"Der Bezug auf Rechte ist ein Mittel, Einfluss zu nehmen"
Das Weltsozialforum in Mumbai hat stärker als seine Vorgänger Not und sozialen Ausschluss als Frage der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte (WSK-Rechte) diskutiert. Viele Partnerorganisationen im Süden halten den Bezug auf diese Rechte für einen nützlichen Weg zur Bewusstseinsbildung und zur politischen Interessenvertretung, erklärt Jürgen Reichel, der das Referat Entwicklungspolitischer Dialog des EED leitet. Er hat am Weltsozialforum teilgenommen; Partner des EED aus Nepal, Indien, Brasilien und Südafrika haben dort ihre Erfahrungen mit dem Menschenrechts-Ansatz geschildert.
von Bernd Ludermann
Der EED hat wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte, die so genannten WSK-Rechte, zu einem Schwerpunkt seiner entwicklungspolitischen Arbeit gemacht und das in Mumbai vorgestellt. Was ist unter diesem Ansatz zu verstehen?
Menschen, die für die Entwicklung ihrer Gesellschaften arbeiten, nehmen zunehmend wahr, dass ihre Regierungen Verpflichtungen eingegangen sind, die der Bevölkerung Rechte geben. Hunger, Not und Ausgrenzung kann man als Entwicklungsdefizite beschreiben, aber genauso auch unter der Fragestellung: Welchen Pflichten kommen Regierungen, die den Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte unterzeichnet haben, nicht genügend nach? Sie haben sich zum Beispiel verpflichtet, vordringlich auf Zugang Aller zum Gesundheits- und Bildungswesen hinzuarbeiten. Diese Sicht erzeugt eine neue Dynamik: Bürgerinnen und Bürger tauschen sich über ihre Rechte aus und darüber, wie sie besser gewährleistet werden können.
Werden damit nicht nur alte Forderungen, etwa nach Grundbildung oder Ernährungssicherheit, in die Sprache des Rechts neu verpackt?
Diese Rechte sind nicht neu. Der UN-Pakt über soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte stammt aus dem Jahr 1966. Während des Kalten Krieges ist er wenig thematisiert worden; oft wurde vor allem im Westen behauptet, dass WSK-Rechte eigentlich keinen Rechtscharakter hätten. Das wird seit dem Fall der Berliner Mauer neu diskutiert. Der UN-Bericht über die menschliche Entwicklung von 2000 hat gefordert, die Debatten über Entwicklung und über Menschenrechte miteinander zu verbinden. Genau das tun nichtstaatliche Organisationen (NGOs) im Süden nun. Sie sind uns im Norden da einen Schritt voraus.
Wird mit den WSK-Rechten nicht dasselbe gesagt, was früher mit Begriffen wie Grundbedürfnisse auch schon gefordert wurde?
Die Kerninhalte der WSK-Rechte decken sich tatsächlich weitgehend mit dem, was wir früher aus der Diskussion über Grundbedürfnisse kannten. Aber dadurch, dass beides zusammen gesehen wird, entsteht neuer Schwung. Auf dem Weltsozialforum in Indien war das deutlich: Viele Menschen haben unter dem Aspekt, welche Rechte sie durchsetzen wollen, von ihren Problemen berichtet. Ein Beispiel sind die Unberührbaren, die Dalits: Sie haben nach der indischen Verfassung kulturelle Rechte, und das stützt ihr Selbstbewusstsein.
Was ändert der Rechtsansatz in der Arbeit der Partner des EED?
Sie bekommt eine zusätzliche Dimension, etwa wenn Berichte an die Vereinten Nationen (UN) erstellt werden. Die Regierungen sind verpflichtet, in bestimmten Abständen den UN über die Verwirklichung der WSK-Rechte in ihrem Land zu berichten und NGOs dazu anzuhören. Das funktioniert aber nicht überall. Deshalb können Gruppen aus der Zivilgesellschaft sich auch direkt vor den UN in so genannten Parallelberichten äußern. Zu solchen Berichten tragen viele einzelne NGOs ihre Erfahrungen vor Ort bei und erhalten miteinander einen besseren Überblick über die Gesamtlage im Land. Und vor allem bekommen sie ein zusätzliches Instrument an die Hand, politisch Einfluss auszuüben. Es gibt Fälle - Indien ist einer -, wo der Staat seit zwölf Jahren keine Berichte zu den WSK-Rechten abliefert; da sind die UN dazu übergegangen, Parallelberichte aus der Zivilgesellschaft zur Grundlage ihrer Beurteilung zu machen. Deshalb würde ein Parallelbericht aus Indien politisch stark beachtet; die UN würden ihn zur Grundlage von internationalen Gesprächen machen.
