Die Entwicklungshilfe zum Aufbau sozialer Sicherungssysteme folgt verschiedenen Konzepten
Arme Länder beim Aufbau von Systemen der sozialen Sicherung zu unterstützen, ist seit den achtziger Jahren zu einem wichtigen Tätigkeitsfeld der Entwicklungshilfe geworden. Die Geber – insbesondere die Weltbank und die Internationale Arbeitsorganisation – folgen dabei unterschiedlichen Leitlinien. Inzwischen zeichnet sich jedoch ein Konsens ab: Gemischte Systeme, an denen der Staat, Selbsthilfegruppen und private Träger beteiligt sind, dürften sich durchsetzen.
von Hans Gsänger
Die Geber von Entwicklungshilfe – multilaterale wie bilaterale – haben die soziale Sicherung als Tätigkeitsfeld entdeckt. Zum Beispiel beraten und unterstützen die Weltbank und die Internationale Arbeitsorganisation (International Labour Organisation, ILO) Entwicklungsländer beim Aufbau und bei der Reform von sozialen Sicherungssystemen. Sie vertreten über den einzuschlagenden Weg unterschiedliche Auffassungen, die sich jedoch einander anzunähern scheinen. Auch die deutsche Entwicklungszusammenarbeit sieht in der Förderung sozialer Sicherungssysteme einen unverzichtbaren Bestandteil der Armutsbekämpfung.
Den Strukturwandel sozial verträglich zu gestalten, ist ein altes Anliegen. Normen für soziale Sicherung zu entwickeln sowie technische Hilfe für ihre Umsetzung zu leisten, gehört zu den klassischen Aufgaben der ILO. Sie wurde vor über achtzig Jahren gegründet, um internationale Wettbewerbsverzerrungen dadurch zu verhindern beziehungsweise abzubauen, dass Sozial- und Arbeitsnormen gesetzt und beachtet wurden. Dabei war der Blick zunächst auf die alten Industrieländer gerichtet. 1952 wurde das Internationale Übereinkommen über soziale Sicherheit C102 verabschiedet, das Mindestnormen für Leistungen in den Hauptzweigen der sozialen Sicherheit festlegt. Das Übereinkommen ist inzwischen von den meisten OECD-Ländern, zwei Transformationsländern, sieben lateinamerikanischen, drei subsaharischen und zwei nordafrikanischen Ländern sowie einem asiatischen Land ratifiziert worden. Die ILO hat seit den fünfziger Jahren in mehr als 120 Ländern technische Hilfe und Beratung geleistet. Seit Ende des Kalten Krieges beteiligt sie sich mit großem Engagement an den Reformen in den mittelost- und osteuropäischen Transformationsländern.
Dass auch Entwicklungshilfe-Geber sich seit Ende der achtziger Jahre zunehmend in der Reform und Fortentwicklung von sozialen Sicherungssystemen engagieren, hat im Wesentlichen vier Gründe. Der erste ist die Krise der Rentensysteme in den Ländern Lateinamerikas. Diese Systeme brachen im Zuge des wirtschaftlichen Niedergangs der achtziger Jahre weitgehend zusammen, und ihre Reform galt als wesentlicher Baustein für eine erfolgversprechende Strukturanpassungspolitik. Die zweite Anforderung war die Abfederung der sozialen Folgen der Strukturanpassungspolitik der achtziger Jahre in den armen, insbesondere afrikanischen Entwicklungsländern. Die Strukturanpassung ging dort mit einem Verlust an sozialer Sicherheit und mit harten Schnitten in den Leistungen des Gesundheits- und Bildungssektors einher, die soziale Grunddienste zunehmend kostenpflichtig machten.
Drittens verloren in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und Mittelosteuropas die sozialen Sicherungssysteme im Zuge der marktwirtschaftlichen Reformen ihre wirtschaftlichen und finanziellen Fundamente und brachen zusammen. Und viertens machten die Erfahrungen der Asienkrise von 1997-98 deutlich, dass familien- und gemeinschaftsbasierte informelle Sicherungssysteme – ergänzt um bescheidene staatliche Programme bei einschneidenden wirtschaftlichen Krisen – nicht ausreichen, um den Absturz größerer Bevölkerungsteile in die Armut zu verhindern.
