Die Fata Morgana des Konsums in Brasilien
Der Basar von Rio de Janeiro liegt nur zehn Metro-Minuten von Marlenes Dienstmädchenkammer in Botafogo entfernt. In der Sahara so heißt das Altstadtviertel kauft Marlene Wäsche und Kleidung billig ein. Doch wenn die 27-jährige Hausangestellte ihren freien Tag hat, dann fährt sie zwei Stunden mit dem Bus hinaus an den Stadtrand und trifft sich mit ihren Freundinnen im Shoppingcenter.
von Carl D. Goerdeler
"Das BarraShopping ist einfach cool, verstehst du? Hey, wir haben da sogar Roberto Carlos gesehen!" "Wo? Im Kino?" "Quatsch! Roberto schlenderte einfach an uns vorüber, und wir waren so weg, dass wir nicht mal an ein Autogramm dachten!" "Und? Hat euch der Schnulzensänger bemerkt?"
Marlene sagt dazu nichts. Weil Roberto Carlos ihrer Meinung nach kein Schnulzensänger ist und weil die Tatsache, dass sie dem berühmten König der Country-Musik sozusagen auf der Straße begegnete, schon ein Ding ist. Bis auf die drei Real für den Bus, eine Kinokarte, eine Tüte Popcorn und ein Softeis hat Marlene nichts ausgegeben. Wovon auch? Ihr Monatslohn (360 Real umgerechnet 140 Euro) lässt es nicht zu, im BarraShopping groß zuzuschlagen. Aber die coolen Sneaker (Sportschuhe) bei H&M im Fenster, die hat sie ins Herz geschlossen. Am Mittwoch wird sie in der Sahara mal stöbern, ob es dort solche Schuhe zum halben Preis gibt.
In die Sahara zu fahren, käme Dona Eneida nie in den Sinn; sie weiß vermutlich nicht einmal, wie man dahin kommt. Die Anwältin parkt ihren Toyota Corolla nicht ganz vorschriftsmäßig vor dem BarraShopping; es ist ihr egal, der Boy vom Parking-Service wird es schon richten. Er soll auch gleich mal den Wagen waschen. Ein harter Nachmittag wartet auf die Anwältin: erst der Termin beim Dermatologen, dann der Coiffeur, schließlich der Fünf-Uhr-Tee mit den Damen vom Lion's Club; das Orchideen-Gesteck für die Schwiegertochter nicht vergessen! Gottlob ist im BarraShopping alles beisammen: der Parkplatz, die Klimaanlage, die Schwarzen Sheriffs. Und mit dem Wagen hat sie es nicht weit, ihr Appartement im schwer bewachten Condominium Atlantic South liegt beinahe in Rufweite jenseits der Schnellstraße am Strand. "Wir sind das weitaus größte Shopping-Mall Südamerikas", erläutert Francisco de Mello im Centro de Serviço ao Consumidor (SAC), dem PR-Büro des Unternehmens Multiplan, das den Komplex BarraShopping betreibt und in ganz Brasilien ähnliche Einkaufszentren managed. "616 Läden, 185.000 Quadratmeter, die Hälfte davon Verkaufsfläche, 6300 Parkplätze, 9000 Beschäftigte im gesamten Komplex. Im Jahr kommen wir auf über 24 Millionen Besucher und auf einen Umsatz, der bei rund einer Milliarde Real, also etwas mehr als 380 Millionen Euro, liegt." Francisco de Mello ist sichtlich stolz auf die Superlative. "Wir sind ja nicht nur ein Einkaufszentrum, wir sind ein Erlebnispark, ein Marktplatz, ein Gourmettempel und ein Bürokomplex. Sehen Sie mal: Da haben wir das New York City Center mit 18 Kinos, die Cláro-Hall mit 2000 Plätzen für Großveranstaltungen, das Bowling-Center mit 20 Bahnen, die zwei Dutzend Fitness-Akademien, das Ärztezentrum mit 30 Konsultorien und Kliniken, die über einhundert Restaurants und Cafés. Und vergessen Sie nicht: das angegliederte Unternehmer-Zentrum mit den Anwaltskanzleien, das Gericht, die Universität Estáçio da Sá, das Aparthotel insgesamt elf Gebäude mit weiteren 2000 Parkplätzen! Sie können eine ganze Woche durch das BarraShopping gehen und haben immer noch nicht alles gesehen!"
