Mit Fußball sind Jugendliche aus Costa Ricas Armenvierteln zu packen
Die Armenviertel von Costa Ricas Hauptstadt San José bieten Kindern und Jugendlichen wenig außer Enge, Gewalt und Drogen. Über Fußball findet ein Projekt der Lutherischen Kirche dort Zugang zu den jungen Leuten. Neben professionellem Training bietet es Hilfe bei der Ausbildung und Zukunftsplanung.
von Knut Henkel
Der Trainer Marvin Solano steckt den Schlüssel in das Schloss der verbogenen Gittertür. Sie öffnet den Drahtkäfig, der das Spielfeld im kleinen Stadion von Alajuelita umgibt. Nevy Steven stürmt als einer der ersten auf das satte Grün. Der schlaksige 17-Jährige ist genauso wie die rund fünfzig weiteren Kinder und Jugendliche aus dem Vorort von Costa Ricas Hauptstadt San José heiß auf Fußball. Endlich verteilt der Co-Trainer Roy Arias die Bälle, und die Kinder und Jugendlichen zwischen acht und achtzehn Jahren können zeigen, was sie drauf haben. Nevy jongliert mit dem Ball, lässt ihn erst auf dem Spann, dann auf dem Oberschenkel tanzen, und als ein Kumpel von ihm sich ins Tor stellt, jagt er die Kugel volley in die Maschen. Freudig strahlend blickt er zum Trainer: Hat der auch alles mitbekommen? Hat er, Marvin Solano nickt aufmunternd mit dem Kopf. Nevy ist seit knapp zwei Jahren dabei und hat kaum eine Trainingseinheit von "Fútbol por la Vida", zu deutsch "Fußball für das Leben", verpasst. Nicht im Traum hätte er früher daran gedacht, im kleinen Stadion von Alajuelita kicken zu dürfen. Das war etwas für die Erfolgreichen, nicht für ihn, den Jungen aus dem Armenviertel. Er traute sich nur selten in diesen Teil der rund 80.000 Einwohner zählenden Vorstadt.
Heute ist er mindestens zweimal pro Woche im Stadion, und doch ist es jedes Mal etwas Besonderes: "Hier zu Kicken ist das Allergrößte. Für mich ist das regelmäßige Training eine Flucht aus der alltäglichen Langeweile, dem Ärger und Frust im Stadtviertel", erklärt Nevy und nestelt an dem Haargummi, das seine langen schwarzen Haare zusammenhält. "Öffentliche Freizeitangebote gibt es in Alejuelita nicht und kaum Möglichkeiten zum Bolzen", ergänzt er mit säuerlicher Miene und zieht sich das blaue Leibchen mit dem Schriftzug "Fútbol por la Vida" über die schmalen Schultern. Dann trabt er zurück aufs Feld, um das von Roy Arias geleitete Aufwärmprogramm mitzumachen. Auf seinem Rücken sind der Schriftzug "Oikos" und die Nummer Acht zu sehen.
"Oikos" heißt der Verein, den die Lutherische Kirche Costa Ricas vor zwei Jahren gegründet hat, um das Fußballprojekt für Kinder und Jugendliche beiderlei Geschlechts auf eine eigene, möglichst unabhängige Basis zu stellen. "Die Initialen stehen für 'Institut für Bildung und Entwicklung', unsere eigentlichen Ziele; der Fußball ist nur das Vehikel, um an die Jugendlichen aus den marginalisierten Stadtteilen heranzukommen", schildert Trainer Solano den Ansatz. Der frühere Profifußballer und derzeitige Zweitligatrainer hat das Konzept im Auftrag von Melvin Jiménez entwickelt, des Präsidenten der Lutherischen Kirche Costa Ricas. "Er hat mich und Roy Arias angesprochen, weil wir über die Fußball-Erfahrung verfügen, die er eben nicht hat", erklärt Solano. "Damals war ich das erste Mal in Alajuelita und war sehr überrascht über die sozialen Verhältnisse dort."
