Ruth Manorama kämpft in Bangalore für Slumbewohner und Frauenrechte
Noch schneller als die Computerbranche wachsen im südindischen Bangalore die Slums. Ruth Manorama und ihre Organisation Women's Voice unterstützen den Kampf der Frauen in den Slums für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen.
von Michaela Ludwig
"Erhebt eure Stimme und kämpft mit uns!" Ruth Manorama schaut in die Gesichter der meist jungen Frauen. "Eure Mütter haben für dieses Stück Land gekämpft jetzt ist die Landfrage endlich geklärt", fährt die 51-Jährige fort, die selbst Mutter von zwei erwachsenen Töchtern ist. "Aber glaubt bloß nicht, dass nun alles von selbst passiert. Für die Armen klärt sich nichts von selbst."
Es ist Sonntag Vormittag in Shaktivel Nagar, einem kleineren der über 800 Slums in der südindischen Metropole Bangalore. Die meisten der etwa 800 Bewohner genießen den einzigen freien Tag der Woche. Zeit für die große Wäsche, zum Kochen oder Fernsehen. Die Frauengruppe der nichtstaatlichen Organisation (NGO) Women's Voice hat sich im Vorraum des kleinen Hindu-Tempels versammelt und lauscht den mahnenden Worten der charismatischen Geschäftsführerin. Der kleinen, stattlichen Frau gelingt es, die Zuhörerinnen zur Mitarbeit anzustacheln. Immer wieder hält sie auch inne, um auf deren Anliegen einzugehen.
Ruth Manoramas Blick fällt auf den Müllberg gegenüber. Ziegen und Hunde wühlen zwischen Plastiktüten nach Essbarem. Ein goldbestickter Sari flattert auf einer Leine, die jemand zwischen den Strommasten gespannt hat. "Als ich das erste Mal hierher kam, war alles überflutet. Bis hier stand das Wasser", erzählt die studierte Sozialarbeiterin mit Doktortitel und zeigt mit der rechten Hand auf Brusthöhe. Das war vor über fünfzehn Jahren. Der Slum existiert schon viel länger: Vor 40 Jahren haben Wanderarbeiter aus dem Nachbarstaat Tamil Nadu hier die ersten Hütten gebaut, natürlich illegal. All die Jahre haben die Bewohner mit der Angst gelebt, dass am nächsten Morgen Bulldozer die Hütten abreißen könnten. Solange der Slum von den Behörden nicht registriert war, gab es keinen Strom, kein fließend Wasser und keine Toiletten. Über zehn Jahre hat es gedauert, bis der Slum offiziell anerkannt wurde. Ruth Manorama und die Mitarbeiterinnen von Women's Voice haben die Bewohner in ihrem Kampf unterstützt, ihnen ihre Rechte erklärt und sind mit ihnen vor Gericht gezogen.
Heute führen Stromleitungen in bizarren Formationen in die Steinhäuser, Zähler an der Außenwand registrieren den Verbrauch. Wasser gibt es beim Tempel: eine trübe Brühe zum Wäschewaschen und ein paar Meter weiter den Trinkwasseranschluss, aus dem alle zwei bis drei Tage Wasser sprudelt. Dann fangen die Frauen das Nass in Plastikbehältern auf, um es zu Hause sorgsam zu verwalten.
Zyniker nennen den Slum die Wohnform der Zukunft. Das ist im Falle der Mega-City Bangalore, die im vergangenen Jahrzehnt um 1,5 Millionen Einwohner auf heute knapp 6 Millionen angewachsen ist, nicht allzu weit hergeholt: Jeder vierte lebt hier im Slum Tendenz steigend. Gleichzeitig hat sich Bangalore zu einer Hightech-Metropole entwickelt: Mehr als 700 IT-Unternehmen mit 75.000 Mitarbeitenden haben sich hier angesiedelt und für den Ruf der Stadt als "Indiens Silicon Valley" gesorgt. Dieser Bauboom wäre unmöglich, wenn nicht täglich neue Wanderarbeiter aus Karnataka und dem Nachbarstaat Tamil Nadu in die Metropole kämen. Ohne Arbeitsverträge schuften sie auf den Baustellen oder im Straßenbau und leben in Slums. Die meisten sind Unberührbare, Dalits.
