Argentiniens Einwanderer wandern aus
Argentinien ist ein Einwanderungsland. Doch nur noch der Geruch frischer Pizza, die roten Schindeldächer im Süden des Landes und die fremden Familiennamen erinnern an die Herkunftsländer der Großväter. Schon die Enkel fühlten sich als Argentinier. Über Immigration, Integration und Emigration.
von Antje Krüger
Viel mehr als einen Koffer hatte er nicht dabei. Darin ein paar Hemden, eine Hose, die letzten Ersparnisse. Sein ganzes Leben lang hatte Cayetano De Simone auf dem Land gearbeitet, unter der heißen, unbarmherzigen Sonne Calabriens. Eine dankbare Arbeit, als er jung war. Doch dann kam die Arbeitslosigkeit, Italien versank in Armut, brach in sich zusammen. Zu Hause die Frau mit den sieben Kindern hungergroße Augen. Da packte De Simone den Koffer. Machte sich auf den Weg zu dem Teil der Erde, über den diejenigen, die schon dort waren, Wunder erzählten. Der das geben konnte, was die Heimat versagte. De Simone ging fort aus Rosano, fort aus Italien. Es war im Jahr 1934. Der 50-Jährige ließ das dürftige Brot der Olivenhaine hinter sich, um im Land am Silberfluss, in Argentinien, neu anzufangen.
Der große Korb über dem Arm wog schwer. Bis an den Rand war er mit Käse gefüllt. Im Morgengrauen lief De Simone los. Zog bis zum Sonnenuntergang seine Runden durch das Häusermeer von Buenos Aires. Queso!, Käse, manchmal auch Knoblauch verkaufte er den Frauen auf der Straße. Abends war er heiser vom Anpreisen seiner Ware. Und doch war der Käse es wert. Mehr als die Olive im heimatlichen Rosano. Mit dem nun verdienten Geld konnte De Simone sogar mehrmals zwischen Argentinien und Italien hin und her pendeln. Zu Hause erzählte er von dem Häuschen, das er sich in Buenos Aires gemietet hatte, von den Chancen, die Argentinien birgt. Schwärmte so lange, bis 1939 schließlich auch die Frau und die Kinder dem fernen Glück folgten und in ihrer neuen Heimat blieben. Jetzt sind dort die Urenkel erwachsen.
Argentinien ist ein Einwandererland, das zweitgrößte der Erde. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich Argentinien hilfesuchend an Europa gewandt. Es wurden Arbeitskräfte gebraucht, um den Urwald des Südens zu besiedeln, nachdem man die Indianer vertrieben und getötet hatte, um deren Gebiete land- und forstwirtschaftlich zu nutzen. Es kamen vor allem arbeitslose und arme Landarbeiter sowie Handwerker, die in Europa damals häufig wegen liberalen Gedankenguts politisch geächtet wurden. Sie kamen vor allem aus Italien, Irland, Schottland, Polen, Russland, Deutschland, der Schweiz, Österreich und der Türkei.
Es folgten weitere Einwanderungswellen. An der Schwelle zum 20. Jahrhundert kamen rund 1000 Immigranten pro Tag in Buenos Aires an. Alleine bis 1924 waren das 5,5 Millionen Einwanderer. Der Zweite Weltkrieg brachte dann noch einen zweiten Schub, erklärt Jorge Ochoa de Eguilieor, Direktor des Einwanderungsmuseums der argentinischen Hauptstadt. Der greise, würdige Herr sitzt in genau dem Gebäude, das auch die erste Heimat seiner Eltern war, als ihr Schiff im Hafen von Buenos Aires anlegte im so genannten Immigrantenhotel, dem heutigen Museum. Wer kam, floh aus dem Europa der Vor- und Nachkriegswirren in ein Land, das händeringend Arbeitskräfte suchte. Das jedem Ankömmling einen Platz im Immigrantenhotel bot, wo dieser so lange bleiben konnte, bis für ihn eine Stelle gefunden wurde.
Das geschah oft schon nach fünf bis sechs Tagen. Die Behörden halfen bei der Vermittlung. Für die geleistete Arbeit bekamen die Einwanderer ein Stück Land, ein Häuschen, Anteile an einer Schafherde. Diese Welle, die im wahrsten Sinne des Wortes über den Ozean schwappte, führte zu einem Bruch in der Geschichte des Landes. Mit der Immigration wurde eine neue Nation geschaffen, so Ochoa de Eguilieor.
