Der Wind des Wandels hat nun auch Libyen erreicht
Acht Jahre UN-Embargo haben Libyen wirtschaftlich geschwächt, international isoliert und innenpolitisch destabilisiert. Mitte September hat nun die Europäische Union ihre Wirtschaftssanktionen gegen Libyen aufgehoben. In den Reihen der europäischen Wirtschaftsunternehmen herrscht Aufbruchstimmung. Auch auf politischer Ebene hat es erste Annäherungsversuche gegeben. Die neue Entwicklung könnte die Reformkräfte in Libyen stärken.
von Martina Kamp
Mit der Auslieferung zweier libyscher Staatsbediensteter in die Niederlande endete im April dieses Jahres der Konflikt zwischen Libyen und den Vereinten Nationen (UN), der das Land wirtschaftlich und politisch teuer zu stehen kam. Begonnen hatte er vor acht Jahren, als die USA und Großbritannien Libyen beschuldigten, für das Bombenattentat verantwortlich zu sein, das im Dezember 1988 ein Flugzeug der Pan Am über dem schottischen Ort Lockerbie zum Absturz brachte. Kurz darauf hatte Frankreich Anklage wegen des Absturzes einer UTA-Maschine über dem Niger erhoben. Da sich Libyen mit dem Hinweis, es gebe keine Auslieferungsabkommen, weigerte, die Tatverdächtigen auszuliefern, beschloß der UN-Sicherheitsrat auf Druck der westlichen Staaten, die Auslieferung zu erzwingen. Das Waffen- und Luftverkehrsembargo vom April 1992 wurde Ende 1993 auf Ausrüs-tungsgegenstände für den Erdöl- und Erdgassektor ausgeweitet. Außerdem wurden alle Auslandsguthaben Libyens eingefroren. Insgesamt belaufen sich die wirtschaftlichen Einbußen während der über sieben Jahre andauernden Isolation nach libyschen Angaben auf geschätzte 24 bis 26,5 Milliarden US-Dollar.
Mit Abstand der wichtigste Posten im libyschen Haushalt sind die Erlöse aus den Erdölexporten. Sie waren 1998 um 40 Prozent geringer als noch im Vorjahr. Damit verengte sich der Handlungsspielraum der Regierung noch weiter. Auch 1999 werden die Einnahmen trotz der wesentlich von Libyen mitgestalteten neuen Preispolitik der Organisation erdölexportierender Staaten (OPEC) unter denen von 1997 zurückbleiben. Zwar ist bereits Ende der achtziger Jahre ein Reformkurs eingeschlagen worden, der Libyens Abhängigkeit vom Erdölsektor mindern sollte. Dennoch wird aus dem Verkauf des Rohstoffes immer noch über 95 Prozent des Exporterlöses erwirtschaftet. Haupthandelspartner - nach dem politisch motivierten Rückzug der USA in den achtziger Jahren - sind die Staaten der Europäischen Union (EU).
Nachdem die EU die Sanktionen gegen Libyen mit Ausnahme des Waffenembargos seit Mitte September 1999 aufgehoben hat, herrscht in den Reihen der europäischen Wirtschaftsunternehmen Aufbruchstimmung. Der libysche Revolutionsführer Gaddafi hat seinerseits betont, ausländische Unternehmen seien willkommen. Da das Lieferverbot für Ersatzteile einen Ausbau des Erdöl- und Erdgassektors jahrelang unmöglich gemacht hatte, sind Investitionen jetzt dringend erforderlich. In den Raffinerien von Marsa Brega, Ras Lanuf und Az-Zawiya sowie in der dortigen Erdölverladestation stehen umfangreiche Ausbaumaßnahmen an, die Libyen mit Hilfe ausländischer Investoren angehen will. Außerdem sollen noch in diesem Jahr weitere Gebiete, in denen Erdölvorkommen vermutet werden, erkundet werden.
