Ungleichzeitigkeit als Entwicklungsmotor
James Kynge: China Der Aufstieg einer hungrigen Nation. Murmann Verlag. 293 Seiten, 20,10 Euro
von Renate Wilke-Launer
Bücher, die Chinas wirtschaftlichen Aufschwung beschreiben, über die weitere Entwicklung des Landes spekulieren und deren Folgen für den Rest der Welt abzuschätzen suchen, haben derzeit Konjunktur und verkaufen sich gut. Denn in unseren Läden gibt es immer mehr Ware Made in China und die Zeitungen sind voll von erstaunlichen Wirtschaftsnachrichten aus der Volksrepublik und Ankündigungen von Produktionsverlagerungen nach Fernost. Zukunftsbewusste Eltern heuern schon chinesische Au-pair-Mädchen an, damit ihre Kinder frühzeitig eine für sie wichtige Sprache lernen. Während man in Europa dank der Wirtschaftskraft (Exportweltmeister Deutschland) und des ächzenden, aber funktionierenden Sozialstaates immer noch ganz gut verdrängen kann, was sich mit den erstarkenden asiatischen Nationen ändern wird, sind die Auswirkungen in schwachen Ländern offensichtlich und zum Teil spektakulär.
Auch in kleineren afrikanischen Städten gibt es mindestens einen chinesischen Laden, selbst die Straßenhändlerinnen mancherorts bekommen nun Konkurrenz aus China. Mitten im kongolesischen Busch bekommen Afrikaner von Chinesen Bares, wenn sie Metalle anschleppen, und die letzten Reste der afrikanischen Textilindustrie kapitulieren vor der chinesischen Konkurrenz. Nur das politisch starke Südafrika hat eine Begrenzung der Importe aushandeln können.
In Sambia hat die Oppositionspartei Patriotic Front aus der Unzufriedenheit mit chinesischer Präsenz Kapital zu schlagen versucht, zu Strafe durfte sie nicht mit am Tisch sitzen, als Chinas Präsident Hu Jintao im Februar das Land besuchte. Umgekehrt versprechen sich afrikanische Länder bessere Preise für ihre Rohstoffe und ein Ende der Abhängigkeit vom ungeliebten Westen. Länder ohne wertvolle Metalle oder Öl dagegen fürchten sich vor dem Rohstoffboom, der ihren Volkswirtschaften durch höhere Preise für Ölimporte einen Strich durch die Rechnung machen kann. China und wenn auch weniger aufgeregt diskutiert Indien verändern die Welt.
China Shakes the World hat James Kynge sein 2006 zunächst bei Weidenfeld & Nicolson erschienenes Buch überschrieben, in der deutschen Übersetzung ist der Haupttitel leider verloren gegangen. Das ist schade, weil sich mit dem deutschen Titel die besondere Brisanz der Beobachtungen und Überlegungen von Kynge nicht gleich erschließt und mancher potentielle Leser vielleicht eher nach einem anderen Titel greift, der etwa mit Angriff aus Asien für sich wirbt. Das aber wäre auch deshalb bedauerlich, weil das Buch der Konkurrenz einiges voraus hat. Der Autor, studierter Sinologe, hat 19 Jahre lang aus Asien berichtet und zuletzt das Büro der Financial Times in Beijing geleitet. Er weiß, wovon er spricht, er hat sich umgesehen in China, und er versteht glänzend zu schreiben. Der Economist hat das Buch zu Recht in die Liste der bedeutendsten Bücher des Jahres 2006 aufgenommen (wie auch die Bücher von Robert Calderisi, vgl. der überblick 3/2006, und William Easterly, vgl. der überblick 4/2006).
Kynge hat sich auch ein Bild gemacht, was der Aufstieg Chinas für andere Teile der Welt bedeutet. So beginnt das Buch mit einer Reise nach Dortmund-Hörde. Dort hatten Chinesen 2002 innerhalb einer atemberaubend kurzen Zeit ein ganzes Stahlwerk demontiert, das dann 9000 km im Reich der Mitte entfernt wieder errichtet wurde. Der neue Besitzer hatte es zum Altmetallpreis gekauft und einschließlich Transport und Wiederaufbau gerade einmal 60 Prozent des Wertes dafür bezahlt. Ein Schnäppchen hat er gemacht und der Zeit ein Schnippchen geschlagen. Weil er anders als die Dortmunder wusste, dass man mit Stahl bald wieder gute Geschäfte machen würde. Laut Kynge hätte das Thyssen/Krupp-Werk dann auch in Dortmund wieder Gewinn erzielen können. Dort aber haben die nun arbeitslosen Malocher Anschauungsunterricht über eine der Ursachen der chinesischen Wirtschaftskraft bekommen: Wie aus dem Nichts erschienen beinahe tausend chinesische Arbeiter. Sie richteten sich in einem leer stehenden Gebäude der Anlage einen behelfsmäßigen Schlafsaal ein und arbeiteten den ganzen Sommer lang zwölf Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Erst nachdem sich einige deutsche Arbeiter und Manager beschwert hatten, wurden sie aufgefordert, aus Respekt vor den deutschen Gesetzen einen Tag zu pausieren.
