Es wird immer schwerer, jungen Palästinenserinnen eine Perspektive zu eröffnen
Seit Jahren bietet der Christliche Verein Junger Frauen in Ostjerusalem berufliche Fortbildungen an. Auch das Selbstbewusstsein junger Palästinenserinnen und ihre Rechte in der Gesellschaft will die Organisation stärken. Die Arbeitsbedingungen für dieses von “Brot für die Welt” unterstützte Projekt werden jedoch mit den politischen Umständen immer schwieriger.
von Anette Lübbers
Etwa 680 Kilometer lang soll sie werden: Die Barriere, die zwei feindliche Völker - Israelis und Palästinenser - voneinander trennen und den Terroranschlägen auf israelischem Boden ein Ende bereiten soll. An einigen Stellen wird ein Zaun gebaut, in besonders gefährdeten Gebieten eine aus etwa acht Meter hohen Betonquadern bestehende Mauer. Im Norden des Landes ist der Wall graue Realität. Auch am nördlichen Stadtrand von Bethlehem sind die Betonquader bereits aufgestellt. Sie trennen die Geburtsstätte Jesu von den südlichen Ausläufern des jüdischen Jerusalem. Den Palästinensern wird zunehmend bewusst, dass ihr Leben sich in Zukunft in noch engeren Grenzen abspielen wird. Ein freier Austausch zwischen den palästinensischen Gebieten ist schon heute nur unter erschwerten Bedingungen möglich.
Nur wenige Minuten Fußmarsch entfernt vom eleganten American Colony Hotel im arabischen Ostteil Jerusalems steht das vierstöckige Gebäude des Christlichen Vereins Junger Frauen (YWCA, “Young Women’s Christian Association”). Ein unscheinbares Schild an der Einfahrt verweist auf eine Einrichtung, die seit 1918 als Zweigstelle des weltweiten YWCA-Netzwerks junge palästinensische Frauen und Mädchen im Büro-Management, in öffentlicher Gesundheit und Gastronomie ausbildet. Die Programme des YWCA sind Teil von umfassenden Maßnahmen zur Fortbildung und Berufsausbildung von palästinensischen Frauen.
Angestellte und Schülerinnen des YWCA spüren im Alltag die Veränderungen, die seit dem Ausbruch der zweiten Intifada im Herbst 2000 ihre Gesellschaft erschüttern. Abla Nasir, die Generalsekretärin des YWCA, sitzt in ihrem Büro und hält nachdenklich eine Stoffpuppe in der Hand, die ihre Schülerinnen für den Verkauf produzieren. Die Handpuppen tragen traditionelle arabische Gewänder und repräsentieren verschiedene palästinensische Städte und Dörfer. Ein besonderer Satz Puppen stellt Maria, Joseph und das Christuskind dar. Die Puppen sollen in Theateraufführungen, im freien Spiel und in Therapiesitzungen eingesetzt werden. Doch die Vermarktung der liebevoll gestalteten Figuren gestaltet sich deutlich schwieriger, seit die palästinensischen Städte in der Westbank regelmäßig von der Außenwelt abgeschnitten sind. “Die Verbindungen zu den Außenstellen in Jericho und Ramallah sind nur schwer aufrecht zu erhalten”, erzählt Abla Nasir. Gleiches gilt für die YWCA-Zentren in den Flüchtlingslagern Jalazone, Kalandia und Aqbat Jaber.
