Anwaltschaft gehört dazu
Den Armen das Recht auf Nahrung zu verschaffen, ist ein Kernanliegen kirchlicher Entwicklungsarbeit. Wie sich die Armen ernähren können, wird jedoch auch im Norden entschieden. Große Auswirkungen darauf werden die anstehende Reform der EU-Agrarpolitik und die laufenden Agrarverhandlungen in der Welthandelsorganisation haben. Was heißt das für die kirchlichen Werke?
von Rudolf Buntzel-Cano
Ernährungssicherung ist - ähnlich wie Nachhaltigkeit - ein Schlagwort in der neueren Entwicklungsdiskussion. Der Begriff beschreibt sowohl eine Art praktische Entwicklungsarbeit im Ausland, also einen Projekttyp, als auch ein politisches Konzept. Als solches bedeutet es für Kirchen und nichtstaatliche Organisationen (NGOs) Advocacy (Anwaltschaft), das heißt sie versuchen auf die öffentliche Meinung und die Entscheidungsfindung in Regierungen, Parlamenten und internationalen Organisationen Einfluss zu gewinnen. Sie tun das aber nicht für ihren eigenen Vorteil, sondern quasi als (selbst gewählte) Anwälte für die "Armen" und "Hungernden"; das unterscheidet Advocacy im Wesentlichen von Lobbyarbeit.
Der Dogmenstreit, ob wir im Norden uns ändern müssen oder die Entwicklungsländer, ist für die Arbeit der NGOs nicht so bedeutsam; sie sind hier pragmatisch. NGOs und ihre Netzwerke versuchen auf allen Ebenen gleichzeitig zu arbeiten: für eine bessere Politik in den Entwicklungsländern, für eine bessere globale Strukturpolitik und für eine entwicklungsverträglichere Politik in den Industrieländern. Eliten im Süden sind genauso angesprochen wie transnationale Unternehmen, internationalen Organisationen und Politiker im Norden. Dabei ergibt sich eine natürliche Arbeitsteilung: Die NGOs des Südens versuchen Entscheidungen im Süden zu beeinflussen und NGOs des Nordens Entscheidungen im Norden. Bei internationalen Treffen am Rande der großen UN-Konferenzen - wie jetzt in Johannesburg - kommt man zusammen und tauscht sich aus, verabredet gemeinsame Kampagnen und verabschiedet gemeinsame Forderungskataloge.
Das hört sich harmonischer an, als es ist. NGOs streiten nicht so sehr, wer die Schuld an Verarmungsprozessen hat, sondern wie sie vorgehen sollten. Viele Partner aus dem Süden sind radikaler als die des Nordens, denn sie haben kein Vertrauen zu ihren Regierungen und keine Tradition von Lobbyarbeit. Das einzige, was sie kennen, ist der Protest auf der Straße. Die NGOs des Nordens vertrauen mehr auf die Einsicht der Herrschenden und versuchen, durch gute Analysen die Dinge "höflich" zu beeinflussen. Dabei spielt mehr und mehr eine Rolle, inwieweit man die Medien überzeugen kann. Politiker und selbst Konzerne lassen sich von den Medien eher unter Druck setzen. An dieser Stelle überwinden die NGOs dann schnell auch ihre Differenzen: Wenn spektakuläre Aktionen die Aufmerksamkeit der Medien auf sich ziehen und ein Thema politisieren, dann vereinigen sich Aktionisten und Lobbyisten leicht.