In welchen Ländern benutzen NGOs besonders stark den WSK-Ansatz?
In mehreren lateinamerikanischen, etwa El Salvador, Guatemala oder Brasilien. Auch in Asien arbeiten Organisationen zielstrebig daran, etwa in Nepal. Wir bekommen aber auch zunehmend Nachfragen aus afrikanischen Ländern. Das überrascht zunächst, weil die Durchsetzung der WSK-Rechte gute Regierungsführung voraussetzt. Man würde deshalb denken, in vielen afrikanischen Ländern, wo der Staat im Moment kaum funktioniert, kann das Instrument nicht greifen. Dem EED liegen aber zum Beispiel Anträge aus der Demokratischen Republik Kongo vor, in der man momentan nicht erwarten kann, dass Klageverfahren etwas bringen. Doch unsere kirchlichen Partner sagen, wir wollen jetzt das Bewusstsein dafür aufbauen, welche Rechte Bürger und Bürgerinnen in einem besser funktionierenden Staatswesen haben, und damit zum Aufbau eines demokratischen Staates beitragen.
Welche Partner des EED haben bisher für ihre Länder Parallelberichte mit erarbeitet?
Weitreichende Erfahrungen sind in Brasilien gemacht worden. Dort war das ein sehr langer und öffentlichkeitswirksamer Prozess, an dem sich viele hundert Organisationen beteiligt haben. Auch für El Salvador und Nepal sind den UN kürzlich Parallelberichte vorgelegt worden. In Südafrika gehen unsere Partner etwas anders vor: Da Südafrika den Pakt über WSK-Rechte nicht unterschrieben hat, legen sie keinen Bericht vor. Aber diese Rechte haben in Südafrika Verfassungsrang; man kann gegen die Missachtung einzelner sozialer, wirtschaftlicher oder kultureller Rechte vor südafrikanischen Gerichten klagen und so unter Umständen das Parlament zwingen, Gesetze entsprechend zu ändern. Daran sind EED-Partner beteiligt. Uns geht es nicht so sehr darum, das Instrument Parallelberichte zu perfektionieren, sondern um Bewusstseinsbildung und breitere öffentliche Debatten.
Diese Erfahrungen sind in Mumbai vorgestellt worden?
Ja. Wir haben Partner gebeten, in Indien mit interessierten Organisationen zusammen auszuloten, was der Wert von solchen Prozessen ist. Unsere brasilianischen Kollegen haben geschildert, dass das Entscheidende der jahrelange Prozess der Bewusstseinsbildung war. Sehr viele Multiplikatoren haben die Rechte-Dimension ihrer Arbeit neu entdeckt. Letzten Endes geht es ja nicht um die hundert oder hundertfünfzig Seiten Papier, sondern um den Prozess, der zu dem Bericht führt. Der ist immer verbunden mit Versuchen, in einzelnen Schritten bereits Verbesserungen zu erreichen. Zum Beispiel haben brasilianische NGOs während der Arbeit am Parallelbericht Aktionen gegen Vertreibungen und für das Recht auf Zugang zu Land unternommen; oft waren internationale Beobachter dabei.
Was war aus der Sicht der Partner der wichtigste Ertrag dieser Arbeit?
Da wurden vor allem zwei genannt. Erstens gilt der WSK-Ansatz als wichtiges Instrument, um Menschen zu befähigen, soziale Anliegen mit Nachdruck vorzutragen. Entscheidend ist, dass sich nicht nur Juristen oder Experten damit befassen, sondern Graswurzel-Organisationen befähigt werden, ihre Nöte unter Menschenrechtsgesichtspunkten zu behandeln und ihre Forderungen zu vertreten. Zweitens sehen die Partner einen Gewinn darin, dass die Berufung auf Menschenrechte international beobachtet wird und zu internationaler Solidarität führt, möglicherweise auch zu gemeinsamen Initiativen von NGOs aus verschiedenen Ländern bei den UN.
Hat ein Parallelbericht schon einmal Regierungsentscheidungen beeinflusst?