Der Weltsozialgipfel in Kopenhagen von 1995 hat die Bedeutung des Auf- und Ausbaus der sozialen Sicherung als unverzichtbarem Bestandteil der Armutsbekämpfung und einer breitenwirksamen Sozialentwicklung hervorgehoben. Die Politische Erklärung des Gipfels enthält die Verpflichtung, "Politiken auszuarbeiten und umzusetzen, die sicherstellen, dass alle Menschen bei Arbeitslosigkeit, Krankheit, Mutterschaft, während der Kindererziehung, bei Verwitwung, bei Invalidität und im Alter einen angemessenen wirtschaftlichen und sozialen Schutz genießen". Über die einzuschlagenden Wege, um ein möglichst hohes Maß an sozialer Sicherung für die Menschen in den Entwicklungsländern zu erreichen, wird international diskutiert.
Diese Debatte steht vor dem Hintergrund gravierender sozialer Veränderungsprozesse, die als die Kehrseite der Globalisierung verstanden werden müssen. Die Arbeitsmärkte haben sich in den neunziger Jahren in vielen Ländern Lateinamerikas und Asiens zunehmend "informalisiert" – der Anteil formaler Beschäftigung hat zu Gunsten des informellen Sektors abgenommen. In den ehemaligen Wirtschaftswunderländern Südostasiens hat die Finanzkrise Hunderttausende den einst sicher geglaubten Job gekostet und Millionen Menschen erneut in Armut gestürzt. Und in den ländlichen Gebieten Afrikas hat die Masse der Kleinbauern trotz marktwirtschaftlicher Reformanstrengungen mit wachsender wirtschaftlicher und sozialer Unsicherheit zu kämpfen.
Die Anpassungsfähigkeit der armen Menschen ist häufig eindrucksvoll. Trotz schwieriger Umstände gelingt ihnen das Überleben ohne Zugang zu formellen Sicherungssystemen, ohne ausreichend entlohnte Beschäftigung und ohne genügend Einkommen aus Markttätigkeit. Bemerkenswert sind insbesondere die Anstrengungen in vielen Entwicklungsländern, die traditionelle Solidarität kreativ fortzuentwickeln. Einerseits sinkt die Fähigkeit der Familien zur Solidarität wegen schrumpfender Einkommen und eines schwächer werdenden sozialen Zusammenhalts – ausgelöst durch Migration und den damit einhergehenden Wertewandel. Doch andererseits entstehen neue Sicherungsformen, die vor allem von Frauen organisiert werden. Dies ist auch nicht verwunderlich. Denn Frauen werden beim Zugang sowohl zu den formalen Sicherungssystemen als auch zu wichtigen Ressourcen wie Land, Ersparnissen und Bildung diskriminiert; ihre soziale Sicherheit ist in Krisenzeiten zu allererst bedroht.
In vielen Ländern Afrikas ist die Wirtschaft nur gering gewachsen oder gar geschrumpft, und die soziale Unsicherheit ist für große Gruppen armer Menschen und in den großen Städten zugenommen. Vielen wurde der einst relativ sichere Zugang zu Gesundheitsdiensten und Bildung infolge zunehmender finanzieller Belastungen de facto versperrt. Der wirtschaftliche Niedergang beschleunigte den Zusammenbruch der auf traditionelle soziale Gemeinschaften gegründeten Sicherungssysteme. Eine neue Welle der Selbstorganisation in Basisgruppen konnte das nur ungenügend kompensieren. Die formellen Sicherungssysteme, die nur die dauerhaft im modernen Sektor Beschäftigten erreichen, wurden durch die Wirtschaftsflaute weiter geschwächt oder gar vom Staat geplündert.
Die Aussichten für eine Trendwende hängen stark davon ab, ob es gelingt, die afrikanischen Länder auf einen nachhaltigen Wachstumskurs zurückzuführen. Das ist notwendig, aber nicht hinreichend; zusätzlich müssen die Länder ihre Politik stärker auf Armutsminderung ausrichten, gesellschaftliche Reformen durchführen und eine bedarfsgerechte Bildungs-, Gesundheits- und Arbeitsmarktpolitik sowie bedürftigkeitsabhängige Unterstützungsleis-tungen für besonders gefährdete Gruppen bereitstellen.
Für Südost- und Ostasien wird immer wieder behauptet, dass gerade die Weigerung der Staaten, enge Sicherungsnetze zu knüpfen, dazu beigetragen habe, dass die sozialen Institutionen wie Familienverbände nach wie vor stark sind. Die asiatischen Gesellschaften seien damit besser gewappnet als die westlichen, schnellen sozialen und wirtschaftlichen Wandel zu verkraften. Es gibt jedoch viele Hinweise, dass die Wachstumsprozesse dort breitenwirksamer verlaufen sind als etwa in großen Teilen Südasiens. In Südost- und Ostasien wurde relativ früh eine Agrar-, Bildungs- und Gesundheitspolitik einschließlich der Familienplanungspolitik betrieben, die die Startchancen für die arme Bevölkerungsmehrheit entscheidend verbessert hat. Die Asienkrise hat zudem die Schwächen der privaten sozialen Sicherungssysteme offen gelegt. Die betroffenen Länder, wie Thailand und Malaysia, gehen jetzt daran, dieses Systeme durch staatliche zu ergänzen.
