Präsident Obasanjo verordnet dem Land Reformen, hat aber mit kaum lösbaren Problemen zu kämpfen
Seit Olusegun Obasanjo Präsident Nigerias ist, hat er eine Reihe von zukunftsweisenden Reformen eingeleitet. Er hat mit einer Militärreform die Gefahr eines neuen Putsches verringert, Schritte gegen die Korruption eingeleitet und die Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit zum Gegenstand einer Untersuchung gemacht. Zugleich aber drohen die Kämpfe im Niger-Delta und der Streit über die Rolle der Religion in der Politik das Land zu zerreißen.
von Axel Harneit-Sievers und Dirk Kohnert
Nigeria steht wieder auf der weltpolitischen Bühne. Nach Jahren der Isolation kehrte das Land seit der Regierungsübernahme von Präsident Olusegun Obasanjo im Mai 1999 in die internationale Staatengemeinschaft zurück. Im November wurde Nigeria wieder Vollmitglied des Commonwealth; Mitte Dezember ist Obasanjo in Deutschland auf Staatsbesuch. Die nigerianische Bevölkerung setzt große Erwartungen in die neue Zivilregierung, die in den ersten sechs Monaten ihrer Herrschaft eine Reihe bemerkenswerter Reformen in Angriff genommen hat. Allerdings sieht sich die Regierung einer tiefen wirtschaftlichen Krise und wachsenden ethnischen und religiösen Konflikten gegenüber.
Der politische Wandel, ausgelöst vom überraschenden Tod des Diktators General Sani Abacha am 8. Juni 1998, brachte Nigeria nach 15 Jahren Militärdiktatur innerhalb eines Jahres tiefgreifende politische Veränderungen. Die Übergangsregierung General Abdulsalami Abubakars, die von der nigerianischen Opposition mit großer Skepsis betrachtet wurde, ließ die meisten politischen Gefangenen frei und öffnete das Tor für die Bildung politischer Parteien. Zwischen Dezember 1998 und Februar 1999 fanden Wahlen auf Kommunal-, Landes- und Bundesebene statt. Aus ihnen gingen Obasanjo und seine People's Democratic Party (PDP) als Sieger hervor.
Obasanjo war 1976 bis 1979 selbst Chef eines Militärregimes gewesen. 1979 übergab er als bisher einziger Militärführer freiwillig die Macht an eine gewählte Regierung. Die jedoch verlor infolge von Korruption, Wahlmanipulationen und ihrer Unfähigkeit, auf die vom Verfall der Erdölpreise ausgelöste Wirtschaftskrise zu reagieren, so sehr an öffentlicher Unterstützung, daß weite Teile der Bevölkerung die erneute Machtübernahme durch das Militär zum Jahreswechsel 1983-84 begrüßten. Obasanjo zog sich aus der Politik zurück, wurde aber als elder statesman auch international bekannt - etwa durch sein Engagement gegen die Apartheid-Politik Südafrikas in den achtziger Jahren und für die nichtstaatliche Organsation Transparency International, die Korruption anprangert, in den neunzigern. Wie andere Gründungsmitglieder der PDP gehörte Obasanjo der Opposition gegen das Abacha-Regime an und war wegen angeblicher Unterstützung eines Putschversuchs mehrere Jahre inhaftiert.