Der Mann, der hinter dieser schönen neuen Warenwelt steckt, heißt José Isaac Peres und ist ein Selfmademan von 66 Jahren. 1975 hatte er bescheiden mit seiner Immobilienfirma angefangen, 1978 in Belo Horizonte sein erstes Einkaufszentrum errichtet und seither ging es nur noch bergauf. Das BarraShopping ließ Peres 1981 im Neubaugebiet errichten, 1999 kam das New York City Center hinzu und ein Ende ist nicht abzusehen; Peres lässt erweitern, lässt bauen und pachten. Den Grundstein zu seinem neuesten Einkaufszentrum BarraShopping Sul hat er im Mai in der Südkapitale Porto Alegre legen lassen. "Wir werden damit drei- bis viertausend neue Arbeitsplätze schaffen. Und das Projekt wird nicht nur das Erscheinungsbild der Stadt, sondern auch die Gewohnheiten ihrer Bewohner verändern. So wie es auch der Fall mit dem BarraShopping in Rio de Janeiro war", verkündete Peres unter dem Beifall der Gouverneurin und des Bürgermeisters. In Rio de Janeiro hatte man Peres 2004 zum Ehrenbürger ernannt. Dass er neben seinen zahlreichen Ämtern auch dem brasilianischen Verband der Shopping Center als Präsident vorsteht, ist eigentlich selbstverständlich.
Ein Fünftel des Umsatzes (rund 44 Milliarden Real 17 Milliarden Euro) des gesamten brasilianischen Einzelhandels (Autoverkäufe nicht einbezogen) entfällt inzwischen auf die klimatisierten Einkaufszentren. Es sind mittlerweile 315 Malls mit 42.000 Läden und neun Millionen Quadratmetern ungefähr ein Zehntel der Fläche Berlins , die jährlich von 200 Millionen Menschen besucht werden. Das heißt, im Schnitt besucht jeder Brasilianer einmal pro Jahr ein Shoppingcenter. Das Tropenland gehört damit zu den Top Ten der Branche.
Jacqueline Lopes, die Marketingchefin der Multiplan-Holding, weiß ganz genau, was die Konsumenten in die Shopping Malls zieht. Im Morumbi Shopping, dem bekanntesten von São Paulo, hat sie genaue Analysen angestellt. Erstens: Die Shopping Malls werden von allen Schichten besucht aber Käufe leisten sich nur die Einkommensklassen A und B (die beiden höchsten).
Zweitens: Shopping ist Frauensache. 88 Prozent der Besucher sind Frauen, Sie kommen durchschnittlich vier mal pro Woche und verbringen jeweils 65 bis 75 Minuten in der Shopping Mall keineswegs nur mit Kaufen. Die Umfragen von Jacqueline Lopes lassen keinen Zweifel, worin die Attraktivität der Hypermärkte liegt: Keine Parkprobleme (die Kunden kommen mit dem Auto), große Sicherheit vor Diebstahl und Überfällen, klimatisiertes Ambiente, weites Servicespektrum, hoher Freizeitwert. Der Preis spielt kaum eine Rolle: Die Käufer müssen nicht auf den Centavo sehen.
Bei Gustavo ist das nicht so; er leistet sich nicht einmal einen Hamburger. Gustavo ist im Sicherheitsdienst des BarraShopping beschäftigt. Wenn die Läden gegen 22 Uhr schließen, beginnt seine Arbeitsnacht. Er patrouilliert zusammen mit einem Kameraden und einem Schäferhund durch die dämmrigen, menschenleeren Passagen. Penner oder Obdachlose verirren sich so gut wie nie in das Shoppingcenter dafür sorgt schon der Wachdienst am Tag. Was Gustavo Sorgen bereitet, ist die Unaufmerksamkeit des Verkaufspersonals: Tropfende Wasserhähne, nicht abgeschaltete Kaffeekocher, qualmende Mülleimer, solche Sachen. Im September 2005 ist ein Feuerlöscher explodiert, im Snack von Ocean De Light, ausgerechnet zur Mittagszeit. Ein Tumult brach aus aber nur kurz. Seine Kameraden von der Tagschicht brachten das Malheur schnell unter Kontrolle.
Und wie fühlt man sich so als Wachmann im Warentempel? "Ich mache mir mehr Sorgen um meine Familie da draußen in Rio das Pedras. Ich bin jedesmal erleichtert, wenn ich morgens sehe, dass die Kinder in die Schule gehen, dass sie gesund sind und dass sie etwas im Magen haben." Rio das Pedras gilt als die schlimmste Favela von Rio de Janeiro, schlimmer noch als die benachbarte Slum-Siedlung Cidade de Deus, die durch den Film City of God weltbekannt geworden ist. Einige tausend Baracken versinken in der Niederung, offene Kloaken durchziehen das stinkende Schlachtfeld der Verschläge über dem ein Haarnetz von Kabeln und Leitungen hängt. Am südlichen Horizont erheben sich die Apartmenttürme und Wohnblocks der Neubausiedlung Barra de Tujica. Wer zu den Glücklichen in Rio das Pedras gehört, der arbeitet als Köchin, Kindermädchen oder Putzfrau weit drüben in der Welt der Reichen, in dieser von Elektrozäunen abgegrenzten Fata Morgana neben dem BarraShopping. Die, die dort residieren, schauen aufs weite Meer und nicht auf Slums. Wo aber die dienstbaren Geister, die Wachmänner und Wachfrauen herkommen, darüber machen sich die Herrschaften keine Gedanken.