Welche Hilfe wird unter diesen Umständen geleistet? Die ILO konzentriert ihre weltweite Hilfe und Beratung auf den Auf- und Ausbau der formellen, staatlichen Sicherungssysteme. Diese bieten vor allem sozialen Schutz für abhängig Beschäftigte in den modernen Wirtschaftssektoren – sie sind meist beitragspflichtig – sowie, meist beitragsfrei, für Beschäftigte im Öffentlichen Dienst und für Militärs. Um den Sicherungsbedürfnissen von großen Teilen der armen Bevölkerung besser zu genügen, zielt die Arbeit der ILO darauf, die Mitgliedschaft in formellen sozialen Sicherungssystemen kontinuierlich zu erweitern, ihr Management effizienter zu machen und Beschäftigte aus dem informellen Sektor einzubeziehen.
Beim Ausbau der sozialen Sicherungssys-teme in Entwicklungsländern sieht sich die ILO vor allem drei Kernproblemen gegenüber. Erstens erreichen die von westlichen Vorbildern geprägten sozialen Sicherungssysteme, die an formelle Dauerarbeitsverhältnisse gebunden sind, nur einen sehr beschränkten Deckungsgrad, und der Wachstumprozess lässt den Anteil der formalen Wirtschaftssektoren und Arbeitsmärkte weniger stark steigen als erwartet. Zweitens besitzen die bestehenden staatlichen Systeme häufig weder eine ausreichende finanzielle Grundlage noch genug Mitglieder, um angemessene Leistungen erbringen zu können; sie sind häufig Kostgänger des Staates. Drittens müssen die Systeme weiterentwickelt und reformiert werden, damit sie sich für neue Mitgliedergruppen öffnen und auf eine gesunde finanzielle Basis gestellt werden können.
Die ILO fordert eine stärkere Berücksichtigung der Sicherungsbedürfnisse von Frauen, die nur sehr geringe eigene Leistungsanrechte aufbauen, da sie meist informell beschäftigt sind oder als Hausfrauen und Mütter systemisch benachteiligt werden. Sie unterstützt in vielen Ländern des Südens und Ostens die Reformanstrengungen der nationalen Sozialversicherungsträger mit technischer Hilfe. Dabei folgt sie unter anderem den Grundsätzen, die Grenzen des fiskalisch und wirtschaftlich leistbaren Niveaus an sozialer Sicherung zu bestimmen, unveräußerbare persönliche Rechte festzulegen und ein Mindestmaß von Schutzansprüchen auf der Grundlage neuer oder angepasster internationaler Standards durchzusetzen.
Die Weltbank hat ihr Engagement im Bereich soziale Sicherung seit den achtziger Jahren kontinuierlich ausgebaut. Zunächst stand die Unterstützung von wachstumskonformen Rentenreformen und die Stärkung sozialer Sicherungsnetze für besonders schutzbedürftige und gefährdete Gruppen durch zielgenaue Interventionen (targeted interventions) im Vordergrund. Bei Rentenreformen empfiehlt die Weltbank mehrgliedrige Systeme mit einer Mischung aus staatlichen und privaten Elementen. Sie unterstützt gegenwärtig Rentenreformen in Ländern Südosteuropas, Zentralasiens und Ostasiens. Die von ihr geförderten sozialen Sicherungsnetze umfassen einen großen Strauß von Maßnahmen: soziale Investitionsfonds, die dem beschäftigungsintensiven Auf- und Ausbau von sozialer und ökonomischer Infrastruktur dienen; Unterstützungszahlungen und Sozialhilfe für gefährdete Familien und Einzelpersonen; Ernährungsprogramme – darunter Nahrungsmittelausgabe gegen Arbeitsleistungen (food for work); sowie Arbeitsbeschaffungsprogramme und Kleinstkredite zur Existenzgründung oder -sicherung.
