Eindrücke von der 9. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen
In deiner Gnade, Gott, verwandle die Welt lautete das Leitwort der 9. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK). Dass es sich dabei nicht um einen frommen Wunschtraum handeln muss, sondern dass es reale Chancen der Verwandlung dieser Welt gibt, davon konnten sich deutsche Delegierte bei einem Exposure-Programm überzeugen, das der Vollversammlung vorausging und von der Diakonie-Stiftung der Lutherischen Kirche in Brasilien (IECLB), einem Partner von Brot für die Welt und dem Evangelischen Entwicklungsdienst, organisiert worden war.
von Klaus Wilkens
Dabei kam es unter anderem zu einer Begegnung mit Familien, die sich zu einer Kooperative zusammengeschlossen hatten und ökologischen Landbau betrieben. Noch vor wenigen Jahrzehnten hatten sie in totaler Abhängigkeit von Unternehmen des Agrobusiness leben müssen, welche die landwirtschaftlich nutzbaren Flächen mit Soja-Monokulturen verödeten und ihnen alle Überlebenschancen nahmen. Inzwischen haben sich ihre Existenzbedingungen erstaunlich verändert: Mit Unterstützung durch die Hilfswerke konnten ihnen ausreichende Anbauflächen beschafft und Berater zur Seite gestellt werden. So schafften sie es, auf ihrem neuen Land diversifizierten biologischen Anbau zu betreiben. Stolz und selbstbewusst führten sie uns über ihre fruchtbaren Felder, auf denen sie Gemüse aller Art und Beerenobst ernteten. Im Rahmen des Null-Hunger-Programms der Regierung verkaufen sie ihre Produkte zu günstigen Preisen auf den umliegenden lokalen Märkten. Schien noch vor wenigen Jahrzehnten die Landflucht ihr unausweichliches Schicksal zu sein, so wussten sie sich jetzt auf ihrem Grund und Boden zu Hause und sahen gute Zukunftschancen für sich und ihre Kinder.
Als es einige Tage später auf der Vollversammlung des ÖRK um Verwandlungen im Weltmaßstab ging, da wurde zwar immer deutlicher, dass ein würdevolles Überleben und Zusammenleben der gesamten Menschheit nur dann denkbar ist, wenn es in absehbarer Zeit zu einschneidenden Veränderungen vor allem in der Weltwirtschaft kommt. Aber es wuchs auch die Ratlosigkeit, was die Kirchen verantwortlich unternehmen können, um sich nicht mit der Bitte: Gott, verwandle die Welt zu begnügen. Im Ergebnis hat diese Vollversammlung das ist meine Überzeugung immerhin die Voraussetzungen dafür verbessert, dass die Kirchen ihre Rolle hinsichtlich notwendiger Verwandlungen in der Welt verantwortlich wahrnehmen können.
Das liegt einmal daran, dass diese Vollversammlung durchaus Bodenhaftung hatte. Gewährleistet wurde dies einmal durch über 350 Veranstaltungen des multirão, die allen Personen, Gemeinden und Organisationen offen standen, die an dem Geschehen der Vollversammlung teilhaben wollten. Der Begriff multirão stammt aus der Sprache brasilianischer Indios. Er bezeichnet einen Ort der Begegnung, an dem man gemeinsam nachdenken, einander herausfordern und inspirieren und gemeinsam arbeiten und feiern kann. Mit einem reichhaltigen und vielfältigen Programm (mit dem Schwerpunkt Lateinamerika und Karibik) waren diese Veranstaltungen offizieller Bestandteil der Vollversammlung. Über 2000 Personen (vornehmlich aus Lateinamerika) nahmen daran teil und haben den Teilnehmerkreis der Vollversammlung erheblich erweitert. Hier bot sich die Gelegenheit, Menschen aus anderen Weltregionen und anderen Traditionen persönlich zu begegnen und miteinander darüber nachzudenken und zu diskutieren, wie wir Wegbereiter der verwandelnden Kraft Gottes in der Welt sein können. Bodenhaftung gewann die Vollversammlung auch durch drei Ökumenische Gespräche mit insgesamt 22 Gesprächsrunden, deren Beratungsergebnisse in die Beratungen der zuständigen Ausschüsse der Vollversammlung eingebracht wurden.