Welche politischen Entscheidungen muss man beeinflussen, wenn man die Ernährungssicherung verbessern will? Zwei Prozesse, die zur Zeit im Norden ablaufen, werden entscheidenden Einfluss auf die Welternährung haben: die laufenden Agrarverhandlungen in der Welthandelsorganisation WTO und die Halbzeitbewertung der so genannten Agenda 2000, das heißt der Reformen der gemeinsamen Agrarpolitik in der Europäischen Union (EU). Beide sind miteinander verzahnt, beide sollen bis Februar 2003 über die Bühne sein, und beide haben, obwohl die Frage des Welthungers dort gar nicht thematisiert wird, versteckte Auswirkungen auf Entwicklungsländer. Zum Beispiel sollen laut der Halbzeitbewertung der Agenda 2000 viele neue EU-Mindeststandards beim Verbraucher-, Umwelt-, und Tierschutz und bei der Qualität von Agrarprodukten gesetzt werden. Diese bei uns populären Maßnahmen können als "technische Handelshemmnisse" die Agrarexporte der Entwicklungsländer in die EU behindern. Und die WTO-Agrarverhandlungen entscheiden über Regeln und Obergrenzen für landwirtschaftliche Subventionen und damit darüber, ob die Industriestaaten weiterhin Überschüsse produzieren und verbilligt in den Entwicklungsländern absetzen oder ob die sich gegen dieses Dumping wehren können.
Deshalb konzentriert sich meine Arbeit als EED-Beauftragter für Welternährungsfragen im Moment stark auf diese beiden Stränge. Zusammen mit dem europäischen Verband der protestantischen Entwicklungsorganisationen (APRODEV) in Brüssel und mit dem Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf versuchen wir Vorschläge zu entwickeln und den Entscheidungsträgern nahe zu bringen, die beide Reformprozesse für die ländliche Armutsbekämpfung in Entwicklungsländern verträglicher machen. Bei den Agrarsubventionen fordern wir zum Beispiel, die Agrarhaushaltsmittel der EU und der USA nicht einfach abzubauen, wie es die WTO vorsieht, sondern teilweise umzuwandeln und für den Aufbau eines Sicherheitsnetzes der Welternährung und der globalen Agrarumwelt zu nutzen.
Wer gibt uns das Mandat für diese Interventionen? Politisch kann man nur dann glaubwürdig als "Anwalt" auftreten, wenn man sich darauf berufen kann, dass Partner, mit denen wir in Übersee zusammenarbeiten, eine politische Intervention hier bei uns verlangen. Dabei ist der Partnerbegriff weit gefasst: Partner kann auch sein, wer nicht finanziell von uns unterstützt wird. Wir arbeiten in internationalen Netzwerken von NGOs mit, die sich zu Fragen der Bauernbewegungen, der ländlichen Entwicklung, der Landwirtschaft und der Hungerbekämpfung engagieren. Die wenigsten Organisationen sind Empfänger unserer kirchlichen Hilfe, andere sind kirchliche Gruppen, kirchliche Dienste auf dem Lande oder auch nichtkirchliche Forschungsinstitute. Es kommt darauf an, an der Meinungsbildung dieser losen Gruppierungen mitzuwirken und solidarisch aufzutreten. In diesem Sinne wird der Anspruch eingelöst, dass wir "Anwälte" sind.
Mit den WTO-Agrarverhandlungen haben einige Partner der kirchlichen Entwicklungswerke sich auseinandergesetzt und Forderungen erhoben - etwa, die Vorzugs- und Sonderbehandlung der Entwicklungsländer im Agrarbereich nach der so genannten Development Box festzuschreiben. Das klagt ein, dass es wenig Sinn macht, die gleiche Agrarpolitik, die für die Industriestaaten mit ihren Überschüssen und ihrer kommerziellen Landwirtschaft gelten soll, auch in Hungerländern mit verarmten Kleinbauern anzuwenden. Damit unterstützen diese NGOs und wir Forderungen einer Gruppe von Entwicklungsländern. Es macht unsere Einflussnahme leichter, wenn wir mit Regierungen zusammenarbeiten, die anders als NGOs an den WTO-Verhandlungen beteiligt sind.
Jetzt müssen wir die Regierungen der Industrieländer drängen, diese Forderungen ernst zu nehmen. Zum Glück ist die Verhandlungsmacht der Entwicklungsländer in der WTO erheblich gestiegen. Denn sie haben sich im Agrarbereich zu Verhandlungsgruppen zusammengeschlossen, und die Industriestaaten brauchen ihr Einverständnis für einen Agrarvertrag bis März 2003, damit sie im September 2003 auf der nächsten WTO-Ministerratstagung umstrittene neue Themen auf die Tagesordnung setzen können.