Der Bedarf an ausländischem Kapital wird auf mehr als 20 Milliarden US-Dollar geschätzt. Aufsehen erregte Libyen mit dem Vorhaben, Italien künftig über eine Unterwasserpipeline von Az-Zawiya nach Sizilien mit Erdgas zu beliefern. Allein für dieses Projekt, das von der italienischen Agip Gas B.V. realisiert werden soll, wird das Investitionsvolumen auf 3 bis 5 Milliarden US-Dollar geschätzt. Auch innerhalb Libyens ist der Bau neuer Erdgasleitungen geplant, um die bereits eingeleitete Umstellung der libysche Energieversorgung von Erdöl auf Erdgas zu beschleunigen. Ein anderes libysches Großprojekt ist die dringend notwendige Modernisierung der Libyan Arab Airlines durch den Kauf von 24 neuen Flugzeugen. Hier liegt das europäische Konsortium Airbus Industrie im Rennen vorn. Allerdings hat die libysche Regierung den Vertragsabschluß von der Aufhebung des bisher lediglich ausgesetzten UN-Embargos abhängig gemacht. Schließlich sollen auch Investitionen in Bereiche wie Kommunikation und Tourismus fließen.
Die wirtschaftliche Liberalisierung des Landes, die Politik der Infitah, wird schon seit einigen Jahren mit Riesenschritten vorangetrieben. Damit wird ein Kurs korrigiert, der das Land in eine wirtschaftliche Krise geführt hatte: eine Wirtschaftspolitik nach Gaddafis Leitlinien, die er in seinem Grünen Buch von 1975 dargelegt hat. Ab 1978 war die libysche Wirtschaft schrittweise verstaatlicht worden. Die meisten Unternehmen wurden fortan von gewählten Komitees geleitet, der Einzelhandel wurde eingeschränkt. In der Folge fiel die Produktivität stetig, während zugleich die Kosten für Arbeitskräfte und Ressourcen immer weiter stiegen. Versorgungs- und Verteilungsengpässe ließen den mühsam erkämpften vergleichsweise hohen Lebensstandard sinken. Schon 1987 wurde der Privathandel wieder zugelassen. In einem zweiten Reformschritt 1990 wurde der staatliche Anteil an Wirtschaftsunternehmen verringert. Der Staatshaushalt sank, Subventionen wurden gekürzt und zugleich private Initiativen in Industrie, Landwirtschaft und Handel gefördert.
Von diesen Maßnahmen ausgenommen war bisher der Erdölsektor, der im Zuge einer Politik der nationalen Selbstbestimmung nach 1969 schrittweise verstaatlicht worden war. Zu Beginn der achtziger Jahre hatte die National Oil Company (Nationale Ölgesellschaft) ihre Beteiligung an den in Libyen operierenden ausländischen Erdölgesellschaften auf 80 Prozent erhöht; in Joint Ventures (Gemeinschaftsunternehmen) hält die libysche Regierung weiterhin einen Anteil von 51 Prozent.
Mit steigenden ausländischen Investitionen wird auch der Druck der multinationalen Unternehmen und europäischen Konsortien auf die libysche Regierung stärker, weitere Wirtschaftsreformen in Gang zu setzten, vor allem den lybischen Markt weiter nach außen zu öffnen und eine nochmalige Abwertung des Libyschen Dinars vorzunehmen. Zur Diskussion steht auch eine Änderung des Erdölgesetzes aus den fünfziger Jahren, das die Tätigkeit ausländischer Firmen auf ein Viertel des libyschen Staatsgebiets einschränkt.
Neben der wirtschaftlichen Liberalisierung setzte Ende der achtziger Jahre auch eine außenpolitische Kursänderung ein. Damit wollte sich Libyen aus der politischen Isolation befreien, in die es sich sowohl auf internationaler als auch auf regionaler Ebene manövriert hatte. Vor allem Gaddafis Unterstützung von Befreiungsbewegungen wie die Palästinesische Befreiungsorganisation (PLO), die in der Westsahara (POLISARIO) und die Irisch-Republikanische Armee (IRA) sowie seine harsche Kritik an der politischen und wirtschaftlichen Dominanz der Supermächte lenkten die internationale Aufmersamkeit auf die libysche Außenpolitik. Die USA setzten Libyen neben dem Iran, Irak, Nord-Korea, Kuba und dem Sudan auf die Liste der sogenannten Schurkenstaaten (rogue states), denen sie die Unterstützung des internationalen Terrorismus vorwerfen. Die Konfrontation mit der Supermacht USA - verschärft durch Libyens militärische Zusammenarbeit mit der UdSSR sowie die wirtschaftliche und ideologische Unterstützung afrikanischer sozialistischer Staaten - nahm Gaddafi bewußt in Kauf.