Ich war der erste Argentinier unserer Familie, erzählt Aldo Barone und lauscht der Bedeutung dieses Satzes hinterher, während seine Schwester Lidia in alten Fotos kramt. Aldo und Lidia sind die Enkel von De Simone. Sie sind die erste, in Argentinien geborene Generation dieser Einwanderer, eine Generation, die sich ohne Wenn und Aber gleich als Argentinier fühlte.
Aldo und Lidia sitzen auf der Terrasse von Lidias Wohnung in Buenos Aires und erinnern die Familiengeschichte. Wir haben gar kein italienisch mehr gelernt, sagt Lidia. Unsere Eltern sprachen spanisch mit uns. Nur wenn manchmal die Fetzen flogen, dann wechselten sie in ihren alten calabresischen Dialekt. Für uns war klar, dass wir Argentinier waren. In der Schule ging es nie darum, wo jemand herkam. Es war egal, ob die einen Deutsche, die andern Italiener, Polen oder sonst wer waren. Die Schule war der Platz, wo wir alle gleich waren. Und wir wollten alle nur Argentinier sein, Argentinier wie die aus den oberen Schichten, die sich im Land schon ein Leben aufgebaut hatten, fährt die 57-Jährige fort. Mehr noch, wir spürten, wie sich unsere Eltern ihrer Herkunft schämten und wir mit ihnen. Aber nicht, weil sie in Argentinien selbst diskriminiert wurden. Aus Süditalien zu stammen, war in der italienischen Gemeinschaft schlecht angesehen. Wir hörten oft unseren Vater sagen, er käme aus Rom. Keiner hing an den Traditionen, auch wenn sich italienischstämmige Freunde unseres Vaters regelmäßig trafen. Aber das spielte keine Rolle. Außer über Familienanekdoten hatten wir überhaupt keinen Bezug mehr zur Heimat unserer Eltern. Sie sprachen auch nie mit Nostalgie. Sie waren froh, hier zu sein, fügt Aldo hinzu.
In Argentinien lebten die Einwanderer nicht in nach Herkunft getrennten Stadtvierteln. In der typischen Wohnform der ärmeren Familien, den Conventillos, wie die um einen Hof mit gemeinsamer Toilette und Küche herum gebauten Miethäuser mit einzeln vermieteten Zimmern genannt wurden, mischten sich schnell die Familien, die Traditionen, die Sprachen. Und wer in Argentinien geboren wurde, erhielt ohnehin automatisch die Staatsbürgerschaft; wer sie als Einwanderer beantragen wollte, bekam sie ohne Probleme. Die Nation mit ihrem starken Stolz schuf sich ohne Integrationsprogramme oder spezielle Bildungsangebote. Aldo und Lidia erinnern sich gar nicht daran, irgendwann einmal beigebracht bekommen zu haben, Argentinier zu sein. Das war selbstverständlich. Ich habe nie etwas dafür gemacht, Argentinier zu sein. Ich war es einfach, sagt Aldo.
In Argentinien gab es keine Einwanderungspolitik, die Sachen ergaben sich, und genau das war wahrscheinlich der Vorteil, der es mit sich brachte, dass hier die Integration und die Schaffung einer Nationalität so natürlich vor sich ging. Wenn beispielsweise ein Landbesitzer Arbeitskräfte benötigte, suchte man nach Fähigkeiten aus und nicht nach Nationalitäten. So mischten sich die Leute von ganz allein. In der Schule gab es keinen Schwerpunkt argentinische Geschichte. Die wurde als selbstverständlich gelehrt, genauso wie das Singen der Nationalhymne einfach dazu gehörte. Diese Beiläufigkeit hatte eine viel größere Wirkung als der bewusste Versuch, integrieren zu wollen, erklärt Museumsdirektor Jorge Ochoa de Eguilieor.