Auf einer ganz anderen Ebene verliefen die täglichen Plenarsitzungen, die in ihrem Stil, ihren Inhalten und ihrer Atmosphäre deutlich herausgehoben waren. Hier gab es allerdings keine Aussprachemöglichkeiten es sei denn, dass darauf energisch gedrungen wurde. So zeigten sich keine Konflikte, sondern es gab vorwiegend vorgefertigte Präsentationen, viel Choreografie und wenig Theologie, wie jemand treffend bemerkte. Das Ergebnis waren allgemein gehaltene, rund gedrechselte Erklärungen.
Dabei darf freilich nicht übersehen werden, dass von den Auftritten einzelner Persönlichkeiten im Rahmen dieser Plenen kräftige Impulse ausgingen. So sprach sich der Moderator des ÖRK, seine Heiligkeit Aram I., der Katholikos der Armenischen Apostolischen Kirche, in seinem letzten Bericht vor der Vollversammlung angesichts der gegenwärtigen gesellschaftlichen Umwälzungen eindrücklich für eine Öffnung der Kirchen aus: Sie seien heute dazu herausgefordert, über ihre institutionellen Grenzen hinauszugehen, ihre traditionellen Ausdrucksformen zu transzendieren und die Menschen an der Basis einzubeziehen. Jahrhunderte lang haben dogmatische, ethische, theologische, ethnische und konfessionelle Mauern bzw. Grenzziehungen unsere Kirchen geschützt. Ich frage mich, ob diese Mauern die Kirchen (...) auch in Zukunft noch schützen können. Einige Kirchen hätten auf die gesellschaftlichen Umwälzungen mit dem Rückzug in ihre nationalen, konfessionellen oder institutionellen Grenzen reagiert, um ihre Besonderheit zu bewahren. Und er warnte: Die Kirche kann die Welt nicht verwandeln, wenn sie in ihrer Festung bleibt; (...) sie muss nach draußen gehen.
In ähnlicher Weise wandte sich Erzbischof Rowan Williams, das Oberhaupt der Anglikanischen Kirche von England, in seinem Referat über christliche Identität und religiöse Pluralität gegen Abgrenzungen, die mit dem Christ-Sein nicht vereinbar sind: Ein Christ zu sein heißt nicht, den Anspruch auf absolutes Wissen zu erheben, sondern Anspruch auf die Perspektive zu erheben, die unsere zutiefst verwurzelten Verletzungen und Ängste verwandeln wird und so die Welt an ihrer wichtigsten Ebene verändert. (...) In einem bestimmten Sinn ist hier Exklusivität unmöglich, jedenfalls die Exklusivität eines Systems von Ideen und Folgerungen, das den Anspruch erhebt, endgültig und absolut zu sein. Der Ort Jesu ist offen für alle, die sehen wollen, was Christen sehen, und werden wollen, was Christen werden. Und kein glaubender Christ besitzt so etwas wie eine Landkarte, die anzeigt, wo genau die Grenzen des Ortes Jesu fest zu legen sind, oder einen Schlüssel, um andere aus- oder einzuschließen.
In das gleiche Horn stieß in seiner unnachahmlichen Weise Erzbischof Desmond Tutu, Südafrika. Auf einer Pressekonferenz, bei der es um die Einheit der Kirchen ging, fragte ich ihn, ob es nicht Grenzen der Kirchengemeinschaft gäbe, beispielsweise dann wenn eine Kirche sich zum Komplizen einer Regierung mache, die eine mit dem Evangelium unvereinbare Politik verfolge. Seine Antwort: Wir versuchen nach wie vor, Gott Grenzen zu setzen. Wir nehmen die Tatsache nicht ernst, dass Gott der Gott aller Menschen ist. Er umfasse mit seiner Liebe alle Menschen, sogar George Bush, Osama bin Laden und Saddam Hussein.