Wellblechbehausungen, katastrophale sanitäre Verhältnisse, Enge, Gewalt und Drogen prägen das Milieu, in dem Kinder und Jugendliche wie Nevy, Harry, Juan Carlos oder Gabriela aufwachsen. Es war für den erfolgreichen Fußballer Solano ein Schock, denn Costa Rica gilt als eher reiches Land mit funktionierenden Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen sowie einem Sozialversicherungssystem. Diese sozialen Errungenschaften haben dem Land den Beinamen "Schweiz Mittelamerikas" eingebracht. Doch in Alajuelita greifen sie allem Anschein nach nicht. Für den Zweitligacoach von Paraíso war das eine ernüchternde Erkenntnis, an die er sich erst gewöhnen musste. Dafür haben die regelmäßigen Besuche in Alajuelita gesorgt, die sein Job als Leiter des Fußballprojekts mit sich bringt.
Solano ist froh über diese Erfahrungen, die seinem fußballorientierten Leben eine neuen Dreh gegeben haben. Längst ist es Teil seines Jobs, die Öffentlichkeit auf die verheerende Situation in Alajuelita, La Carpio und Quitirríssí aufmerksam zu machen. An diesen drei Standorten ist Oikos, das unter anderem von "Brot für die Welt" finanziert wird, derzeit tätig.
"Jeder dieser drei Standorte steht für eine gesellschaftliche Gruppe, die in Costa Rica marginalisiert wird", erklärt der Co-Trainer Roy Arias. "In Alajuelita sind es vor allem die armen Einheimischen, in La Carpio die Einwanderer aus dem benachbarten Nicaragua, und Quitirríssí ist ein vorwiegend von Indios geprägter Stadtteil von San José." Viele Taxifahrer machen aus Angst vor Überfällen einen großen Bogen um diese Armenviertel. Selbst die Polizei geht nicht überall hin. "Die Barrios werden aufgegeben, die Regierung gibt den Leuten keine reelle Chance", kritisieren Solano und sein 32-jährige Kollege einhellig.
Eine zweite Chance sollen zumindest die Kids mit dem Fußballprojekt erhalten. Durch das regelmäßige Training bauen sie ein neues Selbstwertgefühl auf und werden für Sozialarbeiter, Psychologen und Lehrer erst oder wieder ansprechbar. "Eine ganze Reihe der Jugendlichen, die hier kicken", so der 24- jährige Trainer Christopher Díaz, "haben wieder begonnen, zur Schule zu gehen." Ein Erfolg, der auf die Seminare, die Arbeit der Psychologen, die alle zwei Wochen zur Verfügung stehen, und die kontinuierliche Präsenz der kirchlichen Sozialarbeiter zurückzuführen ist.
Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen neben dem Trainerstab, dem Díaz seit 16 Monaten angehört, einige Nationalspieler, die so genannten Paten. Auf vier aktuelle und einen ehemaligen Nationalspieler kann sich Solano derzeit verlassen. Die kommen schon einmal zum Kick nach Alajuelita. Dann erzählen sie den fußballverrückten Kindern und Jugendlichen, die staunend an ihren Lippen hängen, aus ihren eigenen Erfahrungen und geben Tipps für die Zukunft. Der 36-jährige Verteidiger Roland González Brenes von Deportivo Saprissa dem Verein, der ständig die Meisterschaft gewinnt kommt selbst aus einfachsten Verhältnissen, hat erst spät Lesen und Schreiben gelernt und wirbt für den Schulbesuch in den Armenvierteln. Für die Kinder und Jugendlichen ist er ein idealer Gesprächspartner, denn er weiß, wie es dort aussieht, und bekennt sich zur eigenen Vergangenheit.
Von Brenes oder dem Nationaltorhüter José Porras lassen sich Nevy, Harry und die Übrigen viel mehr sagen als von Lehrern und Sozialarbeitern, erklärt der diplomierte Sportlehrer Díaz. Bei Harry haben die prominenten Tipps und die kontinuierliche Präsenz der Oikos- Mitarbeiter bereits gefruchtet. Allerdings gab es auch ein einschneidendes Erlebnis: Vor einigen Monaten wurde ein Onkel von ihm bei einem Streit erschossen. Für Harry ein Schock, der ihn darin bestärkt hat, sein Leben in die eigenen Hände zu nehmen. "Ich habe keinen Bock auf den Kreislauf von Drogen, Gewalt und Kriminalität. Ich gehe wieder zur Schule und will Veterinärmediziner werden", so der 18-jährige Stürmer mit dem tiefbraunem Teint. Seine Eltern kommen aus Nicaragua, und wie so oft hat der Vater die Familie verlassen. Nun ist die Mutter für die sechs Kinder verantwortlich, und die älteste Schwester von Harry schmeißt den Haushalt.