Derzeit fördert die Weltbank weltweit etwa 100 Vorhaben, die sie dem Arbeitsfeld Soziale Sicherung zuordnet, davon 30 in Afrika, 9 in Südost- und Ostasien, 25 in osteuropäischen und zentralasiatischen Ländern sowie 17 in Lateinamerika und der Karibik. Die meisten Vorhaben können dem Typus "soziale Sicherungsnetze" im weiteren Sinne zugeordnet werden. Soziale Inves-titionsfonds spielen dabei eine besonders prominente Rolle. Soziale Sicherungsnetze aus Krediten zu finanzieren – auch solchen der Weltbanktochter International Development Agency (IDA), die armen Ländern lange Laufzeiten und niedrige Zinsen einräumt –, trägt allerdings zu steigender Außenverschuldung des Empfängerlandes bei. Denn kurz- bis mittelfristig fließen Darlehen für soziale Netze in den Konsum. Wachstumssteigernde Wirkungen sozialer Ausgaben stellen sich gewöhnlich nur längerfristig ein.
Im Jahr 2000 hat die Weltbank einen umfassenden Ansatz zur Förderung der sozialen Sicherung vorgelegt: eine Sektorstrategie, die den programmatischen Titel trägt "Soziale Sicherung – Vom Sicherheitsnetz zum Sprungbrett". Der neue Förderansatz versteht soziale Sicherung als Summe öffentlicher Interventionen, die dazu beitragen, dass Einzelne, Haushalte und Gemeinschaften ihre vielfältigen wirtschaftlichen und sozialen Risiken besser in den Griff bekommen und besonders Gefährdete und Schutzbedürftige aktiv unterstützen. Arme Frauen und Männer sowie deren Kinder sind meist Mehrfachrisiken ausgesetzt wie Krankheit, Arbeitslosigkeit, Ernteausfällen oder Tod des Ernährers. Sie sind in einer Armutsfalle gefangen, aus der sie allein nicht herauskommen, da sie nicht in der Lage sind, ausreichend Risikovorsorge zu treiben oder die Folgen von Schadensfällen aus eigener Kraft zu mildern. Informelle Sicherungssysteme auf der Grundlage von Vorsorgesparen, Diversifizierung der Produktion, Hilfsnetzen und ähnlichem reichen meist nicht aus, um größere Krisen und Schocks zu bewältigen.
Die neue Qualität des Weltbankansatzes liegt in der pro-aktiven Rolle von sozialer Sicherung: Sicherungssysteme werden nicht vornehmlich als Netze verstanden, die jene auffangen sollen, die auf Grund von Krisen in die Armut abzustürzen drohen, sondern als Netze und zugleich als Sprungbretter, die die Betroffenen sowohl auffangen als auch mit ausreichender Kraft wieder ins produktive Leben zurückfedern. Der neue Ansatz stellt ein integriertes soziales Risikomanagement vor, das auf einer sorgfältigen Analyse der Risiken und ihrer Ursachen aufbaut. Er entwickelt kombinierte Strategien der Risikovorsorge und -minderung sowie Risikofolgenbewältigung, die sowohl informelle als auch privatwirtschaftliche und öffentliche Sicherungsarrangements einschließen. Und er versucht, die Angebote verschiedener Träger wie Familien, Gemeinschaften, nichtstaatlicher Organisationen (NGOs) und Behörden auf die Bedürfnisse bestimmter Gruppen zuzuschneiden – auf Beschäftigte der formellen Sektoren sowie informelle städtische und ländliche Beschäftigte. Wann sich der neue Ansatz in den Fördermaßnahmen der Weltbank praktisch niederschlägt, muss abgewartet werden.
Es ist historisch nachvollziehbar, dass sich die Weltbank und die ILO auf sehr unterschiedliche Weise der Förderung der sozialen Sicherung genähert haben. Die Weltbank vertraut entsprechend der angelsächsischen Tradition des Liberalismus mehr auf die Marktkräfte, während die ILO stärker der westeuropäischen Tradition der sozialen Marktwirtschaft verpflichtet ist. Dem entspricht auch die Verfassung der ILO: In ihren Organen sind sowohl die Regierungen und Arbeitgeber als auch die Arbeitnehmer vertreten.
Die Weltbank hat sich dem Tätigkeitsfeld soziale Sicherung aus der Sicht einer Finanzierungsinstitution genähert, die in der wachstumsfördernden Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme, insbesondere der staatlichen Rentensysteme, einen wichtigen Beitrag zur Lösung vieler Investitions- und Finanzierungsprobleme sieht. Die Rentenreform in Chile von 1981 kam Vorstellungen der Weltbank in den achtziger Jahren wohl am nächsten. Dieses Modell fußt auf einer privaten Trägerschaft des Rentensystems und darauf, dass die Versicherten individuell für ihr Alter sparen; das wird durch ein spärliches staatliches Sicherheitsnetz ergänzt. Das Modell Chile wird unter anderem von der ILO kritisiert, weil es Risiken privatisiert, das heißt zu einer Entsolidarisierung führt; das Umverteilungsziel von Sozialversicherungssystemen wird quasi aufgegeben. Außerdem entstehen den Versicherten aus der Anlagepolitik unwägbare Risiken.