Am stärksten ist der chinesische Einfluss in Europa im italienischen Prato sichtbar. Von den 180.000 Einwohnern der toskanischen Tuchstadt, so die Schätzungen, sind 20.000 Chinesen. Kynge beschreibt, wie aus manchen der illegalen Einwanderer Unternehmer wurden, die nun einen Teil ihrer früheren italienischen Arbeitgeber aus dem Geschäft drängen. Wer von den verbliebenen Italienern oft alteingesessene Familienunternehmen nicht in China, oder zumindest in Osteuropa spinnen und weben, zuschneiden und nähen lässt, ist kaum noch wettbewerbsfähig. Selbst in der Haute Couture ist China präsent. Im Zug nach Chiasso hört der Korrespondent, wie sich chinesische Mitreisende über die Faulheit der Italiener auslassen: dass sie Golf spielen und im Café sitzen und dass welche Vergeudung von Geschäftsmöglichkeiten die Frisöre am Montag geschlossen haben.
Eine dritte Erkundungsreise hat Kynge in den mittleren Westen der USA gemacht, nach Rockford (Illinois), einst das Zentrum der amerikanischen Werkzeugmaschinenindustrie. Auch dort müssen alteingesessene Familienbetriebe aufgeben, die Kriege und wirtschaftliche Rezession überdauert und dem Aufstieg Japans und Südkoreas getrotzt hatten. Ein lokaler Unternehmer hat ihm die Folgen des Wettbewerbs mit China so beschrieben: ,Wie sagt man Leuten, die ihr Leben lang für einen gearbeitet haben und deren Familien man kennt, dass sie keine Arbeit mehr haben? Jeder weiß, das ein guter, qualifizierter Facharbeiter mit einem Stundenlohn von 16 bis 17 Dollar zur Zeit keinen Job in einer anderen Fabrik in Rockford finden wird Aller Wahrscheinlichkeit nach würden seine früheren Arbeiter hinter dem Tresen eines Discounters enden und für Lowes, Home Depot, Sam's Club, Menswear House oder sogar Wal-Mart für sieben Dollar ohne Rentenversicherung arbeiten.
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum es im neuen US-Kongress mehr protektionistische Stimmen gibt als vorher. James Kynge sieht in den USA und Europa politische Konflikte voraus: Die vom Chinageschäft profitierenden Großunternehmen sind an der Wahlurne der besorgten Mittelschicht unterlegen, deren Angehörige möglicherweise gegen den freien Handel mit China votieren werden. Eric Anderberg, Kynges China-erfahrener Gewährsmann aus Rockford, hat nichts gegen freien Handel, aber der Wettbewerb mit China sei nicht fair: Die Chinesen schrieben den Umtauschkurs ihrer Währung in US-Dollar fest und hielten den Renminbi unter Wert, um die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Exporte zu stärken. Die chinesischen Arbeiter erhielten wenige oder gar keine Sozialleistungen, so konnten die Kosten für Arbeitskräfte künstlich niedrig gehalten werden. In China gab es keine unabhängigen Gewerkschaften; die Sicherheitsstandards, die er in chinesischen Firmen beobachtet hatte, seien in Amerika unzulässig. Das staatliche Bankensystem versorgte die staatlichen Betriebe mit günstigen Darlehen, die sie ohne jede Konsequenz schuldig bleiben konnten. Die Zentralregierung gewährte Exportfirmen großzügige Umsatzsteuererstattungen, die es für amerikanische Firmen nicht gab. Der Emissionsschutz wurde in China so nachlässig gehandhabt, dass die Firmen relativ wenig aufwenden mussten, um die Umwelt sauber zu halten. Chinesische Firmen stahlen regelmäßig geistiges Eigentum, aber es war schwer, sie zu belangen, weil ihre Gerichte entweder korrupt waren oder von der Regierung kontrolliert wurden. Und schließlich hielt der Staat die Preise einiger Leistungen, zum Beispiel die Versorgung mit Strom und Wasser, künstlich niedrig und subventionierte damit die Industrie.
