 2004 entführt und nach einer gescheiterten Lösegeldübergabe ermordet wurde, ist Symbol geworden für das Aufbegehren gegen das organisierte Verbrechen, das immer stärker das gesellschaftliche Leben Argentiniens bestimmt. Längst ist es in dem Land zu einem Teufelskreis aus Kriminalität und Korruption gekommen, in einem Pokerspiel um die Macht, dessen Brutalität die Bürger fast wehrlos ausgeliefert sind.
Die Kriminalität ist nach der Arbeitslosigkeit die zweitgrößte Sorge der Argentinier, wie eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Centro de Estudios de Opinión Pública (CEOP) zeigt. Überfälle auf Bekannte und Verwandte gehören mittlerweile ebenso zu den alltäglichen Gesprächen wie der plötzliche Regen gestern oder die Hitze heute. Es gibt kaum eine Institution, der noch zu trauen ist. Und wer bei der Polizei Anzeige erstatten will, bekommt als erstes den Hinweis auf eine Rechnung für den Verwaltungsaufwand. “Da wird man bestohlen und soll auch noch dafür bezahlen”, ereifert sich Horacio Lovaglio, der überfallen wurde, als er seine Bank verließ. Die meisten ziehen deshalb ihre Anzeigen wieder zurück. Deshalb ist die Dunkelziffer der Delikte enorm hoch. Dies eingerechnet, bleibt die Statistik dennoch erschreckend. Von tausend gemeldeten Verbrechen werden nur 16 bestraft.
Unsicherheit und Misstrauen sind die ständigen Begleiter in Buenos Aires. Unsichtbar-sichtbar zeigt sich die Angst in der Stadt. Kein Fenster ohne Gitter, die Jalousien in der ersten Etage sind auch bei Tage immer heruntergelassen. Taxifahrer schieben den Sitz neben sich bis zum Anschlag nach vorn, damit keiner plötzlich einsteigen und Fahrer und Passagier bedrohen kann. Die Türen sind verriegelt. Der Griff zum kleinen schwarzen Hebel erfolgt schon automatisch. Selbst viele Restaurants und Läden mit laufendem Betrieb bleiben mit Gittern verschlossen. Begehrt man als Kunde Einlass, muss man klingeln. An jeder zweiten Ecke steht nachts ein Polizist mit Schlagstock und kugelsicherer Weste. Die Zeitungen sind voll von Stellenangeboten für private Wachschutzeinheiten. Diese Sicherheitsmaßnahmen sind derart normal geworden, dass das Gewimmel auf den Straßen zunächst den Anschein erweckt, als sei alles in Ordnung. Zumal die Delikte, die am meisten gefürchtet sind, die Entführungen, im Moment der Tat kaum mit öffentlichem Aufsehen verbunden sind. Vor allem dann nicht, wenn die Erpressung nur ein Trick ist.
Es war ein Sonnabend wie jeder andere. Juan Gómez hatte Stunden auf seine Garderobe verwandt. Nichts war wichtiger als das richtige Outfit an diesem Abend. Der 18-Jährige war mit seinen Freunden zum Tanzen verabredet. Am Eingang der Diskothek, sie waren schon fast drinnen, stoppt sie ein Trupp von Animateuren. Ein Gewinnspiel gefällig? Ein neues Auto, eine Reise? Warum nicht? Schnell füllt Juan den Fragebogen mit seinen persönlichen Daten aus: Name, Adresse, Alter, Telefonnummer. Dann verschwindet er im ersehnten Dunkel der Tanzfläche.
Im Hause Gómez schrillt kurz darauf das Telefon. Verschlafen hebt Juans Vater ab. Am anderen Ende eine Männerstimme: “Wir haben ihren Sohn entführt. Wenn wir bis um drei Uhr nachts tausend US-Dollar Lösegeld haben, kommt er in den Morgenstunden unversehrt nach Hause”, sagt der Unbekannte. Die Eltern sind plötzlich hellwach. Entsetzt kratzen sie jeden Peso zusammen, den sie auf die Schnelle auftreiben können, rufen bei Freunden an und bitten um Geld. Im letzten Moment bekommen sie die geforderte Summe zusammen. Die wenigen Ersparnisse, die sie noch im Haus hatten, sind weg.