So übersichtlich wie das BarraShopping ist die Sahara nicht. Dort gibt es kaum Parkplätze, klimatisierte Malls schon gar nicht. Das verfallene Viertel im Zentrum von Rio de Janeiro ist ein Gewirr von engen Gassen. Bereits im 17. Jahrhundert hatten sich hier die Händler der Hafenstadt angesiedelt, hatten Magazine und Kontore, Werkstätten und Kneipen eingerichtet. Jüdische und libanesische Kaufleute zog es in die Gegend. Die Rua de Andradas, die Rua Buenos Aires und die Rua da Alfândega, das waren im 19. Jahrhundert erste Adressen bis ehrgeizige Bürgermeister breite Schneisen durch die City schlugen, so wie es Baron Haussmann zur Zeit von Napoleon III in Paris machte. Beinahe wäre die Sahara auch unter die Bulldozer gekommen, doch dann ging der Stadt das Geld aus, und die Kontore und Magazine blieben im Schatten der Bürohochhäuser einfach stehen. 1962 schlossen sich die Eigentümer der über 600 Läden zusammen, um ihre Sahara gegen alle weiteren Abrisspläne zu verteidigen. Einer dieser Veteranen ist Nacib Nahoum, der die Spezerei und den Gewürzhandel, für die die Casa Pedro berühmt ist, in vierter Generation führt. Nicht im Traum würde Nacib daran denken, seinen Laden etwa in einem Shoppingcenter aufzuschlagen. "Wir zahlen hier so gut wie keine Grundsteuer; das Haus gehört uns, und die Familie führt das Geschäft so wie bei den meisten meiner Kollegen", sinniert Nacib und schlenkert mit dem Tesbih (Gebetskette) in der Hand. "Allerdings machen sich die chinesischen Billigläden immer mehr breit, die ihren Ramsch hier direkt vom Schiff verhökern", beklagt er sich.
Die Kunden aber sind die gleichen wie eh und je: Schnäppchenjäger und alle, die es nicht so dicke haben. Das Volk versorgt sich in der Sahara. Kein Mensch käme auf die Idee, in der Sahara den Tag zu vertrödeln am Wochenende sind die Gassen gähnend leer, die Magazine verrammelt. Man besucht die Sahara nicht um zu shoppen, sondern um zu feilschen. Der Preis ist die Prämie. In der Sahara bekommt man alles billiger: Designer-T-Shirts, geklonte Parfums aus Paris, Raubkopien der allerneuesten Software, Schulhefte, Schuhe und jede Saisonware.
War die Saisonware gestern noch der Christbaumschmuck, geht es gleich anschließend um Karneval. Kostüme von der Stange: Seeräuber, Batmen, Zigeunerinnen, Vampire, Scheichs und Haremsdamen, Sensenmänner und Hexen. Dazu Gorilla-Masken, Totenschädel, Katzenköpfe, künstliche Busen, Plastikpos. Eigentlich geht es das ganze Jahr um Karneval, denn die Sambaschulen in den Armenvierteln beginnen kurz nach Aschermittwoch mit den Proben fürs nächste Jahr.
Marlene, die Hausangestellte, wollte nach ihren Sneakers schauen. Aber dann lässt sie sich hinreißen vom Flitter und Flatter und den Fantasias für die tollen Tage. Babadno da folia heißt der Laden bei Nummer 287 auf der Rua Buenos Aires. Auf Kölsch hieße das "Der Karnevalsjeck". Der erste Narrenausstatter vom Platz selbstverständlich rund ums Jahr geöffnet. Marlene betritt die Welt des falschen Glamour. An den Stoffbahnen und Bijouterien vorbei durch die Federboa-Abteilung, die Perücken missachtend, nun zu den Pfauenfedern, Lamettaslips, zu Plüsch und Pleurosen, den Ketten, den Gemmen und Spangen, den Schminken und Salben, den winzigen Accessoires, den Kaurimuscheln fürs Glück, den Spiegeln und Sprays, und schließlich den Hasenpfoten.
Draußen auf der Gasse werden Super-sexi-Damenslips verhökert. Der Marktschreier nimmt die dünnen Dinger in die Hand und dehnt sie wie eine Zwille, als ob er damit Spatzen jagen will, während drinnen im "Karnevalsjeck" Marlene immer noch nach was eigentlich? sucht.
aus: der überblick 03/2007, Seite 86
AUTOR(EN):
Carl D. Goerdeler
Carl D. Goerdeler bereist seit zwanzig Jahren Lateinamerika und lebt
als freier Autor in Rio de Janeiro. Er war zehn Jahre
lang Korrespondent für "Die Zeit".