Bei der Halbzeitbewertung der EU-Agrarpolitik (Agenda 2000) ist die Frage schwieriger, auf welche Partner aus Entwicklungsländern wir uns berufen können. Die Halbzeitbewertung ist ein recht weitgehender Reformvorschlag der EU-Kommission für die Agrarpolitik, der die von Ministerin Künast angestrebte "Agrarwende" auf Europaebene nachvollzieht und teilweise sogar überholt. Alle Umwelt- und Verbraucherorganisationen sind von den Vorschlägen von Kommissar Fischler begeistert. Die Entwicklungsorganisationen meinen, dass die Maßnahmen zwar in die richtige Richtung gehen, nämlich weg von den flächen- und tierbezogenen Subventionen für Landwirte und hin zur Entlohnung von messbaren Leistungen beim Umweltschutz, Tierschutz, Verbraucherschutz und Qualitätsmanagement. Dadurch wird der EU-Agrarprotektionismus weniger handelsverzerrend. Aber ihrer Meinung nach berücksichtigen Fischlers Vorschläge spezielle Belange der Entwicklungsländer nicht.
Nicht direkt angegangen werden etwa die Probleme eines verbesserten Marktzugangs für Produkte aus Entwicklungsländern, der Abbau der Exportsubventionen sowie entwicklungspolitisch besonders perverse Subventionen wie für den Reis-, Baumwoll- oder Tabakanbau in der EU, wo sie in Konkurrenz zu tropischen Ländern steht. Die Entwicklungsorganisationen fürchten auch, dass die EU die Anforderungen an die Hygiene, das Aussehen und die Qualität von Produkten so hochtreibt, dass die Kosten, diese Anforderungen zu erfüllen, die Entwicklungsländer völlig überfordern. So wurden die Sicherheitsmaßnahmen in der Tierzucht, die auch automatisch für alle Importe gelten, nach den BSE-, MKS- und Schweineseuchenkrisen enorm erhöht. Auch Entwicklungsländer, deren Tiere vielleicht nie auch nur ein Gramm Tiermehl gefressen haben und nicht BSE-gefährdet sind, müssen jetzt alle Risikoteile aus dem Schlachtkörper entfernen und die Tiere nach unseren Regeln zerlegen. Das erfordert riesige Investitionen bei den Schlachthäusern, von den Kosten der Inspektion und des Testens ganz abgesehen. Selbst im Bereich der Bionahrungsmittel blüht der Bürokratismus: Der Aufwand für die Zertifizierung nach den EU-Richtlinien für die organische Landwirtschaft ist enorm, wenn Entwicklungsländer an uns Bioprodukte liefern wollen.
Die Reformvorschläge von Kommissar Fischler haben also zweifellos Folgen für den Süden. Es gibt dort aber kaum Partner, die sich gut genug mit unserer Agrarpolitik auskennen, um uns jetzt sagen zu können, ihr müsst euch in unserem Namen hierfür oder dafür einsetzen. Das können wir auch nicht erwarten. Befreundete Süd-NGOs haben ihre allgemeine Kritik an den schädlichen Folgen unserer Agrarpolitik oft genug formuliert; das können wir jetzt aufgreifen. Wir müssen prüfen, wie sich die Reformvorschläge auf diese kritischen Punkte beziehen. Dabei gibt es natürlich einen breiten Interpretationsspielraum: Einerseits in Bezug auf das, was unsere Partner wollen, anderseits in Bezug auf die möglichen Auswirkungen der Reformvorschläge. Wir können nur versuchen, uns möglichst mit Blick auf beide Unsicherheiten vorzutasten.