Diese Voten brachten ohne Frage auf den Punkt, was sich in den Veranstaltungen des multirão und der Ökumenischen Gespräche sowie in den Morgen- und Abendandachten als wachsende Gewissheit unter den Teilnehmenden ausgebreitet hatte: die spürbare Gewissheit einer Gemeinschaft, welche die Unterschiede, Differenzen und Konflikte untereinander nicht leugnet, die aber erfahrbar wird, wo man einander begegnet.
Wenn der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Bischof Dr. Wolfgang Huber, in letzter Zeit betont, dass wir heute eine Ökumene der Profile brauchen (siehe das anschließende Interview), oder wenn Landesbischöfin Dr. Margot Käßmann dafür eintritt, dass wir die Stimme der reformatorischen Kirchen auf Weltebene hörbar machen müssen, dann muss das nicht im Widerspruch stehen zu den Impulsen, die von der Vollversammlung ausgegangen sind und auf Öffnung der Kirchen und der Ökumene zielen. In der Tat setzen ökumenische Begegnungen ja voraus, dass man bereit und in der Lage ist, sich in seiner je eigenen Besonderheit zu stellen und wahrnehmbar zu machen. Gestaltlose Nebel begegnen sich nicht, hat schon Goethe gesagt.
Freilich ist nicht auszuschließen, dass das Bestehen auf eigenem Profil auch denen entgegen kommt, die angesichts des globalisierten Marktes religiöser Möglichkeiten von der Sorge umgetrieben sind, ihre Kirche könne durch ökumenisches Engagement einen bedrohlichen Identitätsverlust erleiden. Ohne Frage ist es diese Sorge gewesen, welche die Russische Orthodoxe Kirche auf der 8. Vollversammlung des ÖRK in Harare 1998 bis an den Rand des Bruchs mit dem ÖRK getrieben hatte. Damals hatte der orthodoxe Theologe Anastasios Kallis geschrieben, dass die Orthodoxie Gefahr läuft, zumal in Zeiten geistiger Bedrängnis, ihre Identität mehr durch Abgrenzung als durch selbstkritische Reflexion zu pflegen.
Ich frage mich und sehe mich darin seit der Vollversammlung in Porto Alegre bestärkt, ob nicht auch uns in unseren Kirchen eine solche selbstkritische Reflexion sehr wohl anstehen würde. Denn Abgrenzungserscheinungen gegenüber der Ökumene kann man auch hier beobachten. So sieht sich beispielsweise der Rat der EKD veranlasst, in seine Stellungnahme zum Abschlussbericht der Sonderkommission zur orthodoxen Mitarbeit im ÖRK die Empfehlung aufzunehmen, der ÖRK könne in moralisch-ethischen Fragen nicht für die Kirchen Stellung beziehen oder ihnen bestimmte ethische Positionen vorschreiben.
Was aber ist das Ergebnis dieser Vollversammlung? Mit Pfarrer Thomas Wipf, dem Präsidenten des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes, bin ich überzeugt, dass der ÖRK aus dieser Vollversammlung gestärkt hervorgegangen ist. Für diese Einschätzung sprechen verschiedene Gründe. Einmal hat die Arbeit der Sonderkommission zur orthodoxen Mitarbeit im ÖRK den kritischen Grundsatzfragen der Orthodoxen an den ÖRK in mancherlei Hinsicht Rechnung getragen und so dazu geführt, dass sich innerhalb des ÖRK ein entspannteres Miteinander bemerkbar macht: Das Feindbild unter den Orthodoxen von den westlichen, protestantischen Kirchen bröckelt. Aber ihre Spannungen untereinander treten wieder deutlicher hervor. Orthodoxen Kirchenführern, die auf einer Veranstaltung im Rahmen des multirão die Einheit unter den orthodoxen Kirchen beschworen, wurde darum von Angehörigen der orthodoxen Jugendorganisation Syndesmos lebhaft und recht aufmüpfig widersprochen. Jedenfalls ist auf dieser Vollversammlung die Bedeutung der weltweiten, kirchlichen Gemeinschaft im ÖRK erneut bewusst und erfahrbar geworden.