Während der Sommermonate sind Ferien, nur die Kochklasse hat noch Unterricht. Das YWCA in Jerusalem beschäftigt neun hauptamtliche Lehrer, drei Trainer und drei Instrukteure auf Stundenbasis. In der großen Küche stehen Sana (22) und Nancy (21) und bereiten Teigwaren zu. Sie haben ihre eigentliche Ausbildung vor zwei Jahren im YWCA abgeschlossen. Während ihrer Arbeitszeit lernen sie zusätzlich bei Jakub, einem Koch von der Notre-Dame-Schule in Jerusalem. Die von ihnen hergestellten Teig- und Süßwaren sind beliebt bei den palästinensischen Kunden in Jerusalem und in der Westbank. Hier lernen sie nicht nur die Herstellung dieser begehrten Produkte, sondern auch wie man sie gewinnbringend verkauft. Ghanem, eine ältere Palästinenserin, hilft den beiden Mädchen. Sie hat beim YWCA in Jericho ihre Ausbildung erhalten - vor 28 Jahren.
“Neben der praktischen Ausbildung lernen die Frauen und Mädchen ihre Rechte als Frauen zu verteidigen und unabhängig zu arbeiten”, erläutert die 54-jährige Generalsekretärin Abla Nasir. “Immerhin 75 bis 80 Prozent unserer Absolventinnen finden einen Job - jedenfalls war das so, bevor die Intifada begann.” Doch seit 2000 ist die Zahl auf 40 Prozent gesunken. Auch die Zahl der Schülerinnen geht zurück: Waren es vor der Intifada noch 180 Auszubildende, sind es heute noch 121. In der jetzigen Situation geht es für den YWCA vorrangig um die Aufrechterhaltung der vorhandenen Strukturen und um die beruflichen Zukunftschancen für die jungen Frauen.
Die Restriktionen, mit denen die Palästinenser leben müssen, erschweren die tägliche Arbeit von Ausbildern und Schülerinnen gleichermaßen. “In diesem und im letzten Jahr hatten wir fünf Mädchen aus Jericho hier. Sie haben hier gewohnt, weil sie es nicht geschafft hätten, die Strecke zwischen Jericho und Jerusalem an einem Tag zwei Mal zurückzulegen. Wir hatten große Angst, dass die Mädchen Schwierigkeiten bekommen. Eigentlich waren sie die ganze Zeit illegal in Jerusalem.” Dabei liegen nur wenige Kilometer zwischen Jericho und Jerusalem. Abla Nasir fährt selbst jeden Abend zurück in die Westbank nach Ramallah.
Im vierten Stockwerk hat das YWCA einen Fitness- und einen Tanzraum für junge Frauen eingerichtet. Die Räume sind freundlich in hellem Lila gestrichen und bilden einen erfreulichen Kontrast zu den spärlich dekorierten Fluren auf den Wohnetagen. In einem Raum stehen Fitnessgeräte an der Wand. Eine junge Frau tritt in die Pedalen eines Fahrrads. In einem Nachbarraum üben junge Mädchen auf dem blanken Parkettfußboden moderne Tänze. Durch die großen Fenster fällt gleißendes Sonnenlicht in den Raum. “Es ist wichtig, dass die jungen Frauen hier einen Ort finden, wo sie sich wohl fühlen und sich frei und ungestört bewegen können”, erklärt Abla Nasir. “Wir wollen mit unseren Nachmittagsprogrammen, mit Sportveranstaltungen und Kulturangeboten die Identität der jungen Frauen stärken, den Stolz auf ihre Herkunft fördern und ihnen einen Ausgleich bieten für die Spannungen, mit denen sie leben müssen.”
Die Lage des YWCA-Hauses ist nicht geeignet, Übernachtungsgäste anzuziehen. “Früher haben Pilgergruppen gerne bei uns gewohnt, weil die Altstadt von hier aus gut zu erreichen ist und unsere Zimmer günstig waren. Heute sind unsere Zimmerkapazitäten eher eine Last. Die Konkurrenz ist zu groß und die Touristen kommen längst nicht mehr so zahlreich wie vor dem Ausbruch der Intifada”, sagt Abla Nasir bedauernd. “Wir müssen in diesem Bereich unsere Strategie überdenken. Ein wirkliches Einkommen ist mit den Zimmern nicht mehr zu erzielen. Ein Teil der in den 90er Jahren renovierten Zimmer soll an Klassen vermietet oder in Büros umgewandelt werden.” Durch das so erwirtschaftete Geld könnten Maßnahmen finanziert werden, die den Frauen und Kindern in den Palästinenser-Gebieten zugute kommen. Dazu gehören Kindergärten und Vorschulprogramme in den Flüchtlingslagern Jalazone und Aqabet Jaber sowie Sommercamps, Bazare und kulturelle Angebote.