Im Laufe der achtziger Jahre kam es mehrmals zu militärischen Auseinandersetzungen über dem Gebiet der Große Sirte, die Libyen als Hoheitsgebiet beanspruchte und in der die USA regelmäßig Flottenmanöver durchführten. Als Vergeltung für die Beteiligung Libyens am Attentat auf die Berliner Diskothek La Belle flogen die USA 1986 Luftangriffe auf Tripolis und Benghasi. Vor dem Hintergrund dieser Spannungen muß auch das jüngste Verhalten der USA im Lockerbie-Konflikt verstanden werden: Obwohl sich UN-Generalsekretär Kofi Annan in seinem Bericht im UN-Sicherheitsrat am 7. 7. 1999 positiv zu Libyens neuer Haltung geäußert hatte, drohte Washington sein Veto gegen die von den afrikanischen Staaten geforderte vollständige Aufhebung der Sanktionen, insbesondere des Waffenembargos an. Während die europäischen Staaten nach dem vorläufigen Ende des UN-Wirtschaftsembargos vom Boom der libyschen Wirtschaft profitieren wollen, erhalten die USA ihr Handelsembargo weiter aufrecht.
Unterdessen hatte sich die libysche Regierung seit Anfang der neunziger Jahre um eine Verbesserung ihrer internationalen Beziehungen bemüht, so zum Beispiel durch Gaddafis Kritik an der irakischen Annexion Kuwaits. Erste Anzeichen für diesen Kurswechsel hatte es bereits während des ersten Golfkrieges gegeben, als Libyen die Unterstützung Irans beendete. Darüber hinaus schloß Libyen Ausbildungslager für Befreiungsbewegungen und händigte der britischen Regierung 1995 Dokumente aus, die Aufschluß über ihre Unterstützung der IRA gaben. Die Auslieferung der zwei Tatverdächtigen des Lockerbie-Anschlags in die in dem Konflikt nicht parteilichen Niederlande leitete schließlich das Ende des Lockerbie-Konflikts ein.
Nach fünfzehn Jahren hat Großbritannien die diplomatischen Beziehungen zu Libyen wieder aufgenommen. Die britische Regierung hatte 1984 ihre Botschaft in Tripolis geschlossen, nachdem eine Londoner Polizistin durch Schüsse aus der libyschen Vertretung getötet worden war. Libyen hat sich mittlerweile zu Kompensationszahlungen an die Angehörigen des Opfers bereit erklärt. Auch im Fall der über dem Niger abgestürzten französischen Verkehrsmaschine hat Gaddafis Regierung teilweise eingelenkt: Kürzlich leistete der libysche Staat Kompensationszahlungen in Höhe von über 31 Millionen US-Dollar an die Hinterbliebenen der Opfer, ohne jedoch eine Schuld oder Mitschuld einzugestehen.
Auch gegenüber den Nachbarstaaten schwenkte die libysche Regierung Ende der achtziger Jahre auf eine Politik der Entspannung ein. Zuvor hatten Grenzstreitigkeiten die Beziehungen jahrelang belastet: Südlich von Gaddames hatte die libysche Regierung Anspruch auf algerisches Staatsgebiet erhoben; von Malta und Tunesien hatte sie Korrekturen im Grenzverlauf auf dem Kontinentalsockel im Meer gefordert; im südlichen Nachbarland Tschad hatte sie den Aouzou-Streifen annektiert; und die Große Sirte, den Golf bei Bengasi, hat sie als ihr Hoheitsgebiet beansprucht. Immer wieder schloß Libyen seine Grenzen zu einzelnen Nachbarstaaten. Im Zuge der neuen Außenpolitik wurden diese Grenzen alle wieder geöffnet; der Konflikt mit dem Tschad wurde vor dem Internationalen Gerichtshof beigelegt.