Die Wahl Obasanjos zum Präsidenten Nigerias war nicht unumstritten. Wie in früheren Wahlen in Nigeria kam es auch 1998-99 zu umfangreichen Wahlfälschungen. Die Nominierung der Kandidaten in den Parteien und die Wahlen selbst waren wie in der Vergangenheit von der Politik des großen Geldes geprägt. Dennoch gehen die meisten Beobachter davon aus, daß der Wahlausgang das Votum der Mehrheit der nigerianischen Bevölkerung einigermaßen widerspiegelt. Obasanjo hat im Yorubaland, seiner eigenen Herkunftsregion, keine Mehrheit erreicht - eine bemerkenswerte Tatsache angesichts der großen Bedeutung der ethnischen Zugehörigkeit in der nigerianischen Politik. Obasanjo hat es während seiner Regierungszeit vermieden, einzelne Ethnien oder das Militär zu begünstigen. Seine Stellung zwischen den ethnischen Blöcken und zwischen Militär und Gesellschaft ist vorteilhaft, um Kritik an der Bevorzugung einzelner Gruppen ebenso wie einen erneuten Militärputsch abzuwehren. Diese Position ist aber auch mit Unsicherheiten verbunden. Im ersten Halbjahr seiner Präsidentschaft hat Obasanjo sie zu einigen selbstbewußten und vorwärtsweisenden politischen Schritten nutzen können.
Die Regierung Obasanjo wird von der nigerianischen Öffentlichkeit mit großen Erwartungen, aber auch mit gesunder Skepsis gesehen. Sie steht vor dem Scherbenhaufen eines gescheiterten Entwicklungsmodells: Mit Hilfe der seit Anfang der siebziger Jahre rasch wachsenden Einnahmen aus der Erdölförderung sollte das bevölkerungsstärkste Land Westafrikas - Nigeria hat 110 bis 120 Millionen Einwohner - in den Rang eines Schwellenlands katapultiert werden, eines "afrikanischen Elefanten" gleich den "asiatischen Tigern".
Nigeria liefert den drastischen Beleg dafür, daß Unterentwicklung nicht allein ein Problem mangelnder Ressourcen ist. Das Land ist mit reichen natürlichen und menschlichen Ressourcen ausgestattet. Doch es verspielte die historische Chance des Öl-Booms mit einer fehlgeleiteten Entwicklungspolitik und einem von korrupten Eliten beherrschten politischen System. Für diese Fehlorientierung trugen Geber von Entwicklungshilfe wie die Weltbank und die deutsche Entwicklungszusammenarbeit eine wesentliche Mitverantwortung. Zudem erwies sich der Ölreichtum selbst als Fluch, da er "Renten" bereitstellt - Einkommen, die gleichsam umsonst hereinfließen-, auf deren Verteilung unter den Eliten sich in Nigeria die Politik konzentriert. "Den nationalen Kuchen teilen" lautet die gängige Formel dafür.
Nachdem Nigeria Ende der siebziger Jahre beinahe als Schwellenland gegolten hat, gehört es heute zu den ärmsten 25 Ländern der Welt. Viele der großangelegten Projekte zur industriellen Entwicklung haben sich als Fehlschlag, als "weiße Elefanten" erwiesen; Industriebetriebe arbeiten seit Jahren nur mit 30 Prozent ihrer Kapazität. Das Pro-Kopf-Einkommen beträgt nur 260 US-Dollar pro Jahr. Die gebildete Mittelschicht, die vor zwei Jahrzehnten stark und selbstbewußt war, ist weitgehend verarmt, und über zwei Drittel der Bevölkerung leben in absoluter Armut.
Offenbar sind diese strukturellen Probleme nicht kurzfristig lösbar - so sehr die Nigerianer dies auch hoffen. Doch die Regierung Obasanjo hat im ersten halben Jahr ihrer Amtszeit bemerkenswerte Schritte unternommen, um einige Probleme Nigerias zu bewältigen.