Die Organisation in Jerusalem ist dringend darauf angewiesen, so genannte Einkommen schaffende Projekte anzustoßen. Immerhin 42 Prozent der Kosten musste das YWCA im Jahr 2003 selbst erwirtschaften. Keine einfache Aufgabe in Zeiten wirtschaftlichen Niedergangs. Auf ausländische Unterstützung kann die nichtstaatliche Organisation nicht verzichten: 19 Prozent des Budgets bestreitet die Ford-Foundation, 10 Prozent gab das deutsche evangelische Hilfswerk “Brot für die Welt”, 8 Prozent das niederländische Hilfswerk ICCO (Interchurch Organisation voor Development Cooperation), weitere sieben Prozent steuerte die Lehrergewerkschaft in Norwegen bei. “Alleine 22.000 US Dollar muss unsere Einrichtung pro Jahr an städtischen Abgaben zahlen”, erläutert Abla Nasir und seufzt.
Die steigende Zahl von Arbeitslosen verschlechtert auch die finanzielle Lage des YWCA: “Immer mehr Mädchen sind auf Stipendien angewiesen, weil ihre Familien das Geld für die Ausbildung nicht mehr aufbringen können”, bilanziert die Generalsekretärin. “Und die ersten Einschnitte, die in der Berufsausbildung gemacht werden, treffen immer zuerst die Mädchen und Frauen.” Zudem ist das Niveau der Schulbildung deutlich gesunken.
Abla Nasir und ihre Kolleginnen und Kollegen bemühen sich, trotz aller Widrigkeiten Zeichen der Hoffnung zu setzen. Zum Beispiel mit der Olivenbaum-Kampagne des YWCA. Traditionell gehören die Olivenbäume zu den Haupteinnahmequellen in den ländlichen Gebieten. Der Olivenbaum gilt als Symbol des Friedens, des Wohlstands und der Weisheit. Etwa tausend Quadratkilometer der palästinensischen Gebiete sind mit Olivenbäumen bepflanzt. Palästinensischen Angaben zufolge sind 112.000 Bäume seit Ausbruch der zweiten Intifada im Herbst 2000 zerstört worden. Die YWCA-Kampagne will dafür sorgen, dass 50.000 neue Bäume im Laufe der nächsten Monate gepflanzt werden können. Eine neue Pflanze kostet etwa 20 US-Dollar. Sponsoren und private Spender sollen helfen, das Projekt zu realisieren.
Der tägliche Kampf ums Überleben hat Spuren hinterlassen - auch bei Abla Nasir: “Derzeit habe ich zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl, die Hoffnung zu verlieren. Die Besetzung findet nicht nur in meinem Land statt, sondern auch in meinem Kopf. Ich bin angespannt und fühle mich sehr erschöpft. Trotzdem müssen wir mit unserer Arbeit und unserer Mission weitermachen. Die jungen Frauen und Kinder, mit denen wir im YWCA zusammenarbeiten, brauchen uns”, erklärt Abla Nasir. Und sie ergänzt: “Als YWCA handeln und reagieren wir auf die politische Situation. Wir tun dies innerhalb der Mission des YWCA. Für eine christliche Menschenrechtsorganisation ist das nicht Politik, sondern der Kern unseres Wesens.”
aus: der überblick 04/2004, Seite 130
AUTOR(EN):
Anette Lübbers:
Annette Lübbers ist freie Journalistin in Wuppertal; sie bereist regelmäßig Israel und die palästinensischen Gebiete.