Der Kurswechsel schlug sich auch in neuen regionalen Bündnissen nieder: Libyen zählt zu den Gründungsmitgliedern der im Februar 1989 ins Leben gerufenen Arabischen Maghrebunion (AMU) und der 1998 eingerichteten sahel-saharischen Wirtschaftsunion (COMESSA). Die AMU, der neben Libyen auch Algerien, Marokko, Mauretanien und Tunesien angehören, umfaßt Vereinbarungen zur sicherheitspolitischen Zusammenarbeit, den Ausbau der wirtschaftlichen Kooperation sowie den Austausch im kulturellen und bildungspolitischen Bereich. In den zehn Jahren ihres Bestehens konnte die Gemeinschaft allerdings keines ihrer hochgesteckten Ziele verwirklichen. Zum einen leidet die Zusammenarbeit der Bündnispartner seit 1992 an den Spannungen zwischen Algerien und Marokko infolge des Westsaharakonflikts; auch das in diesem Jahr in Tripolis geplante Gipfeltreffen könnte an diesem Konflikt scheitern. Zum anderen läßt sich eine Abstimmung der Handelspolitik gegenüber Drittstaaten - insbesondere gegenüber dem wichtigsten Handelspartner, der EU - nicht durchsetzen. Denn Brüssel setzt auf bilaterale Assoziierungsabkommen, wenn auch im Rahmen der 1995 institutionalisierten euro-mediterranen Partnerschaft. Bisher sind solche Abkommen mit Tunesien und Marokko abgeschlossen worden, mit Algerien werden derzeit Verhandlungen geführt. Als Folge des Embargos war Libyen bis vor kurzem von diesem Prozeß ausgeschlossen.
Im April 1999 nahm Libyen erstmals als Beobachter ohne Rederecht an dem Außenministertreffen von EU und Mittelmeeranrainern teil. Die EU hat Libyen die Aufnahme in die Euro-Mediterrane-Partnerschaft zugesichert, sobald die UN-Sanktionen vom Sicherheitsrat vollständig aufgehoben sind und wenn das Land die bisher getroffenen Vereinbarungen weiterhin anerkennt. Hier unterscheidet sich die Politik der EU deutlich vom Vorgehen der Vereinigten Staaten. Auch die USA suchen mit der sogenannten Eisenstadt-Initiative eine Annäherung an die nordafrikanischen Märkte mit weit über 60 Millionen Konsumenten. Eine Beteiligung Libyens ist hierbei aber vorerst nicht erwünscht.
Die neuen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen Libyens zur EU könnten längerfristig auch innenpolitische Folgen haben. Bisher sind in Libyen weder Parteien noch nichtstaatliche Organisationen zugelassen. Das libysche System der sogenannten einheitlichen Volksmassendemokratie sieht keinen Platz für eine organisierte Opposition vor; es widerspricht der westlichen Auffassung von pluraler Demokratie: Politische Entscheidungen sollen zunächst auf lokaler Ebene in Basisvolkskonferenzen und Berufskomitees diskutiert werden, die Umsetzung der Beschlüsse erfolgt dann idealerweise in den ebenfalls kollektiv organisierten Volkskomitees auf regionaler Ebene. Alle Gremien entsenden Delegierte, die mit einem imperativen Mandat ausgestattet sind, in die seit Januar 1976 jährlich abgehaltene Sitzung der Allgemeinen Volkskonferenz (AVK). Diese verfügt über die legislative Gewalt und wählt das Generalsekretariat der AVK sowie das Allgemeine Volkskomitee, das exekutive Funktion ausübt, die denen eines Ministerrats ähneln. Die Sekretäre (Minister) und der Generalsekretär der AVK (Ministerpräsident) sollen die Beschlüsse umsetzen.
Während der siebziger und achtziger Jahre war ein systemkritisches politisches Handeln praktisch nur außerhalb des Landes möglich. Viele Regimekritiker gingen in die USA, nach Ägypten, Großbritannien oder in die Schweiz. Die sehr unterschiedlichen Oppositionsgruppen, die im Exil entstanden, waren jedoch bisher kaum zu einer Zusammenarbeit bereit.
Ende der achtziger Jahre gab es erste Anzeichen einer politischen Liberalisierung. Wirtschaftliche Unterversorgung und staatliche Repression hatten eine innenpolitische Krise herbeigeführt. Um Entspannung bemüht, verkündete Gaddafi die "Revolution der Revolution". Die Grenzen wurden geöffnet, Reisefreiheit wurde gewährt. Im Juni 1988 wurde die libysche Deklaration der Menschenrechte verabschiedet, die Verbesserungen bei der Achtung der Menschenrechte, insbesondere der bürgerlichen und politischen Rechte versprach.