Die Gefahr eines neuen Militärputsches - laut vielen Beobachtern die unmittelbarste Bedrohung der neuen Regierung - scheint Obasanjo bereits im Juni 1999 durch eine der größten Säuberungsaktionen in der Geschichte des nigerianischen Militärs zumindest entschärft zu haben. Über 100 hochrangige Offiziere wurden vorzeitig pensioniert oder entlassen, darunter 60 Generäle aus allen Waffengattungen. Besonders betroffen waren alle politischen Offiziere - das heißt die Militärgouverneure der 36 Bundesstaaten - sowie diejenigen, die besondere Verantwortung für die Menschenrechtsverletzungen der vorherigen Militärregime trugen oder eine Quelle akuter Gefahr für den Demokratisierungsprozeß darstellten. Die anschließende Reorganisation der Armee hat zu einem beachtlichen Wandel in der ethnischen Zusammensetzung der Führungsstäbe geführt: Diese waren zuvor vom Norden dominiert, während die neu ernannten Offiziere überwiegend aus dem Süden und dem Zentrum des Landes stammen. In der Armee wurden die Entlassungen nicht nur mit Unwillen betrachtet, eröffnen sie doch neue Karrierechancen für die Nachfolger. Verteidigungsminister Danjuma hat als weiteren Schritt die Entlassung von 30.000 der insgesamt 80.000 Soldaten angekündigt. Dies birgt allerdings neuen Zündstoff in sich. Die Gefahr eines Militärputsches bleibt nach wie vor bestehen.
Ein weiterer Schwerpunkt von Obasanjos Politik lag auf der Bekämpfung von Korruption und Vetternwirtschaft. Laut der Rangliste von Transparency International zählt Nigeria zu den korruptesten Staaten der Welt. Der neuen Regierung ist es in nur drei Monaten gelungen, die Möglichkeiten zur Korruption in einem Schlüsselbereich einzudämmen: bei den Erdöleinnahmen, die rund 70 Prozent des Staatshaushalts decken. Bei der Vergabe von Förderlizenzen wurden notorisch korrupte Mittelsmänner ausgeschaltet, und dubiose Kontrakte über 1 Milliarde US-Dollar, die in den letzten Monaten der Regierung Abubakar abgeschlossen worden waren, wurden storniert. Förderkontrakte werden nun nach einem transparenteren Verfahren an international anerkannte Unternehmen vergeben. Die Regierung hat ein Anti-Korruptionsgesetz ins Parlament eingebracht und den Nationalen Sicherheitsberater General Aliyu M. Gusau beauftragt, im Ausland nach dem Geld zu forschen, das militärische und politische Führer hinterzogen haben. Die Rede ist von insgesamt rund 5,5 Milliarden US-Dollar; 1,25 Miliarden davon sollen in Deutschland sein. Anfang November gab die Regierung bekannt, schon rund eine Milliarde zurückerhalten zu haben.
Im Juni 1999 ließ Obasanjo zwei Ausschüsse zur Untersuchung von Korruption und Menschenrechtsverletzungen einrichten. Wegen Korruption ermittelt der eine gegen zahlreiche Politiker und Militärs sowie in- und ausländische Unternehmen. Die Untersuchungen beschränkten sich nicht nur auf die Vergabe von Lizenzen zur Erdölförderung und -verarbeitung, sondern betrachten auch die Erteilung von großen Bauaufträgen - zum Beispiel an die beiden alteingesessenen deutsch- nigerianischen "Baulöwen" Julius Berger und Strabag, die von der Patronage diverser Militärregime profitiert haben. Ihnen ist in der Presse immer wieder Beteiligung an Korruption größten Ausmaßes vorgeworfen worden, vor allem im Zusammenhang mit Großbauten in der Landeshauptstadt Abuja - den Gebäuden des Parlaments und des Verteidigungsministeriums, der Zentralbank und der nationalen Polizeizentrale - sowie mit der Ausbaggerung des Niger.
Der zweite Ausschuß unter Leitung des pensionierten Richters am Obersten Gerichtshof, Chukwudifu Oputa, soll alle bekannten Menschenrechtsverletzungen der Militärregime seit Januar 1966 untersuchen. Auf ausdrücklichen Wunsch Obasanjos wurde auch seine eigene erste Regierungszeit als Chef der Militärjunta (1976-79) sowie die Zeit des Biafra-Kriegs (1967-70) mit einbezogen. Parallel dazu wurden mehrere Personen wegen politischer Morde unter der Militärherrschaft in Untersuchungshaft genommen, darunter der Sohn Abachas. Als seine Mutter Maryam Abacha öffentlich um Gnade für ihn bat - sie sei eine einsame Witwe-, erntete sie in der Öffentlichkeit nur bitteren Spott: Nigeria brauche keine Gnade, sondern Gerechtigkeit.