Obwohl Ruth Manorama sich heute mehr um die Leitung von Women's Voice kümmert, besucht sie immer noch jeden Morgen einen der 150 Slums, in denen die Frauengruppen organisiert sind. Ruth und ihr Ehemann Samy haben die NGO und ihre Dachorganisation, die Service Society, zu Beginn der achtziger Jahre gegründet. Seit 1987 wird ihre Arbeit von "Brot für die Welt" unterstützt. Ein Großteil der Angebote von Rechtsberatung über Gesundheitserziehung bis hin zur Alphabetisierung richtet sich an Frauen.
Die anzusprechen war zunächst nicht einfach: "Die Männer verbaten ihnen, unsere Treffen zu besuchen. Einige Frauen wurden von ihren Ehemännern geschlagen, und wir wurden angepöbelt", erzählt Manorama. Auch die Frauen waren verunsichert. "Auf unserem ersten Treffen war sie sehr schwer dazu zu bringen, offen zu sprechen", erinnert sie sich. "Man kann sich nicht vorstellen, wie wenig Selbstbewusstsein diese Menschen haben, die vom Tag ihrer Geburt an erniedrigt wurden und denen eingebläut wurde, dass sie nichts wert sind." Umso zufriedener ist sie heute mit dem Enthusiasmus bei den monatlichen Treffen: Dort berichten 300 Frauen, das sind zwei gewählte Vertreterinnen aus jedem Slum, über die Situation im Ort. Anschließend tragen sie das Gelernte in ihre Gruppen zurück.
"Die Frauen versuchen, ihre Probleme gemeinsam zu lösen. Wenn eine Intervention von unserer Seite notwendig ist, dann sind wir da", erklärt Ruth. Das Ziel von Women's Voice ist, die Solidarität unter den Frauen zu stärken. In den Gruppen finden die Frauen auch Ansprechpartnerinnen für private Probleme oder Verbündete, wie vor einigen Jahren im Kampf gegen den Alkoholismus in Hombegowda Nagar.
Der Frauengruppe dieses Slums stattet Ruth Manorama den zweiten Besuch heute morgen ab. Sie stoppt vor einem kleinen Steinhaus und erzählt, wie sich die Frauen gegen den Arrack-Laden zur Wehr gesetzt haben. Ein Drittel der Ehemänner in Hombegowda Nagar waren hier Stammkunden und haben ihren Lohn in den billigen indischen Schnaps umgesetzt. Die Frauen organisierten mit Unterstützung von Women's Voice eine Unterschriftensammlung gegen den Ladeninhaber. Dabei beriefen sie sich auf ein Gesetz, welches das Betreiben von Arrack-Läden in Wohngebieten von Dalits verbietet. Nach einer großen Demonstration vor der zuständigen Behörde wurde dem Betreiber die Lizenz entzogen. Doch der dachte nicht daran, das florierende Geschäft aufzugeben. Deshalb nahmen die Frauen die Angelegenheit selbst in die Hand und demolierten den Laden. Weil der nächste Schnapsladen nun mehrere Häuserblocks entfernt liegt, trinken die Männer heute merklich weniger, schließt Manorama schmunzelnd.
Dass dieses Quartier ein ehemaliger Slum ist, daran erinnert nicht mehr viel. Die Landfrage ist längst geklärt und den Bewohnern wurden Baugenehmigungen erteilt. Anders als in Shaktivel Nagar sind die meisten Häuser hier neu gebaut und liebevoll bemalt. Die Wege sind breiter und sauber gefegt. Neben eigenem Strom- und Wasseranschluss besitzt jedes Haus eine Toilette. Dank der Kleinkredite der Service Society betreiben viele Bewohner kleine Betriebe wie eine Schneiderei oder eine Getreidemühle.