Das beste entwicklungspolitische Bezugfeld ist die Kritik, die in den Dialogprozessen der Ländern aus Afrika, der Karibik und des Pazifik (AKP-Staaten) mit der EU erhoben wird. Vor allem auf Netzwerke von Wissenschaftlern, NGOs und Parlamentariern aus den AKP-Staaten können wir uns beziehen. Diese Gruppen sind gut organisiert und sehr fachkundig. Kirchliche Gruppen oder Projektpartner des EED sind aber nicht darunter.
Ein anderer Bezugpunkt der Advocy-Arbeit sind Klagen über schlimme Auswirkungen unserer Politik von Betroffenen selbst, etwa Protestbriefe von Baumwoll- und Erdnussbauern aus dem Sahel oder von Rindfleischproduzenten aus dem südlichen Afrika, die unter subventionierten Exporten aus der EU leiden. Um ihre Anliegen besser kennen zu lernen und die EU-Politik wirklich als Ursache etwa des Preisverfalls für diese Erzeuger zu identifizieren, gibt der EED ab und zu Studien in Auftrag. Die dritte Ebene ist der Dialog mit den agrarpolitischen Netzwerken der verschiedenen Kontinente.
Natürlich gibt es Gegner der Advocacy-Arbeit der kirchlichen Hilfswerke. Innerhalb der Kirche bleibt sie umstritten, weil es schwierig ist zu beweisen, was sie wirklich bewirkt. Spenden werden immer noch lieber für direkte Nothilfe als für eine politische Intervention gegeben. Es fehlt uns Deutschen anscheinend auch die demokratische Tradition eines gesellschaftlich breit akzeptierten Lobbytums; das ist in den USA und Großbritannien anders. Außerdem ist Lobbyarbeit verdächtig, denn von Wirtschaftskreisen weiß man, dass sie oft mit dubiosen Mitteln Politikbeeinflussung betreiben. Dass kirchliche Fachleute allein aufgrund ihrer Expertise bei Ministerien und Parlamentariern zu Einfluss kommen können, ist für viele Kirchenmitglieder kaum glaubhaft. Auch Partner, die sich nur auf Mikroebene in praktischen Entwicklungsprojekten engagieren, halten manchmal Politikbeeinflussung im Norden für wenig ergiebig.
Advocacy heißt zudem auch immer, dass man mit anderen gesellschaftlichen Interessengruppen in Konflikt gerät. Oft sind diese Interessen auch innerhalb der Kirche organisiert und treten dann als Kritik von Christenmenschen in Erscheinung, die sich Sorgen machen, in welche Richtung ihre Kirche driftet. So melden sich oft Kirchengemeinden in Agrarfragen zu Worte, wo sich später herausstellt, dass eine Person im Kirchenvorstand Mitarbeiter zum Beispiel der chemischen Industrie ist. Ein anderer Fall ist die Auseinandersetzung über Grüne Gentechnik mit dem Arbeitskreis Christlicher Unternehmer. Öfters haben auch Bauern sich über ihre Kirchengemeinde oder den Kirchenkreis empört zu Wort gemeldet. Ob man die Wogen mit Gesprächen glätten kann, ist nicht garantiert, denn die Interessengegensätze können nicht geleugnet werden.
Auf die besonderen Einflussmöglichkeiten, die wir als Kirche haben, sollten wir aber gerade im entwicklungspolitischen Bereich und bei Fragen der Ernährungssicherheit nicht verzichten. Die Erfahrungen zeigen, dass wir etwas bewirken können. Die gerade jetzt anstehenden Entscheidungen über die EU-Agrarreform und in den WTO-Agrarverhandlungen sind für die Welternährung ausschlaggebend. Ein Einsatz an dieser Stelle kann wichtige Weichen für bessere Überlebensmöglichkeiten von Vielen stellen.
aus: der überblick 03/2002, Seite 124
AUTOR(EN):
Rudolf Buntzel-Cano:
Rudolf Buntzel-Cano ist Beauftragter des EED für Welternährungsfragen in Berlin.