Die Vermutung, dass der ÖRK in Porto Alegre an Stärke gewonnen hat, hat auch andere Gründe. Es ist das Verdienst dieser Vollversammlung, dass sie das Problembewusstsein im Blick auf die bestehenden und bevorstehenden Gegensätze in der Weltwirtschaft erweitert und vertieft hat. Dabei wurde deutlich, dass es dabei nicht nur um wirtschafts- und ordnungspolitische Fragen geht, mit denen sich Experten und Gremien zu beschäftigen haben, sondern in den Augen großer Schichten der Bevölkerung im Süden um Fragen auf Leben und Tod, um Fragen auch, die ihr Selbstwertgefühl, ihre Lebensperspektive unmittelbar betreffen.
In Porto Alegre wurde spürbar, dass wir auf einen Nord-Süd-Konflikt zugehen, der dem hinter uns liegenden Ost-West-Konflikt möglicherweise an Gefährlichkeit nicht nachsteht. Typisch war die Stimmung, die sich in einer Bibelarbeitsgruppe, an der nur Lateinamerikaner teilnahmen, in Äußerungen entlud wie diesen: Erst haben sie uns kolonisiert, dann haben sie jeden Widerstand gegen die Kolonisierung gebrochen und heute verbieten sie uns, über die Ungerechtigkeit der Globalisierung zu reden, weil wir Ideologen seien. Ein wesentliches Ergebnis dieser Vollversammlung ist also die Erkenntnis, dass im Blick auf die vielfältigen Probleme der Globalisierung dringlicher Handlungsbedarf besteht.
Die Vollversammlung hat ferner deutlich gemacht, dass es in den Spannungen der Weltwirtschaft, im Zusammenprall der Zivilisationen und Kulturen eines übergreifenden, weltweiten Kommunikationsprozesses bedarf, der auf verschiedenen Ebenen stattfindet und Akteure und Betroffene zusammen führt. Was sich zur Zeit in dieser Hinsicht tut, gleicht eher einem Dialog unter Taubstummen. Auch das konnte man in Porto Alegre erleben: In Debatten über die Probleme der Globalisierung fehlte es nicht an ideologischen Rundumschlägen und an pseudowissenschaftlichen Handkantenschlägen. Für die Kommunikation in und unter den Kirchen ist ein weltweites, sorgfältig geplantes Dialogprogramm nötig, das Kirchenleitungen, Basisorganisationen und wissenschaftliche Expertise einbezieht. In einem solchen Programm müssten die Partner einander ernstnehmen und zu verstehen suchen. Sie müssten sich um gemeinsame Analysen bemühen und versuchen, konkrete Handlungsschritte für die Kirchen zu erarbeiten. Ich bin sicher, dass für die Kommunikation unter den Kirchen allein eine Organisation wie der ÖRK ein solches Dialogprogramm vorbereiten und in die Wege leiten kann wenn seine Mitgliedskirchen ihn dafür entsprechend ausstatten. In diesem Zusammenhang könnte auch das Friedenskonzil Bedeutung gewinnen, das Fernando Enns, Mitglied der mennonitischen Friedenskirche, für das Ende der Dekade zur Überwindung der Gewalt, also für das Jahr 2010, vorgeschlagen hat und das die Vollversammlung in die Programmplanung des ÖRK aufgenommen hat.
Die Fragen stellte Klaus Wilkens
der überblick: Herr Ratsvorsitzender, Sie haben in Ihrer Ansprache bei der Begegnung mit Papst Benedikt XVI. anlässlich des Weltjugendtags in Köln im August vergangenen Jahres darauf hingewiesen, dass sich die Ökumene heute in einem Stadium der Konsolidierung und Überprüfung des Erreichten befände. Es müsse um die Frage gehen, wie sich die je eigenen Überzeugungen geklärt und etabliert haben. Wir brauchten heute eine Ökumene der Profile. Sie haben damit vielfach Beachtung gefunden. Worum geht es Ihnen bei diesem Begriffspaar?