"Jeder Slum ist in einem anderen Entwicklungsstadium", erklärt Ruth Manorama, "deshalb verändern sich unsere Aufgaben ständig." So wurde für Ruth und Samy im Laufe ihrer Arbeit offensichtlich, dass viele Probleme der Slumbewohner mit deren Arbeitssituation zusammenhängen. Über 90 Prozent verdienen ihren Lebensunterhalt im informellen Sektor: auf dem Bau, im Straßenverkauf oder als Dienstmädchen. "Sie haben keinen Arbeitsvertrag, keine Absicherung. Wenn ihnen etwas passiert, kümmert es niemanden", erklärt Ruth. "Für Frauen kommt hinzu, dass viele sexuell ausgenutzt werden."
Deshalb haben Samy und Ruth das "Nationale Zentrum für Arbeit" aufgebaut, einen Zusammenschluss der Gewerkschaften für den informellen Sektor. Kürzlich hat die Bundesregierung von Karnataka ein Gesetz erlassen, das für Dienstmädchen einen Mindestlohn von zunächst 1800 indischen Rupien (etwa 32 Euro) monatlich festschreibt für acht Stunden täglich bei einer Sechs-Tage-Woche. "Wir werden sehen, wie viele Arbeitgeber sich daran halten", dämpft Ruth die Freude über diesen Erfolg.
Denn mit dem Tempo der Veränderungen ist Ruth Manorama alles andere als zufrieden. Sie möchte mitgestalten. Deshalb verbringt sie mittlerweile die meiste Zeit am Schreibtisch oder auf Konferenzen: als Mitglied oder Beraterin in einer langen Liste von Kommissionen und Organisationen, die sich für Slumbewohner, für die Gleichberechtigung der Frauen und die Rechte der Dalits einsetzen. Besonders am Herzen liegt ihr jedoch die Situation der Dalit-Frauen.
Aufgewachsen in der Großstadt Chennai (dem ehemaligen Madras), hat Manorama die Beleidigungen, Diskriminierung und Misshandlung, denen die Dalit-Frauen auf dem Lande ausgesetzt sind, selbst nicht zu spüren bekommen. "In der Stadt sagen sie nicht: Du bist Dalit, du darfst nicht in dieses Restaurant gehen und mit uns essen. Im Dorf hingegen weiß jeder, dass du Dalit bist", erzählt sie. "In der Stadt zu leben ist eine Befreiung."
Ihren Kampfgeist, so glaubt sie, hat ihr die Mutter vererbt. Dorothy Elizabeth ist zum Christentum konvertiert, weil sie der Meinung war, dass diese Religion den Frauen bessere Chancen auf eine gute Schulbildung zugestehen würde. Sie wurde Lehrerin, ihre Tochter eine bekannte Dalit-Aktivistin. "Für die Dalit-Frauen ist Bildung das Entscheidende, nur sie verhilft ihnen zum Aufstieg", stellt Ruth Manorama fest.
Kurz bevor die Frauen von Women's Voice ihren Rundgang beenden, wird Ruth von einer älteren Frau beiseite gezogen. Sie erzählt von der Nachbarstochter, die eine Affäre mit einem muslimischen Mann hatte und nun schwanger ist. Der Mann will von seinem Versprechen, das Mädchen zu heiraten, nichts mehr wissen. Die Frau bittet Ruth um Rat. Schnell mischen sich die umstehenden Frauen ein, fragen nach, erklären, geben Ratschläge. Nach kurzem Überlegen schlägt Ruth mit ruhiger Stimme vor, dass die Koordinatorin Shataj, eine Muslimin, das Gespräch mit dem jungen Mann suchen solle. Wenn er dann noch immer nicht der Hochzeit zustimmen wolle, solle sie in der Moschee vorsprechen. Dann müsse er eben gezwungen werden.
Die Frauen nicken und murmeln beifällig. "Wenn sie nicht hören wollen, dann zeigen wir unsere Stärke. Aber wenn sie zuhören, dann reden wir mit ihnen", erklärt Ruth. So läuft es im Kleinen wie im Großen.
aus: der überblick 01/2005, Seite 116
AUTOR(EN):
Michaela Ludwig:
Michaela Ludwig hat Germanistik und Soziologie studiert und arbeitet als freie Journalistin in Hamburg mit dem Schwerpunkt Entwicklungszusammenarbeit und Ostafrika.