Es dämmert schon, als Juan die Diskothek verlässt. Die Ohren summen vom Lärm. Leise schließt er die Wohnungstür auf, um die Eltern nicht zu wecken. Kaum setzt er den Fuß auf die Schwelle, fällt ihm seine Mutter völlig aufgelöst um den Hals. Sie hat tiefe Ringe unter den Augen. Was ist denn los? Langsam setzen sie das Puzzle zusammen. Es war das Gewinnspiel. Juan hatte es schon längst vergessen. Weder ein Auto noch eine Reise sind je verlost worden. Der Fragebogen war eine Falle. Die Täter wussten Juan bis zum Morgengrauen in der Diskothek, Zeit genug, die Eltern auszunehmen. Der “Preis” ging auf Kosten der Familie.
Diese Geschichte, die wie ein böser Scherz klingt, ist bitterer Alltag in Argentinien. Manche Opfer, wie Juan, werden nur virtuell entführt, andere im Schnellverfahren. Auf der Straße abgefangen, werden sie zwei, drei Stunden festgehalten, bis das Lösegeld gezahlt wird. Die Summen sind nie sehr hoch bei diesen Expressentführungen, doch die Menge macht’s. In den vergangenen beiden Jahren hat sich die Zahl der Entführungen versechsfacht, von 46 Fällen im Jahr 2001 auf 306 im Jahr 2003, über 70 Prozent davon im Schnellverfahren. Expressentführungen sind zur Geldbeschaffung mittlerweile so geläufig wie bewaffnete Überfälle. Pro Woche befinden sich schätzungsweise zehn Personen kurzzeitig in den Händen von Entführern. Die meisten Fälle werden jedoch gar nicht erst gemeldet.
Hohe Lösegeldsummen werden dagegen bei Angehörigen bekannter Persönlichkeiten im Land verlangt. Hier sind vor allem die reichen Wohngebiete im Norden von Buenos Aires betroffen. Das Vorgehen der Entführer wird dabei immer brutaler. Immer wieder dienen abgeschnittene Finger als Druckmittel. Laut Angaben aus dem Sicherheitsministerium wurden allein im Zeitraum vom Januar 2003 bis zum März 2004 insgesamt 3,32 Millionen Pesos Lösegeld gezahlt, etwa 920.000 Euro. Das sind 16 Prozent der geforderten Summe von 23,9 Millionen Pesos ( 6,7 Millionen Euro).
Während die virtuellen Kidnappings und die Expressentführungen zumeist von Kleinkriminellen in einer Art Hauruckverfahren, wo immer sich gerade eine gute Gelegenheit auftut, durchgeführt werden, sind die Banden bei den großen Entführungen außerordentlich gut organisiert. Das Verbrechen, an dem mindestens vier verschiedene “Operationsgruppen” beteiligt sind, wird mit militärischer Genauigkeit geplant. Die Polizei geht von insgesamt fünf bis sechs großen Banden aus. Die häufige Verwicklung von Polizisten in diese Fälle ist inzwischen nachgewiesen. Da wird im Haus eines Entführten genau zur Tatzeit ein Anruf aus der nahen Polizeizentrale registriert. Ein Helfer in Uniform hatte die Täter vor seinen anrückenden Kollegen gewarnt. Da verschwindet eine Tatwaffe aus dem Streifenwagen, der das Beweisstück zur zuständigen Stelle bringen sollte. Ein Mitglied einer Bande sagt im Gefängnis aus: “Niemand kann am helllichten Tag, bewaffnet, in den gut gesicherten Bezirken der Reichen jemanden entführen, ohne von der Polizei gedeckt zu werden”.