Huber: Mein Anliegen kann ich vielleicht so beschreiben: Ich bin dagegen, dass man die gegenwärtige ökumenische Situation mit Bildern wie ökumenische Eiszeit oder ökumenischer Winter beschreibt. Man kann allerdings nicht bestreiten, dass es eine ökumenische Ernüchterung gegeben hat. Diese Ernüchterung ist dadurch eingetreten, dass bleibende Differenzen zwischen den Kirchen nun deutlicher ins Bewusstsein treten. Aber gegeben hat es diese Differenzen auch vorher. Auch in Phasen der ökumenischen Euphorie war es nicht so, dass die Amtsfrage besser geklärt gewesen wäre als es heute der Fall ist. Auch in der Frage der Gemeinschaft der Eucharistie sind wir nicht weiter gewesen vor 10 oder vor 20 Jahren. Aber nun müssen wir auch diejenigen Themen in den Blick nehmen, in denen bleibende oder jedenfalls auf lange Zeit noch unausweichliche Unterschiede zwischen den Kirchen vorhanden sind. Ich meine aber, dass es nicht als ein ökumenischer Rückschritt zu bezeichnen ist, wenn wir versuchen, uns auch an den Stellen wechselseitig wahrzunehmen, zu verstehen und zu respektieren, in denen wir uns als Kirchen unterscheiden. Auch das ist ein konstruktiver Beitrag zur Ökumene.
Ich habe es immer für falsch gehalten, wenn man sich beispielsweise vorgestellt hätte, dass der evangelische Beitrag zur Ökumene besonders darin zu sehen wäre, dass wir uns als Evangelische Kirche unerkennbar machen. Ich bin im Gegenteil davon überzeugt, wir werden ökumenisch geachtet und wir leisten einen Beitrag zum ökumenischen Miteinander auch zur Weiterentwicklung unserer eigenen Kirche wie anderer Kirchen , wenn wir klar wissen, was unser reformatorisches Profil ist, wenn wir deutlich machen, warum die evangelische Freiheit gerade im 21. Jahrhundert eine unaufgebbare und unverzichtbare Gestalt des christlichen Glaubens darstellt.
Wir setzen uns auseinander mit den Auswirkungen der modernen Entwicklung auf unsere Welt. Und dabei ist es hilfreich, dass es eine Gestalt des christlichen Glaubens gibt, für welche die Auseinandersetzung mit der Moderne ein ganz konstitutives Merkmal ist. Der evangelische Glaube ist der Wissenschaft zugewandt, er möchte Verantwortung in der Welt übernehmen, sie mitgestalten, und sucht gleichzeitig nach neuen Formen der Spiritualität. So etwas habe ich im Blick, wenn ich von einer Ökumene der Profile rede.
Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt gleichzeitig, ob wir als Evangelische Kirche Kirche sind. Das hängt nicht davon ab, ob andere uns als Kirche anerkennen, sondern ob wir versuchen, in Treue eine Kirche Jesu Christi zu sein. Aber ökumenische Fortschritte kann man sich nur dann vorstellen, wenn wir dem Schritt wechselseitigen Respekts und wechselseitiger Würdigung des Kirche-Seins der anderen Seite nicht ausweichen. Auch das gehört für mich zu dieser Frage der Ökumene der Profile.
der überblick: Kann es sein, dass Ihr Anliegen in einen gewissen Gegensatz zu der Überzeugung tritt, dass in der ökumenischen Begegnung mit anderen Kirchen die Chance liegt, in der Wahrheit und in der Erkenntnis der Wahrheit zu wachsen?