1994 hat die Weltbank ihre Vorstellungen zur Alterssicherung in einer grundlegenden Studie Averting the Old-Age Crisis dargelegt und zur Alterssicherung ein Drei-Säulen-Modell empfohlen. Die erste Säule besteht aus einer steuerfinanzierten Grundrente, um Altersarmut abzuwenden (diese Rente kann eventuell auf die Gruppe der Bedürftigen beschränkt werden). Die zweite Säule stellen entweder gesetzliche Betriebsrenten oder gesetzliches (das heißt obligatorisches) individuelles Sparen. Die dritte setzt sich aus freiwilligen privaten Zusatzversicherungen zusammen. Mit diesem Drei-Säulen-Modell versucht die Weltbank, den unterschiedlichen Zielen, die soziale Sicherungssysteme verfolgen, in wachstums- und marktkonformer Weise gerecht zu werden: Die erste Säule bewirkt eine soziale Umverteilung, doch erreicht die Rente nur Sozialhilfeniveau; die zweite Säule fördert das Sparen und die Kapitalbildung zur Entwicklungsfinanzierung und sollte von privaten Fondsmanagern verwaltet werden; und die dritte dient der Sicherung des gewohnten Lebensstandards durch Eigenvorsorge. Einige der von der Weltbank unterstützten Rentenreformen finanzieren die erste Säule – die aber nur eine Mindestsicherung anstrebt – im Umlageverfahren statt aus Steuern.
Die ILO hat sich den Problemen der sozialen Sicherungssysteme als normensetzende Institution genähert: Sie achtet darauf, dass ihre Reformvorschläge in Einklang mit internationalen Arbeits- und Sozialnormen stehen. Bei der Alterssicherung – einem Streitpunkt mit der Weltbank – favorisiert sie ein Vier-Säulen-Modell, das mit den internationalen Normen und Standards vereinbar ist. Die vier Säulen sind erstens eine steuerfinanzierte Grundsicherung für Bedürftige; zweitens eine öffentlich betriebene, einkommensabhängige und beitragsfinanzierte Sozialversicherung mit Umlageverfahren, die etwa ein Rentenniveau von der Hälfte des durchschnittlichen Lebensverdienstes bietet; drittens eine kapitalgedeckte Pflichtversicherung, die privat betrieben wird; und viertens eine ergänzende freiwillige Versicherung. Ähnliche Vorstellungen liegen auch der jüngsten deutschen Rentenreform zu Grunde.
Dem Argument, dass eine umlagefinanzierte Sozialversicherung wegen der Alterung der Gesellschaft – die ja auch in den Entwicklungsländern schon mittelfristig ein Problem sein wird – langfristig nur mit immer höheren Beitragssätzen und öffentlichen Zuschüssen finanzierbar sei und daher ein vollständig kapitalgedecktes System vorzuziehen sei, hält die ILO zwei Überlegungen entgegen. Zum einen muss der Lebensstandard der Rentner immer aus den jeweiligen Einkommen der Aktiven erwirtschaftet werden, gleichgültig ob die Renten durch Umlagefinanzierung oder durch individuelles Sparen finanziert werden. Wenn die Renten über öffentliche Finanzierungsmechanismen geleistet werden, dann müssen mit der Alterung die Rentenbeiträge steigen. Werden sie aber aus angespartem Kapital finanziert, dann müssen die angesammelten Finanzguthaben der Rentner nach und nach aufgelöst, das heißt an neue Sparer verkauft werden, damit die Rentner ausreichend Geld erhalten. In beiden Fällen sind aber die erforderlichen Finanzierungsmittel gleich hoch.
Zum anderen verletzt laut der ILO ein System, unter dem Rentenansprüche individuell abgespart werden, etablierte Normen der sozialen Sicherung, wie sie im Internationalen Übereinkommen über Soziale Sicherheit festgelegt sind. Dort wird gefordert, dass die Renten in ihrer Höhe bestimmt und garantiert sein müssen. Renten, die sich vornehmlich auf Sparen gründen, erfüllen in der Regel diese Voraussetzungen nicht.