Kynge hat sich auch dort umgesehen, wo Wal-Mart & Co ihre Waren beziehen: in Yiwu an der chinesischen Ostküste. Etwa 34.000 Standinhaber bieten dort 320.000 unterschiedliche Produkte an, zu unvorstellbar niedrigen Preisen eine gigantische Messe. Dass dieses Paradies für Discounter die traditionellen Industriestandorte bedroht, führt Kynge auf die Kompression von Entwicklungszeit zurück: Jahrhunderte Entwicklungszeit verschmelzen in einer konzentrierten Anstrengung. Menschen, die weniger verdienen als zur Zeit der industriellen Revolution in Großbritannien, arbeiten in Fabriken, die mit hypermodernen Maschinen ausgerüstet sind.
Dass diese Art der Produktion ihren Preis hat, macht der Korrespondent in den letzten vier Kapiteln seines Buches deutlich. Da ist zunächst die Ausbeutung der Umwelt: Das ohnehin zerbrechliche ökologische Fundament des Landes ist durch die Kombination von Vernachlässigung, Überbevölkerung, gedankenloser Industrialisierung und unfähiger Planwirtschaft schwer beschädigt worden. Zweitens besteht ein Missverhältnis zwischen den vielen Menschen und den sehr begrenzten, zum Teil erschöpften natürlichen Ressourcen, was Chinas aggressive Einkaufspolitik erklärt, die auch den Diktatoren der Dritten Welt neuen Spielraum verschafft. Drittens gibt es kaum Vertrauenskapital, so gut wie keine Rechtssicherheit und Korruption auf allen Ebenen. Kynge führt die Schwächen und Mängel auf einen übergreifenden Widerspruch zurück: China versucht eine zunehmend komplexe kapitalistische Wirtschaft mit einem politischen System zu betreiben, das auf Gehorsam gegenüber den knappen Kommandos einer einzigen Autorität angelegt ist. Die Partei will alles kontrollieren und kann gerade deswegen die Überwachungs- und Kontrollmechanismen zur effizienten Regulierung der Wirtschaft nicht zulassen. So kann die Produktpiraterie, die Angela Merkel im Rahmen der gegenwärtigen deutschen EU-Präsidentschaft mit den Machthabern in Beijing thematisiert, weiter blühen.
Zum Schluss diskutiert James Kynge, wie die politische Führung, wie sich die Chinesen verhalten werden, wenn es in der sich abzeichnenden Geopolitik des Rohstoffmangels zu Konflikten kommt. In allererster Linie natürlich mit den USA, sei es im Wettbewerb um Öl oder im Umgang mit unappetitlichen Regimen rohstoffreicher Länder. Dass auch intensiver Handel die Menschen der beteiligten Nationen einander nicht näher bringt, zeigen nicht nur die protektionistischen Töne und die populistische Anfälligkeit in Europa und den USA, sondern auch beängstigende spontane Demonstrationen chinesischen Unmutes gegenüber Japan (dessen brutale Teilherrschaft über China nun schon viele Jahrzehnte zurückliegt) und gegenüber den USA. Hier zeigt sich das historische Gepäck des Landes, das abzuwerfen die chinesische Führung aber kaum Anstrengungen unternimmt. Auch der Autor selbst entkommt einmal nur mit Mühe einer aggressiven Menge und lernt daraus, sich in Zukunft lieber als Südafrikaner zu tarnen denn als Brite erkennen zu gebe.
James Kynge hat ein gut recherchiertes und kluges Buch geschrieben, voller anschaulicher Geschichten, aber ohne sich im Anekdotischen zu verlieren. Er hält sich nicht lange bei der Hauptstadt und der Partei auf, sondern spricht mit Menschen, die etwas initiieren, erarbeiten, bewegen oder auch erleiden. Eindringlich schildert er, wie schnell sich China verändert und was das für den Rest der Welt bedeutet, aber er schlägt keine alarmistischen Töne an. Er kommt ohne Experten aus, weil er selbst einer ist. Man muss deshalb gar nicht nach weiteren Büchern greifen, um zu verstehen, dass Kynges Werk als bestes Business-Buch des Jahres 2006 ausgezeichnet wurde.
aus: der überblick 01/2007, Seite 186
AUTOR(EN):
Renate Wilke-Launer