Das politische Klima in Nigeria hat sich merklich gewandelt. Selbst Abachas Regime hatte kritische Stimmen nie völlig zum Schweigen bringen können, aber seit dem Tod des Diktators erlebt die Meinungsfreiheit eine Renaissance. Hinzu kommt, daß die Presse erstmals merkt, daß sie mit enthüllendem Journalismus politisch etwas bewirken kann. Zeitungen haben zum Beispiel prominenten neu gewählten Politikern wie dem Senatspräsidenten Evan Enwerem nachgewiesen, daß er mit falschen Angaben über seine Biographie politische Ämter erschlichen hatte, und ihn zum Rücktritt gezwungen.
Die wirtschaftspolitische Bilanz der ersten sechs Monate von Obasanjos Präsidentschaft ist weniger beeindruckend. Zwar hat die Regierung die in den neunziger Jahren endemisch gewordene Krise in der Benzinversorgung in den Griff bekommen. Sie bemüht sich, ihre Investitionszusagen an die Erdölmultis einzuhalten, und versucht Nigeria für ausländische Investoren attraktiver zu machen - vor allem um die verfallende Infrastruktur zu verbessern. Aber sie hat von den Militärregierungen leere öffentliche Kassen und ein hohes Haushaltsdefizit geerbt, und die zu Jahresbeginn erhoffte "Demokratisierungsdividende" - mehr Geld von ausländischen Gebern und Investoren - ist weitgehend ausgeblieben. Die Schwäche der Landeswährung und die weiterhin extrem niedrige Auslastung der Produktionsanlagen in der Industrie sind die deutlichsten Zeichen der fortdauernden Krise. Die erhoffte Verbesserung der Lebensbedingungen droht angesichts niedriger Wachstumsraten auszubleiben.
Zu den wirtschaftlichen Problemen kommen zwei Konfliktherde, die sich im Verlauf des vergangenen Jahres bedrohlich zugespitzt haben: die Kämpfe in den Erdölfördergebieten des Niger-Deltas sowie die Politisierung religiöser Fragen im Zusammenhang mit der Einführung des islamischen Rechts, der Sharia.
Im Niger-Delta herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände. Mitte der achtziger Jahre hat das Regime Abacha den Widerstand, den die Ogoni unter Ken Saro-Wiwa gegen die Umweltschäden infolge der Erdölproduktion und die politische und soziale Benachteiligung ihrer Region leisteten, gewaltsam unterdrückt. Seither sind jedoch in weiten Teilen des Niger-Deltas neue Konfliktherde entstanden, weil der Protest gegen die Vernachlässigung der Region in Konflikte zwischen Mitgliedern verschiedener Dörfer und Ethnien ungeschlagen ist. Zwischen den und innerhalb der betroffenen Gruppen kam es immer öfter zu Zusammenstößen um ethnische und kommunale Zugehörigkeiten und um künftige Einnahmen aus den Erdölpfründen.
Beispiele dafür sind die blutigen Kämpfe zwischen den Sprachgruppen der Ijaw, Itsekiri, Urhobo und Ilaje in den neunziger Jahren in den Bundesstaaten Bayelsa, Delta und Ondo. Radikale Ijaw-Milizen forderten in der Kaiama Declaration vom 11. Dezember 1998 die Einstellung der Erdölförderung. Sie zerstörten Förderanlagen und entführten Personal, was zu erheblichen Produktionsausfällen führte. Nach schweren Kämpfen zwischen verfeindeten Jugendmilizen in Warri im Westen des Niger-Deltas im Frühjahr 1999, bei denen über 300 Menschen getötet, ganze Straßenzüge in Brand gesteckt und 300.000 Einwohner in die Flucht getrieben worden waren, betrachtete die Mehrheit der Bevölkerung das Eingreifen der Armee allerdings eher als notwendiges Übel. Selbst radikale Umweltaktivisten wie der Führer der Environmental Rights Action, Nnimo Bassey, wandten sich gegen die Kriegstreiberei von seiten fanatischer, ethnisch motivierter Jugendbanden, die sich angeblich von den Ölkonzernen und dem Staat gegeneinander aufhetzen ließen. Am 10. November ermordete eine dieser Banden in Bayelsa sieben als Geiseln genommene Polizisten.