Die unterschiedlichen Traditionen von ILO und Weltbank zeigen sich auch bei der Einschätzung, wie tragfähig selbsthilfeorientierte Ansätze der sozialen Sicherung – zum Beispiel von Selbsthilfeorganisationen betriebene Kleinstversicherungen – für den Schutz vor typischen Lebensrisiken wie Krankheit, Verlust der Erwerbsmöglichkeiten oder Verwitwung sind. Auch die Rolle der privaten Versicherungswirtschaft wird verschieden gesehen: Die Weltbank neigt eher zu Marktlösungen, während die ILO für eine stärkere Beteiligung des Staates ist.
Die konzeptionellen Unterschiede zwischen Weltbank und ILO tragen zu einer gewissen Beratungskonkurrenz bei, die den internationalen Diskurs beflügelt und reformwilligen Entwicklungsländern durchaus zugute kommen kann. Dies setzt allerdings voraus, dass die Bank als internationale Finanzierungsinstitution ihre Möglichkeit, finanzielle Unterstützung zu geben, nicht gegen die ILO ausspielt, die nur technische Hilfe und Beratung anbieten kann. Die immer stärkere Hinwendung der Weltbank zu umfassenden Ansätzen der Armutsbekämpfung führt allerdings zu vielschichtigen sozialpolitischen Förderansätzen, die die ideologischen Fronten zu Guns-ten pragmatischer Zusammenarbeit auflösen.
In der deutschen Entwicklungszusammenarbeit wächst das Tätigkeitsfeld "Förderung der sozialen Sicherung" seit 1993 langsam. Die Hauptzielgruppe sind arme Bevölkerungsgruppen. Das vorrangige Ziel ist, strukturbildend zu wirken. Bei Vorhaben auf der Makroebene kommt es der deutschen Hilfe darauf an, einen Beitrag zur Verbesserung der nationalen Rahmenbedingungen zu leisten, damit die Bevölkerung vermehrt Eigenvorsorge gegen wirtschaftliche und soziale Risiken treffen kann. Wichtige Ansatzpunkte hierfür sind zum Beispiel die gezielte Förderung des Gesundheits- und Bildungswesens, der Familienplanung sowie der Wasserversorgung. Außerdem wird die Zusammenarbeit zwischen dem Staat, Selbsthilfeorganisationen, NGOs und der privaten Versicherungswirtschaft gefördert.
Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit hat im Bereich der sozialen Sicherung mehrere Schwerpunkte. Sie unterstützt den Aufbau von Versicherungssystemen auf Gegenseitigkeit wie beim Beispiel der SEWA (siehe Kasten) oder von dezentralen Krankenversicherungssystemen zum Beispiel auf den Philippinen. Sie berät Regierungen und öffentliche Institutionen auf dem Gebiet der Renten-, Kranken- und Unfallversicherung – zum Beispiel in Venezuela. Sie bietet sozialpolitische Regierungsberatung in Ländern Afrikas, um geeignete Rahmenbedingungen für eine bessere soziale Sicherung unter Einschluss der informellen Systeme zu fördern – so in Kenia, Malawi, und Kamerun. Und sie bildet Fachkräfte von Behörden und NGOs fort.
Neben staatlichen Trägern wie der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) sind insbesondere die Kirchen, aber auch die politischen Stiftungen in der Förderung der sozialen Sicherung tätig. So fördern kirchliche Hilfswerke Spar- und Kreditvereine und Basisgesundheitsdienste mit Krankenversicherung; die politischen Stiftungen unterstützen den sozialpolitischen Dialog, die Reform der sozialen Sicherungssysteme in Ländern wie China, Kolumbien und El Salvador sowie die Rechtsberatung zur Erhöhung der sozialen Sicherung in afrikanischen Ländern.
Im Gegensatz zu den weltweit tätigen multilateralen Organisationen Weltbank und ILO konzentriert sich die deutsche Hilfe auf dem Gebiet der sozialen Sicherung auf ausgewählte Länder in Afrika, Lateinamerika und Asien. Die Erfahrungen haben gezeigt, dass jedes Land über die Struktur seiner sozialen Sicherungssysteme entsprechend der kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten selbst entscheiden muss. Standardlösung gibt es nicht. Bestehende staatliche Versicherungssysteme müssen zügig ausgebaut und effizienter gestaltet werden, doch ist es offensichtlich, dass ein Großteil der bislang Ungesicherten noch lange auf eine Stärkung vorhandener beziehungsweise auf neue dezentrale und lokale Sicherungssysteme angewiesen bleibt. Deshalb setzt die deutsche Entwicklungshilfe auf die Unterstützung von selbstorganisierten Versicherungssystemen, die langsam an die formellen Versicherungen herangeführt werden. Das ist trotz der beschränkten Leistungsfähigkeit dieser Systeme richtig. Da diese kleinen Systeme auf Dauer nicht selbstständig bestehen können, ohne vernetzt und bei formellen Versicherungen rückversichert zu sein, müssen sich auch diese für eine engere Zusammenarbeit öffnen. Dieser Verknüpfungsansatz ist ein wesentliches Kennzeichen des deutschen Beitrags zum Ausbau der sozialen Sicherungssysteme in Entwicklungsländern. Bislang ist er jedoch in nur sehr wenigen Fällen umgesetzt worden.