Erst vor einigen Jahren begann im Land eine Auseinandersetzung mit diesem Konglomerat, das Argentinien bildet, und das von seinen Einwohnern als so völlig normal angenommen und akzeptiert wird. Sie wurde ausgelöst, als Mitte der achtziger Jahre von der argentinischen Regierung ein Abkommen mit Italien und Spanien unterzeichnet wurde, das denjenigen, die Vorfahren aus diesen Ländern nachweisen können, die Beantragung einer doppelten Staatsbürgerschaft ermöglicht. Da fing ich das erste Mal an, erklärt Lidia, unsere Familiengeschichte zu reflektieren. Ich fühle mich zwar nach wie vor als Argentinierin, aber ich spüre auch so etwas wie eine Nostalgie. Heute bedauere ich, von meinen Eltern kein Italienisch gelernt zu haben. Ich denke, schade, dass sie nicht stolz auf ihre Herkunft waren und uns dieses Gefühl auch nicht vermitteln konnten. Es gehört ja schließlich auch viel Mut dazu, in ein anderes Land zu gehen. Ich habe Italien dann besucht, aber die Sprache musste ich vorher lernen, wie jede andere Fremdsprache auch.
Sie nutzte bereits 1988 ihre Chance und beantragte mit dem Stammbaum in der Hand die doppelte Staatsbürgerschaft für die gesamte Familie. Der italienische Pass war ihr Geschenk an ihren Sohn Luis zu dessen 18. Geburtstag. Ich schenkte ihm die doppelte Nationalität damals mit den Worten, dass ich ihm wünsche, dass seine Welt größer sein könnte als meine, sagt sie. Als 1999 erste Vorzeichen für eine tiefe Wirtschaftskrise auftauchten, besorgten sich viele einen zweiten Pass.
Heute fügt jeder Argentinier oft in Gesprächen hinzu, aus welchem Land die Großeltern kamen. Ich habe polnische Vorfahren, heißt es dann oder mein Nachname ist irisch. Die Herkunft spielt wieder eine Rolle und wird auch den ganz Kleinen vermittelt, wie Jorge Ochoa de Eguilieor täglich im Museum erfährt. Wenn wir die Kinder fragen, was sie über ihre Familien wissen, können uns die meisten sagen, aus welchen Ländern sie ursprünglich stammen, erklärt er.
Aldo Barone erkennt rückblickend eine Entwicklung. Es gab so etwas wie Zyklen. Der erste war gekennzeichnet von großen Anstrengungen, sich zu integrieren und die eigene Vergangenheit zu vergessen, damit wenigstens die neue Generation hier richtig ankommt. Das taten unsere Väter. Wir integrierten uns dann, ohne Kontakt zur Vergangenheit und unserer Herkunft aufzunehmen. Und die heutige Generation, so wie Luis im Fall unserer Familie, besinnt sich zurück und belebt das alles wieder, fasst er zusammen.
Das Tagebuch musste noch mit in den Rucksack und das Adressheftchen mit den Telefonnummern. Die Ersparnisse, die ihm noch blieben, verwahrte Luis Barone am Körper. Er hatte sein Informatikstudium vor drei Jahren abgeschlossen. Die Aussichten waren vielversprechend, das Leben leicht und gut. Bis der Zusammenbruch kam. Bis das Land mit einem Mal im Dezember 2001 in den Abgrund sauste. Ein Jahr lang strampelte sich der 26-Jährige ab, sprach in Firmen vor, schrieb über einhundert Bewerbungen. Nichts. Selbst Handlangertätigkeiten waren kaum noch zu bekommen. Die Straßen füllten sich mit Müllsammlern, mit Bettlern. Luis Barone packte seinen Rucksack. Buchte einen Flug zu dem Kontinent, der ihm das Leben versprach, das ihm das eigene Land bis vor kurzem noch gegeben hatte. Er ging fort aus Buenos Aires, fort aus Argentinien. Das war im Jahr 2002. Keiner hätte geahnt, dass das Geschenk seiner Mutter zu seinem 18. Geburtstag, die doppelte Staatsbürgerschaft, einmal zum rettenden Anker werden sollte. Luis trat in seines Urgroßvaters Fußstapfen. Er ging den Weg zurück, den Cayetano De Simone gekommen war.