Die Bürgerrechtsbewegungen im Niger-Delta fordern nicht nur Entschädigung von den beteiligten Erdöl-Multis Shell, Chevron, Elf-Aquitaine, Mobil und anderen wegen jahrzehntelanger Umweltschädigung und unzureichender Kompensationszahlungen. Sie verlangen auch einen größeren Anteil an den staatlichen Einnahmen aus dem Erdöl, das auf ihrem Land gefördert wird, und lehnen die bisherigen staatlichen Finanzzuweisungen und Entwicklungsprojekte als völlig unzureichend ab. Die neue Verfassung sieht eine deutliche Erhöhung der Zuweisungen an die Region vor - von 3,5 auf 13 Prozent des Bundesanteils. Doch auch dies wird von vielen als zu niedrig zurückgewiesen, zumal nicht sichergestellt scheint, daß die Mittel der Bevölkerung zugutekommen und nicht vor allem von lokalen Eliten zweckentfremdet und angeeignet werden.
Die unter der Militärregierung eingesetzten Entwicklungsorganisationen - die Oil Mineral Producing Areas Development Commission (OMPADEC) und der Petroleum (Special) Trust Fund (PTF) - galten als korrupt und ineffektiv und sind von der Regierung Obasanjo inzwischen aufgelöst worden. Sie ist sich der politischen Brisanz der Lage im Niger-Delta bewußt, zumal die Auseinandersetzungen im Oktober erstmals auch auf Lagos, die Wirtschaftsmetropole Nigerias, übergegriffen haben; die Regierung hat eine Gesetzesvorlage ins Parlament eingebracht, mit der die Spannungen entschärft werden sollen. Ferner ist eine Kommission für die Entwicklung des Niger-Deltas gegründet worden.
Einen möglicherweise noch bedrohlicheren Konflikt stellen die Auseinandersetzungen um die religiöse oder säkulare Natur des nigerianischen Staates dar, die in den letzten Monaten erneut aufgeflammt sind. Der Bundesstaat Zamfara hat am 27. Oktober 1999 offiziell das islamische Recht, die Sharia, eingeführt; weitere nördliche Bundesstaaten werden dieser Politik möglicherweise folgen. Dahinter stehen die neugewählten Gouverneure, die sich von der populistischen Berufung auf den Islam offenkundig einen Legitimitätsgewinn versprechen, sowie das islamische Establishment. Dieses hofft, seine Macht mit Hilfe der Kontrolle über die örtliche Gerichtsbarkeit zu steigern sowie den Einfluß radikaler islamischer Führer wie Sheik Ibrahim Zakzaky einzudämmen. Auch finanzielle Motive scheinen eine Rolle zu spielen, wurde doch im November bekannt, daß Zamfara einen Kredit in Höhe von 500 Millionen US-Dollar von der Islamischen Entwicklungsbank (Islamic Development Bank) in Saudi-Arabien erhalten werde.
Die Verfassung bestimmt, daß der Staat von keiner Religion dominiert werden darf, läßt aber die Einrichtung des islamischen Rechts in Zivilangelegenheiten in den Bundesstaaten zu, in denen es von der Bevölkerung gewünscht wird. Bisher war das islamische Recht in den konservativen nördlichen Bundesstaaten formell nur für die islamische Bevölkerung verbindlich. Die Praxis der Sharia-Gerichte in der Vergangenheit weckt bei den Betroffenen jedoch Zweifel daran, daß die Zusicherung, dies werde auch in Zukunft so bleiben, eingehalten wird. Die offizielle Einführung der Sharia in Zamfara ging auch mit Eingriffen in den Alltag einher - zum Beispiel dem Verbot des Alkoholverkaufs und der Geschlechtertrennung in öffentlichen Verkehrsmitteln.