Aus den Erfahrungen der verschiedenen Geber lässt sich bei aller Unterschiedlichkeit der Konzepte folgendes schließen: Das Leitbild eines Systems der sozialen Sicherung, in dem sowohl staatliche als auch privatwirtschaftliche und gemeinnützige Träger einander ergänzende Rollen spielen, wird sich durchsetzen. Dabei müssen die Sicherungsbedürfnisse der armen Bevölkerungsgruppen, die ihren Lebensunterhalt als ländliche oder städtische Selbstständige oder im informellen Sektor verdienen, angemessen berücksichtigt werden und die Versicherungsleistungen bezahlbar bleiben. Dies dürfte am besten gelingen, wenn kleine, dezentrale, aber miteinander vernetzte Sicherungssysteme entwickelt und gefördert werden, die auf der kreativen Fortentwicklung traditioneller Sicherungsformen aufbauen, und zugleich die großen staatlichen Systeme für neue Mitgliedergruppen geöffnet werden.
Ein umfassendes armutsorientiertes System der sozialen Sicherung sollte die wichtigsten Risiken abdecken und die Möglichkeiten der Eigenvorsorge stärken. Das bedeutet im Einzelnen: Bei der Krankenversicherung ist den Armen besser gedient, wenn das Risiko schwerer Erkrankungen mit Krankenhausaufenthalt versichert wird, als mit der Versicherung einer Vielzahl von kleinen Erkrankungen, die sie durchaus selbst bewältigen können. Bei der Alterssicherung wird der größte Teil der Armen kaum Nutznießer formeller Systeme werden, denn die meisten Armen sind nicht in den formellen Sektoren tätig. Umso wichtiger ist es, dass eine armutsmindernde Politik die Vorsorgekapazität stärkt und dass funktionierende Kapitalmärkte das Alterssparen lohnend machen.
Was den Schutz gegen Arbeitslosigkeit angeht, empfiehlt sich die Einführung einer allgemeinen Arbeitslosenversicherung für die meisten Entwicklungsländer nicht, da deren Arbeitsmärkte durch ein sehr hohes Maß an informeller Beschäftigung gekennzeichnet sind. Um den bedürftigen Arbeitslosen zu helfen, sind eher Arbeitsbeschaffungsprogramme geeignet, die so gestaltet sind, dass sie vor allem für die Bedürftigen attraktiv sind.
Kleinstkreditsysteme können den Armen helfen, ihren Konsum während der Dauer von Krisen aufrechtzuerhalten. Von großer Bedeutung für selbstständig und unternehmerisch Tätige ist insbesondere die Sicherheit, im Ernstfall Zugriff auf Kredit zu haben.
Barleistungen schließlich sind vielfach Bestandteil der formellen Sicherungssysteme, einschließlich der Sozialhilfe. In Ländern mit einem hohen Anteil des informellen Sektors empfehlen sich unter Umständen Barleistungen auf der Grundlage einer Bedürftigkeitsprüfung. In welchem Umfang diese gewährt werden können, hängt von der finanziellen Leistungsfähigkeit des Landes ab.