Entführungen und organisierte Kriminalität als eines der vorrangigen Themen im Land beschäftigen Argentiniens Präsidenten Néstor Kirchner schon seit längerem. Er selbst hat - nachdem auch in der Casa Rosada, dem Regierungsgebäude, Drohanrufe eingingen - die Korruption im Polizeiapparat für die Unsicherheit auf Argentiniens Straßen verantwortlich gemacht - und gehandelt. Gegen die beiden Chefs der Bundes- und Provinzpolizei von Buenos Aires, Roberto Giacomino und Alberto Sobrado, wird prozessiert, die gesamte Führungsriege wurde abgesetzt und weitere, ranghohe Polizisten sitzen in Haft. Mehr als 1400 Mitglieder der Sicherheitskräfte sind schon wegen Rechtsverstößen im Amt entlassen worden. Die Mitarbeiter der Provinzpolizei von Buenos Aires sollen sich jetzt regelmäßig psychologischen Tests unterziehen, und die Spitze wird zusätzlich von zivilen Personen und nichtstaatlichen Organisationen kontrolliert.
Doch erst, nachdem die Regierung von der gewaltigen Wut und dem Entsetzen der Massen nach dem Entführungstod von Axel Blumberg überrascht wurde, verabschiedete sie den Plan Estratégico de Justicia y Seguridad 2004-2007, einen strategischen Sicherheits- und Justizplan für die Jahre 2004 bis 2007. Investitionen von einer Milliarde Pesos, 278 Millionen Euro also, für die kommenden drei Jahre sind darin vorgesehen.
“Der Kern des Sicherheitsproblems ist die Straflosigkeit”, hatte Präsident Kirchner gesagt, als er den Plan vorstellte. Genau deshalb liegt einer der Schwerpunkte der Reform auf der Umgestaltung des Justizwesens. Um der Korruption entgegenwirken zu können, sollen Bürgerkontrolle und zivile Beteiligung unterstützt werden. Die Ämter der abgesetzten Chefs der Polizei von Buenos Aires sind an Zivilpersonen vergeben worden. Einer der wichtigsten Punkte jedoch ist die Gründung der Fuerza Federal de Seguridad, einer Bundessicherheitstruppe für komplexe Verbrechen mit einer eigenen Abteilung für Ermittlungen und einem zivilen Chef. Bisher hatte eine solch übergeordnete Sicherheitstruppe gefehlt. Und über die Arbeitsweise der einzelnen Provinzpolizeibehörden gab es kaum Kontrolle.
Diese neue Einheit arbeitet eng mit der Dirección des Investigaciones contra el Secuestro Extorsivo (DICSE), einer Spezialeinheit für Entführungsfälle, zusammen. Auch diese Einheit wurde erst im März 2004 gegründet. Insgesamt ermitteln hier 120 speziell ausgebildete Polizisten. Wichtig war, dass sie allesamt noch keine lange Laufbahn hinter sich haben, so dass enge persönliche Kontakte zur Verbrecherszene ausgeschlossen werden können. Auf diese Weise will man versuchen, den mafiösen Verbindungen von Entführern und Polizisten entgegenzuwirken oder sie gar nicht erst entstehen zu lassen.
“Ihre Papiere, bitte”, fordert streng der Sicherheitsbeamte im weißen Hemd. “Zu wem wollen Sie? Wie lange werden Sie bleiben?” Die Fragen stellt er jeden Tag. Sorgsam notiert er die Antworten in ein Buch auf seinem Schreibtisch. Erst, als alles registriert ist, öffnet sich das große Gittertor. Er winkt uns hindurch und weist noch den Weg. “Immer um den Teich herum. Das gelbe Eckhaus rechts ist dann das Haus ihres Freundes”. Das Auto setzt sich auf dem knirschenden Kies in Bewegung. Der Kaffee steht bei Gustavo Scarpato bestimmt schon auf dem Tisch - wir sind avisiert.