Heute schreibt Argentinien seine Geschichte mit umgekehrten Vorzeichen. Aus dem Einwanderungsland gehen die ehemaligen Immigranten weg. Sie kehren dorthin zurück, wo ihre Vorfahren herkamen nach Europa. Waren die Reiseabenteuer der Groß- und Urgroßeltern bis dato nur unbedeutende Anekdoten, wurden sie plötzlich zum Hoffnungsschimmer. Glücklich war, wer nachweisen konnte, dass Opa oder Oma aus Europa nach Argentinien gekommen waren. Deren Flucht vor Arbeitslosigkeit, Armut und politischer Instabilität wurde nun zur Garantie für die Enkel, ihrerseits der Misere zu entrinnen. Denn mit europäischen Vorfahren kommt man an europäische Pässe. Und die öffnen die Tür auf dem alten Kontinent. Jeder dritte Argentinier wollte schon im Jahr 2000 gehen, wäre es nur möglich gewesen.
Vor allem die spanische und die italienische Botschaft kollabierten nach den Dezemberunruhen im Jahr 2001 regelrecht durch den plötzlichen Andrang von Ausreisewilligen. Tagelang warteten die Menschen, Geburtsurkunden der Großeltern in den Händen. Und wer selbst nicht das Glück europäischer Vorfahren hatte, verdiente sich ein paar Pesos, in dem er den Platz in den kilometerlangen Schlangen auch über Nacht frei hielt. Es ist vor allem die Mittelklasse, die auch heute noch geht. Sie hatten in den neunziger Jahren geglaubt, Argentinien wäre in der 'Ersten Welt' angekommen. Aber das Land, in dem sie lebten, war nicht real. Jetzt haben sie sich auf die Suche nach der 'wirklichen Ersten Welt' begeben, erklärt Lelio Mármora, Immigrationsexperte der Universität von Buenos Aires, die Motive der heutigen Auswanderer.
Wer jetzt zurück nach Europa geht, tut dies jedoch als Argentinier. Luis Barone kann sich zwar noch erinnern, die Großeltern manchmal italienisch sprechen gehört zu haben. Und er war auch einmal in Calabrien, hat die Restfamilie vom Urgroßvater besucht und den Olivenhain gesehen. Aber meine Welt ist Italien nicht, sagt er. Luis zog es, wie die meisten der auswandernden Argentinier, nach Spanien. Schon alleine der Sprache wegen. Doch Europa wartet nicht mit solch geöffneten Armen, wie Argentinien dies einst tat. Viele steigen nicht auf, sondern eher ab. Anders als bei den Urgroßeltern, zumeist einfache Bauern und Arbeiter, gehen heute die Akademiker.
Schätzungsweise 40 Prozent der Auswanderer besitzen einen Hochschulabschluss. Argentinien verliert seine Intelligenz. Der argentinische Soziologe Marío Albornoz, Autor des im Februar 2003 erschienenen Berichts el talento que se pierde (Das verlorene Talent), stellt fest: Unter den jungen Wissenschaftlern wird das Verlassen des Landes inzwischen als ein Zeichen von Qualität gesehen. Auch wenn Europa nicht das ersehnte El Dorado bringt, das Argentinien den Großeltern war. Auch wenn diejenigen, die kommen, die alte Heimat nicht vergessen und hinter sich lassen wollen. Auch wenn sie sich weiterhin als Argentinier fühlen und kein neues Zuhause suchen. Der Weg nach Europa ist oft eher ein Gang ins Exil, die Hoffnung auf Rückkehr reist mit im Gepäck.
Luis hat diese Erfahrung schmerzhaft machen müssen. Dumpf dröhnende Bässe überdecken jedes Gespräch. In der rauchigen Luft ist kaum etwas zu erkennen. Die Bar ist eng und muffig, die Nacht weit fortgeschritten. Doch in Madrid wird bis zum frühen Morgen gefeiert. Hinter der Theke poliert Luis Gläser. Er hat Augenringe, sieht müde aus. Ich hatte nicht erwartet, als Kellner arbeiten zu müssen. Aber immerhin habe ich eine Arbeit gefunden. Und ich kann sogar reisen. Zweimal habe ich meine Eltern inzwischen schon besucht, sagt er. Und doch schüttelt er den Kopf darüber, wie sich alles wiederholt: die Motive des Weggangs, die Hoffnungen, das Gewöhnen an die Ferne. Die doch so verschieden ist. Hier wie da, damals wie heute.
aus: der überblick 01/2006, Seite 82
AUTOR(EN):
Antje Krüger
Antje Krüger arbeitet als freie Journalistin in Berlin mit Schwerpunkt Südamerika und bereist häufig diesen Kontinent.