Die Liberalisierungspolitik wurde jedoch gestoppt, als sich die Konflikte mit Gruppierungen des politischen Islam verschärften. Wie in anderen Gesellschaften des Maghreb vollzog sich auch in Libyen Mitte der achtziger Jahre eine Neuorientierung breiter Bevölkerungsschichten hin zum politischen Islam. Weil auch Gaddafis Politik immer betonte, auf der Grundlage des Islam zu stehen, geschah dies allerdings vergleichsweise spät. Unterstützt von Entwicklungen in den Nachbarländern, erhielten auch in Libyen militante Gruppierungen verstärkten Zulauf. Die libysche Regierung reagierte auf die islamistische Herausforderung mit Härte und Repression. Immer wieder kam es zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der Anhängerschaft des politischen Islam und libyschen Sicherheitskräften. In der Cyrenaika wurden 1996 mehrere Anschläge verübt und im Gebiet des Jabal Akhdar wurde die libysche Luftwaffe gegen die islamistischen Untergrundkämpfer eingesetzt. Zwar hatte Revolutionsführer Gaddafi in seinen programmatischen Reden wiederholt die islamistische Bewegung verurteilt, doch erst im August 1999 sprach er erstmals offen über die militanten Gruppierungen des politischen Islam in Libyen. Zugleich hob er hervor, daß diese Gefahr mittlerweile gewaltsam abgewendet worden sei.
Im Zuge dieser Repressionspolitik gab es auch Übergriffe gegen Intellektuelle, die mit nicht militanten oppositionellen Gruppierungen sympathisierten. Das repressive Vorgehen der libyschen Sicherheitskräfte gegen tatsächliche oder vermeintliche Oppositionelle hat internationale Menschenrechtsorganisationen auf den Plan gerufen. Amnesty International kritisiert in seinen Jahresberichten schon seit einigen Jahren die Verhaftungswellen.
In den neunziger Jahren hat sich die wirtschaftliche Situation im Land aufgrund sinkender Erdöleinnahmen erneut verschlechtert. Die Folge ist eine grassierende Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen, die - verschärft durch den Einstellungsstopp in staatlichen Behörden - auf 30 Prozent angestiegen ist. In der Vergangenheit hatte der Erdölreichtum den libyschen Staat von Steueraufkommen weitgehend unabhängig gemacht. Seine Einnahmen konnte er unter der Bevölkerung verteilen. Seit die Staatskasse immer leerer ist, ist die Regierung nun auf eine Zustimmung ihrer Bürgerinnen und Bürger angewiesen, um Sparkonzepte und eine Steuererhöhung umsetzen zu können. In letzter Zeit ist in den Medien wiederholt Kritik an den staatlichen Verwaltungsorganen geäußerten worden. Doch die Medien unterliegen nach wie vor einem staatlichen Monopol. So bleibt abzuwarten, ob die Kritik als Zeichen einer neuen Pressefreiheit gewertet werden kann oder ob hiermit - wie in der Vergangenheit mehrmals geschehen - nur eine neue programmatische Rede Gaddafis angekündigt wird.
Der derzeitige politische Kurs ist geprägt durch die Suche nach einem Kompromiß zwischen zwei Lagern. Auf der einen Seite stehen jene, die um Libyens revolutionäre Identität bangen. Ihr Einfluß läßt sich daran ablesen, daß trotz leerer Kassen die Unterstützung der panafrikanischen Idee eine neuerliche Aufwertung in der Außenpolitik erfahren hat. Erst kürzlich bezahlte Libyen die OAU-Beiträge für einige der ärmsten Mitgliedstaaten aus eigener Tasche. Auf der anderen Seite steht eine neue technokratische Elite, die Posten im Regierungs- und Verwaltungsapparat besetzt hat, sowie eine Anzahl arbeitsloser oder unter ihrer Qualifikation beschäftigter Intellektueller. Beide Gruppen drängen darauf, die Ideologie den nationalen Wirtschaftsinteressen unterzuordnen.
Ein Besuch im Grünes-Buch-Zentrum in Tripolis - das mit der Verbreitung der Dritten Universaltheorie Gaddafis beauftragt ist - erweckt den Eindruck, daß die Entscheidung über die künftige Marschrichtung Libyens bereits gefallen sein könnte. Denn während die Universitäten trotz der Arbeitsplatzmisere unter Intellektuellen nach wie vor überfüllt sind, scheint die Bibliothek des ideologischen Zentrums verwaist. Die dicke Staubschicht auf Tischen und Büchern spricht eine deutliche Sprache.
aus: der überblick 04/1999, Seite 44
AUTOR(EN):
Martina Kamp:
Martina Kamp ist Doktorandin am Historischen Seminar der Universität Hamburg. Sie forscht zu Libyen und Irak. Kamp ist Mitherausgeberin von "Libyen im 20. Jahrhundert. Zwischen Fremdherrschaft und nationaler Selbstbestimmung", Hamburg 1995.