Frauengewerkschaft SEWA in IndienVersicherungen für Arme sind möglichArme Frauen in Indien und deren Familien sind überwiegend im ländlichen oder städtischen informellen Sektor beschäftigt. Angesichts ihres knappen und unregelmäßigen Einkommens stellt für sie jedes wirtschaftliche, soziale oder gesundheitliche Risiko wegen der drohenden Kosten und Verdienstausfälle eine große Gefahr dar. Besonders prekäre Risiken sind der Verlust des Hauses und der Produktionsmittel, der Tod des Ehepartners sowie Krankheit beziehungsweise Unfälle. Solange arme Frauen und ihre Familienmitglieder keinen Zugang zu einer Versicherung haben, führen diese Risiken zu weiterer Verarmung. Daher entwickelt die indische Gewerkschaft für Arbeiterinnen des informellen Sektors SEWA (Self-employed Women’s Association), die etwa 215.000 Mitglieder in sechs indischen Bundestaaten hat – davon 150.000 in Gujarat –, ein integriertes Versicherungsangebot für ihre Mitglieder. Für eine Jahresprämie von 60 Rupien (rund 2,75 Mark) umfasst das Angebot eine Risikolebensversicherung, eine Krankenversicherung zur Deckung von stationären Behandlungskosten in den ersten drei Tagen, eine Schadenversicherung gegen den Verlust von Produktionsmitteln und eine Feuer-und Hausversicherung. SEWA arbeitet sowohl mit der indischen Regierung, die ein Drittel der Versicherungsprämien übernimmt, als auch mit der indischen Versicherungswirtschaft zusammen, mit der SEWA einen Gruppenversicherungsvertrag abgeschlossen hat. Die Zahl der versicherten Personen liegt bei über 32.000. Die Unterstützung von deutscher Seite besteht in fachlicher Beratung beim Aufbau der Versicherungsabteilung von SEWA und in einem Finanzbeitrag zur Anschubfinanzierung. Die guten Erfahrungen zeigen, dass eine von Armen finanzierte Versicherung bei einer ausreichenden Zahl von Versicherten, einer Eingrenzung auf die wichtigsten Risiken sowie unter Umständen mit einer Anschubfinanzierung möglich ist Hans Gsänger |
EntwicklungshilfeKnüpfen an sozialen NetzenDie Verbesserung der Gesundheitsversorgung gehört zu den klassischen Aufgaben der Entwicklungshilfe. Noch immer hat fast die Hälfte der Weltbevölkerung keinen Zugang zu medizinischen Diensten. Wo es Ärzte und Gesundheitsstationen gibt, fehlt vielen das Geld, um sich behandeln zu lassen. Eine Krankenversicherung aber hat in der Regel nur, wer einen festen Arbeitsplatz beim Staat oder in der Privatwirtschaft hat. Mit einem Kooperationsprojekt mit dem AOK-Bundesverband beschreitet die Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ) seit 1998 neue Wege, um interessierte Länder bei der Entwicklung und Erprobung krankenversicherungsähnlicher Systeme zu beraten. Die GTZ bringt ihre Erkenntnisse aus der Entwicklungszusammenarbeit in das Projekt ein, die AOK das fachliche Know-How und die Erfahrung bei der Beratung vor allem der Länder Osteuropas. Dabei geht es keineswegs darum, die in hundert Jahren gewachsenen westeuropäischen Gesundheitssysteme auf andere Staaten zu übertragen, vielmehr werden in Kooperation mit den jeweiligen Partnern Konzepte erarbeitet: "Ohne Beteiligung der Bevölkerung geht das nicht", sagt GTZ-Projektleiter Dr. Jürgen Hohmann, "Teilhabe, Eigenverantwortung und Vertrauen sind unerlässlich, um soziale Sicherungssysteme auszugestalten." Die Projektmitarbeiter haben nicht nur Studien und Strategiepapiere geschrieben, sondern in allen Teilen der Welt praktische Vorhaben beraten und unterstützt. Auf den Philippinen vernetzt das Krankenversicherungsprojekt SHINE zum Beispiel lokale und regionale Selbsthilfeinitiativen, in Indien werden die Self Employed Women’s Association (SEWA) und die Friends of Women’s World Banking (FWWB) in ihren Versicherungsaktivitäten unterstützt und rechtlich beraten. Im Rahmen des Projektes wurde mit InfoSure auch eine Evaluationsmethodik entwickelt, die in 18 Themenbereichen die wesentlichen Aspekte einer Krankenversicherung behandelt – von der Entwicklung über die Organisation bis hin zu den Aufgaben des Staates. Bisher wurde InfoSure in sieben Ländern angewandt. Die Ergebnisse werden für die wissenschaftliche Forschung und vergleichende Analyse in eine Datenbank (www.health-insurances.org) eingespeist. GTZ-Sektorprojekt "Soziale Krankenversicherung" c/o AOK-Bundesverband, Kortrijker Straße 1, 53177 Bonn |
aus: der überblick 01/2001, Seite 11
AUTOR(EN):
Hans Gsänger :
Dr. Hans Gsänger ist Mitarbeiter des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE) in Bonn mit den Arbeitsgebieten soziale und ländliche Entwicklung und den regionalen Schwerpunkten Östliches und südliches Afrika sowie Süd- und Südostasien.