Vertreter von christlichen Gruppen und Menschenrechtsorganisationen haben scharf gegen die religiöse Ausrichtung des Staates protestiert. Staatschef Obasanjo muß eine weitere Zuspitzung der religiösen Konflikte befürchten und bezweifelt ebenfalls, daß die Einführung der Sharia mit der Verfassung in Einklang steht. Er könnte sich bald in einem Verfassungskonflikt befinden, da es beispielsweise strittig ist, ob sich die Polizei an der Durchsetzung der Sharia in den betreffenden Bundesstaaten beteiligen soll. In Zamfara ist es bereits zu Konflikten zwischen islamischen "Wächtern" und Armeestellen gekommen, die sich dem offiziellen Verbot des Alkoholverkaufs widersetzten. Aus südlichen Bundesstaaten sind Forderungen zu vernehmen, die Bundeszuweisungen an Zamfara einzustellen.
Die Konflikte um die Lebensbedingungen in den Ölfördergebieten, um die ethnische Zugehörigkeit und um das Verhältnis von Religion und Staat haben zwar an Brisanz gewonnen, neu sind sie jedoch nicht. Die große ethnisch-kulturelle Vielfalt Nigerias stellt einerseits ein enormes Entwicklungspotential dar; andererseits wurde und wird sie immer wieder für politische Projekte und Konflikte mobilisiert und mißbraucht. Die Kolonialherrschaft, die Nigeria als staatliche Einheit erst geschaffen hat, hat mit ihrer Politik der indirekten Herrschaft zugleich die Wurzeln dieser Konflikte gesät. Seit der Dekolonisation haben politische Führer die Zugehörigkeit zu Volks- und Sprachgruppen und in wachsendem Maße auch die Religion für den erbitterten Kampf um die Macht benutzt.
Die föderale Ordnung, unmittelbar vor dem Bürgerkrieg 1967 eingeführt, konnte diese Konfliktmechanismen nur teilweise entschärfen. Zwar hat die Aufteilung Nigerias in Bundesstaaten die Konfrontation zwischen den ethnischen Machtblöcken abgeschwächt. Wer heute die Macht in Abuja will, muß sich - wie dies auch bei der Wahl Obasanjos deutlich geworden ist - auf komplizierte überregionale und überethnische Koalitionen stützen. Da aber der Zugriff auf Nigerias Öl-Renten, die nach wie vor wichtigste Quelle des Reichtums, über die Bundesregierung erfolgt, ist der Föderalismus unter den Militärregimen der neunziger Jahre in der Praxis zu einem zentralistischen System degeneriert, das mit einer demokratischen Entwicklung unvereinbar ist. Diesen Zentralismus zu beenden, ohne die Kontrolle über die Verteilungskämpfe um den Anteil am nationalen Kuchen endgültig zu verlieren - das könnte Obasanjos schwierigste politische Aufgabe werden.
aus: der überblick 04/1999, Seite 71
AUTOR(EN):
Axel Harneit-Sievers:
Axel Harneit-Sievers ist Historiker und war lange wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum Moderner Orient in Berlin. Seit März 2002 leitet er das Länderbüro Nigeria der Heinrich-Böll-Stiftung in Lagos.
Dirk Kohnert:
Dr. Dirk Kohnert ist stellvertretender Direktor des Instituts für Afrika-Kunde in Hamburg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählt die Wirtschaftspolitik in Westafrika. Ein Beitrag zu diesem Thema wird 2004 im Sammelband "Perspektiven regionaler Zusammenarbeit in den Entwicklungsländern" erscheinen.