Vor einem Jahr, als sich das zweite Kind ankündigte, beschlossen Gustavo und seine Frau, nun doch in ein Barrio Cerrado, ein eingezäuntes Wohnviertel mit Sicherheitspersonal und Kontrolle am Eingang, zu ziehen. “Es ist ein goldener Käfig”, gibt der Werbefachmann zu. Eine heile, sichere Welt, auf ein paar Quadratkilometer begrenzt. Das Auto braucht keine Alarmanlage, um unversehrt zu parken, die Wohnungstür kann offen bleiben, man kennt die Nachbarn. Alle müssen die allgegenwärtige Kontrolle am Eingang passieren. Der Wachmann schafft, was Selbstverständlichkeit sein sollte - Vertrauen. Deshalb boomen die Barrios Cerrados im Umkreis von Argentiniens Metropole. Es sind nicht mehr nur die Reichen, die sich einschließen. Vor allem die Mittelschicht sucht ein Fleckchen sichere Erde. “Wir sind wegen der Kinder hergezogen. Hier kann unser Sohn den ganzen Tag alleine draußen spielen. Trotzdem, das Leben hier hat schon etwas Fiktives”, bekennt Gustavo.
Jedoch auch hinter dem hohen Zaun lässt sich nur schwer der Wirklichkeit entfliehen. Zumal das Thema Kriminalität schon längst Teil eines Machtgezerres ist, das möglicherweise bei den nächsten Gouvernementswahlen im Jahr 2005 in der Provinz Buenos Aires entschieden wird. Denn in diesem Teil des Landes laufen mehrere Fäden zusammen. Zum einen ist der Siedlungsgürtel rund um die Hauptstadt am meisten von den Entführungen, Raubüberfällen und Morden betroffen. Zum anderen ist diese Provinz die mächtigste in Argentinien und ihre Regierung von großem Gewicht in der nationalen Politik. Und zum dritten treffen hier die beiden bedeutendsten Politiker aufeinander, Präsident Néstor Kirchner und sein Parteifreund und -feind Eduardo Duhalde. Beide ringen um die Führung in der peronistischen Partei (PJ) und damit um die ideologische Vorherrschaft im Land. Es gibt viel zu verlieren. Es geht entweder um den weitgehenden Erhalt politischer Strukturen, die vor allem von Klientelismus und Vetternwirtschaft geprägt sind und in den neunziger Jahren unter Präsident Carlos Menem (PJ) eingeführt wurden, oder um eine Reformpolitik, die mit dieser Korruption aufzuräumen versucht. Die Provinz Buenos Aires unter ihrem inoffiziellen Chef Duhalde ist eine Bastion der alten Politik.
Die Angst der Menschen wird dabei als politische Waffe genutzt. Sie ist bewährtes Mittel, um Druck auszuüben und Positionen zu schwächen. Es halten sich hartnäckig die Gerüchte, dass die Entführungen und die Unsicherheit missbraucht werden, um den enormen Rückhalt des Präsidenten in der Bevölkerung zu schwächen. Néstor Kirchner selbst verweist dies ins Reich der Spekulation. Doch es ist offensichtlich, dass trotz aller eingeleiteter Gegenmaßnahmen die Gewaltverbrechen, wie die Entführungen in der Provinz Buenos Aires, an Brutalität zunehmen und immer besser organisiert sind. Kirchners Reinemachen im Polizeiapparat zeitigt anscheinend keine Ergebnisse. Letztendlich geht es um viel mehr als die Entführungen. Diese werden so lange kein Ende haben, bis die Frage - jetzt immer häufiger gestellt - nicht endlich geklärt wird: Wenn die Polizei ungestraft Verbrecher deckt, wer deckt dann die Polizei?
aus: der überblick 04/2004, Seite 88
AUTOR(EN):
Antje Krüger:
Antje Krüger arbeitet als freie Journalistin in Berlin mit Schwerpunkt Südamerika und bereist häufig diesen Kontinent.