Die Wirkung hängt davon ab, wie die örtliche Presse und die Regierung darauf reagieren. Was der Prozess im Einzelnen bewirkt, ist schwer zu sagen. Wir sind aber der Ansicht, dass die gegenwärtige politische Stimmung in Brasilien - die Regierung hat zum Beispiel Programme zur Bekämpfung des Hungers und für den Zugang aller zu grundlegenden sozialen Diensten begonnen - auch auf die breit angelegte Menschenrechtsarbeit zurückgeht. Das sagen auch die brasilianischen Organisationen.
Wollen indische Organisationen jetzt diesem Beispiel folgen?
Wir haben auf dem Weltsozialforum erfahren, dass in Indien Ansätze in diese Richtung verfolgt werden. Zum Beispiel arbeitet der indische Zweig von Habitat international an einem Bericht über das Recht auf angemessenen Wohnraum, andere haben einen Bericht zum Recht auf Nahrung in Angriff genommen, ein Bericht zu den Kinderrechten ist schon ziemlich weit gediehen. Indische NGOs überlegen jetzt, ein nationales Netzwerk zu gründen, das einen umfassenden Parallelbericht erarbeitet und dazu internationale Unterstützung sucht.
Die Arbeit zu WSK-Rechten ähnelt der Erstellung von Armutsbekämpfungsstrategien (PRSPs, Poverty Reduction Strategy Papers), die der Weltwährungsfonds und die Weltbank zur Voraussetzung für Schuldenerlasse gemacht haben: Auch PRSPs sollen die Regierungen unter Beteiligung der Zivilgesellschaft erarbeiten. Gibt es zwischen beiden Prozessen Verbindungen?
Daran arbeitet das protestantische europäische Netzwerk APRODEV (Association of World Council of Churches related Development Organisations in Europe). In Mumbai hat ein Workshop zu der Frage stattgefunden, wie sich Menschenrechts-Ansätze und PRSPs aufeinander beziehen lassen. Auch im EED denken wir darüber nach. Der Ausgangspunkt ist: Da das zuständige UN-Komitee inzwischen Mindeststandards für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte definiert hat, sollte man die in PRSPs einbringen. Auch der Internationale Währungsfonds und die Weltbank müssen respektieren, dass die Regierungen, denen sie Auflagen machen, durch Menschenrechtsverträge gebunden sind, bestimmte Mindeststandards etwa für die Sozialdienste zu gewährleisten. Das findet bisher bei den PRPPs noch keine Beachtung.
Interessiert das die Partner im Süden?
Das interessiert sie sehr. Partner, die bisher zum Beispiel an Armutsbekämpfungsstrategien mitgearbeitet haben, werden darauf aufmerksam, dass es dazu viele Vorarbeiten von Seiten der Menschenrechte gibt. NGOs aus dem Süden kommen jetzt auf uns zu und suchen die Kenntnisse, um diese Argumente zu Hause vorzubringen.
Was hat das Weltsozialforum zur Debatte über WSK-Rechte beigetragen?
In den ersten Jahren konnte man dem Forum vorwerfen, dass sich da Leute versammeln, die nur gegen etwas sind. In den Weltsozialforen 2003 und jetzt dieses Jahr haben sich aber viele Gruppen zunehmend an Rechten orientiert. Es bildet sich eine Art ethischer Grundkonsens, was Menschen zusteht und mit welchen Instrumenten man das gewährleisten kann. Wichtig war auch, dass das Sozialforum in Indien stattgefunden hat. Denn die Menschenrechte gelten zuweilen als europäisches Konstrukt, das insbesondere in Asien abgelehnt wird. Das war in Mumbai eindeutig nicht so. Die Menschenrechte waren prominenter als auf den früheren Weltsozialforen.
Ist es für manche Partner, zum Beispiel in Nepal, mit Risiken verbunden, sich auf einen Menschenrechts-Ansatz einzulassen? Das ist für viele Regierungen doch ein rotes Tuch.
Das stimmt. Die Mitglieder der Menschenrechtsorganisation, mit der wir in Nepal zusammenarbeiten, müssen sich ständig bedroht fühlen. Einige waren schon im Gefängnis. Aber wir drängen ja nicht von uns aus NGOs im Süden, den Menschenrechts-Ansatz aufzunehmen, sondern wir nehmen Anfragen von ihnen auf. Es gibt sicher Umstände, für die der Ansatz nicht passt.
aus: der überblick 01/2004, Seite 141
AUTOR(EN):
Bernd Ludermann :
Bernd Ludermann war viele Jahre Redakteur beim "überblick". Er arbeitet jetzt als freier Journalist in Hamburg und betreut unter anderem als Redakteur die Forum-Seiten im "überblick".