Huber: Ich glaube nicht, dass sich das ausschließen muss. Ich verstehe auch das Eigene besser, wenn ich mich intensiver mit dem Fremden beschäftige. Und ich bin umgekehrt in der Lage, vom Anderen zu lernen, wenn ich weiß, wo ich selber zu Hause bin. Das ist eine elementare Erfahrung. Wir haben sie entwickelt im Bereich der ökumenischen und auch interreligiösen Didaktik: Beheimatung im Eigenen und Verständigung mit dem Fremden. Identität und Verständigung gehören zusammen und sind gerade nicht zwei unterschiedliche Seiten. Tatsächlich ist es notwendig, dass wir bereit sind, über die eigenen Grenzen hinaus zu gehen, dass wir nicht einfach stehen bleiben bei dem Erkenntnisstand, den wir erreicht haben, dass wir nicht beharren auf dem, was uns schon vertraut ist, sondern zu Neuem unterwegs sind. Aber das bedeutet nicht eine Preisgabe der eigenen Identität, sondern ein Wachsen in der eigenen Identität.
der überblick: Die Chance, die in der ökumenischen Begegnung liegt, nämlich das Evangelium hier und heute in seiner zentralen Bedeutung aus den unterschiedlichen Perspektiven der verschiedenen Kirchen neu zu entdecken, ist für Sie durchaus mit im Blick?
Huber: Ich könnte meine eigene Lebensgeschichte gar nicht verstehen ohne solche ökumenischen Lernerfahrungen, ohne dass ich auch durch die Begegnung mit anderen Kirchen gelernt hätte, wie wichtig die gestaltete und gefeierte Liturgie ist, ohne dass ich erlebt hätte, wie unbekümmert und spontan die Freude am Evangelium gerade bei Mitchristen sein kann, die in äußerster Bedrängnis leben. Aber gleichzeitig gibt es Punkte, an denen ich von dem, was wir als Evangelische Kirche gelernt haben, überhaupt nicht lassen kann. Zum Beispiel die Beteiligung von Frauen am geistlichen Amt, die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an Leitungsaufgaben in der Kirche, zum Beispiel die feste Überzeugung, dass die Kirche von der Gemeinde her lebt und sich aufbaut. Das sind doch Überzeugungen, die wir eher stärken müssen als dass wir sie schwächen können.
der überblick: Aram I., der Moderator des ÖRK, hat gesagt, dass Kirchen heute in Gefahr stehen, in einen Rückzug in ihre nationalen, konfessionellen und institutionellen Grenzen zu verfallen, und hat dafür plädiert, dass man sich öffnen müsse für die eine Kirche jenseits der Kirchenmauern. Steht das im Gegensatz zu Ihrem Anliegen?
Huber: Ich glaube, dass man dazu nur imstande ist, wenn man zunächst einmal ein ganz bewusstes Ja zur sichtbaren und gelebten Kirche sagt und auch praktiziert. Und diese Vorstellung, die ich teile, über die Grenzen des eigenen Kirchentums hinauszugehen, diese Vorstellung kann überhaupt nur lebendig und ausstrahlungsstark sein, wenn das Ja zur gelebten, sichtbaren Gemeinschaft der Glaubenden am Anfang steht, und wenn man eine solche ökumenische Vorstellung nicht als einen Fluchtweg missbraucht, um dieser konkreten Beheimatung in der eigenen, sichtbaren Kirche auszuweichen. Das ist das, was ich von Dietrich Bonhoeffer gelernt habe. Und wenn man sich jetzt im Zusammenhang seines 100. Geburtstages noch einmal damit beschäftigt hat, ist das wirklich sehr aufregend, dass das nicht nur eine theoretische Einsicht, sondern wirklich eine praktische Lebenswende ist. Und das ist der Schritt, der für die Evangelische Kirche insgesamt ansteht, ein eigenständiges Verstehen der Kirche als Institution wirklich zu entwickeln und zur Geltung zu bringen. Und in dem Maße, in dem wir das tun, werden wir auch im Verhältnis zu anderen großen kirchlichen Traditionen, der römisch-katholischen und der orthodoxen Tradition, uns nicht in das Gefühl zurückziehen, wir hätten ja ein defizitäres Kirchenverständnis, sondern wir treten als ein eigenständiger Kirchentypus in das ökumenische Miteinander ein und sind dann in der Lage, voneinander zu lernen.
aus: der überblick 01/2006, Seite 86
AUTOR(EN):
Klaus Wilkens
Klaus Wilkens ist Oberkirchenrat im Ruhestand.