"Das ist oft so in den Barrios und einer der Gründe, weshalb die Mädchen es schwer haben, am Training teilzunehmen", erklärt Roy Arias. "Die Mütter lassen ihre Töchter oft nichts aus dem Haus, weil der Weg zu lang und gefährlich ist, Fußball für Mädchen sowieso nichts ist oder eben weil sie auf die Kleineren aufpassen müssen." Trotzdem gibt es auch ein Oikos-Mädchenteam. Dem gehört die 17-jährige Gabriela Mora an. "Zwei meiner Brüder spielen bei Oikos, und ich wollte auch, nur waren meine Eltern erst dagegen. Der Weg ist von zu Hause bis hierher ins Stadion ist ziemlich lang", erklärt die als Verkäuferin arbeitende hübsche Frau. Erst als ein Sozialarbeiter von Oikos mit den Eltern sprach und empfahl, dass Gabriela doch gemeinsam mit den Brüdern zum Training kommen könne, war der Damm gebrochen, erklärt Arias.
Er lässt die Mädchen bei den Jungen mitspielen. Zwei Mädchen pro Team sind die Regel, wenn nicht genug für eine eigene Mannschaft da sind. Den Jungs ist das gut bekommen: "Sie gehen auf dem Platz nicht mehr so wild zur Sache, haben die Fair Play- Regeln begriffen und gelernt, die Mädels zu akzeptieren", berichtet Díaz.
Das Training der Mädchen überlässt er der US-Amerikanerin Elizabeth Koerner. Die Sportstudentin mit dem harten Akzent leistet bei Oikos ein freiwilliges soziales Jahr und trainiert Gabriela und ihre Teamkolleginnen. Die meisten der insgesamt 15 Oikos-Mädchen aus Alajuelita haben über eine Freundin Wind von dem Fußballangebot bekommen. So auch die 15-jährige Luri Tejarcillos. Die wendige Stürmerin ist seit rund neun Monaten dabei und träumt von einer Profikarriere. "Trainer Solano könnte mir doch mit seinen guten Kontakten weiterhelfen", hofft sie. Doch zuerst kommt für sie die Ausbildung als Sekretärin.
Weniger umsichtig gehen die Jungen mit ihrer Zukunft um. Zwei von drei haben keine Ahnung, welchen Beruf sie irgendwann einmal ergreifen wollen. Von einer Karriere in der heimischen ersten Liga bei den Renommierclubs von Deportivo Saprissa und Liga Deportiva Alajuelense schwadronieren viele der Jungs, wenn man sie auf ihre Zukunft anspricht.
Bei der Zukunftsplanung versuchen Psychologen und Sozialarbeiter von Oikos zu helfen. Der erste Schritt dazu ist oft die Reintegration in die Schule. Zusätzlich werden Workshops am Wochenende zu Themen wie Sexualität, Verhütung, Respekt oder Solidarität angeboten. Wenn Not am Mann ist, greift die Kirche Familien oder Alleinerziehenden auch finanziell unter die Arme - im Interesse der Kinder. Das spricht sich herum. Genau das beabsichtigen Trainer Solano und seine Kollegen auch. Sie setzen auf den Multiplikatoreffekt und hoffen, den nationalen Fußballverband irgendwann für das Projekt gewinnen zu könne. "Das wäre eine schöne Überraschung so kurz vor der Weltmeisterschaft", sagt Solano mit leuchtenden Augen.
aus: der überblick 02/2006, Seite 100
AUTOR(EN):
Knut Henkel
Knut Henkel ist freier Journalist in Hamburg
mit Schwerpunkt Lateinamerika.