Die vielen Gesichter des Islam in Zentralasien und im Kaukasus
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat im kaspischen Raum wie schon einmal im frühen 19. Jahrhundert ein Great Game begonnen, ein großes Roulette um die Reichtümer, aber auch um die Seelen. Es geht um Muslime, deren Religiosität wieder erwacht. Transnationale radikale islamistische Bewegungen finden jedoch weniger Anhänger als manche postsowjetische Regierungen behaupten. Der Kampf gegen den Terror ist für diese auch ein Instrument zur Abwehr von Kritik.
von Uwe Halbach
Kaukasien und Zentralasien wurden nach dem Zerfall der Sowjetunion von Europa und den USA geopolitisch geradezu neu entdeckt. Dieser Kaspische Raum war bis dahin allenfalls als südliche Peripherie und weicher Unterleib der Sowjetunion zur Kenntnis genommen worden. In den 1990er Jahren rückte er abrupt in den Fokus des geopolitischen Weltbildes des Westens. Anstoß dazu gaben zunächst ethnische, politische und territoriale Konflikte. Die Zeit zwischen 1991 und 1994 bildete die kriegerische Phase der Regionalkonflikte im Südkaukasus. Zuvor schon in den Jahren 1989 und 1990 hatten Vorfälle interethnischer Gewalt in Usbekistan und Kirgisistan, dann 1992 der Bürgerkrieg in Tadschikistan auf solche Spannungen aufmerksam gemacht.
Dieses eher ungünstige Bild wurde in den folgenden Jahren von der Sicht des Kaspischen Raums als neuer Energielieferant überlagert. Nun war die Rede vom geopolitischen New Great Game: Russland, westliche Regierungen und private Unternehmen konkurrierten um wirtschaftlichen und politischen Einfluss in der Region sowie um die Routenfestlegung für neue Pipelines.
Ganz nebenbei entdeckte man dabei eine Sensation: Nach siebzig Jahren religionsfeindlicher Politik unter sowjetischer Herrschaft begann dort ein Prozess religiöser Wiedergeburt. Jetzt erst wurde sich der Westen bewusst, dass in allen zentralasiatischen Ländern sowie im südkaukasischen Aserbaidschan und in den nordkaukasischen Teilrepubliken der Russischen Föderation der Islam die Hauptkonfession ist. Die vergessenen Muslime der Sowjetunion betraten die Bühne der Weltpolitik just zu einem Zeitpunkt, als in den westlichen Politik- und Kulturwissenschaften von der Rückkehr der Religionen die Rede war, als Huntingtons These vom Zusammenprall der Zivilisationen diskutiert wurde und sich Islamismus als politischer Terminus durchsetzte. Die erste deutsche Fernseh- und Buchproduktion über den postsowjetischen islamischen Raum trug den Titel Den Gottlosen die Hölle. Ähnlich reißerisch waren Buchtitel wie Von Marx zu Mohammed.
Die Wahrnehmung islamischer Wiedergeburt bestimmte auch die Erwartungen an geopolitische Entwicklungen in diesem Raum. So sah man zu Beginn der 1990er Jahre die Türkei und den Iran, zwei historische Regionalmächte im Kaspischen Raum, im Kampf um die Seelen der ex-sowjetischen Muslime, die mit Ausnahme der iranischstämmigen Tadschiken in ethnisch-linguistischer Hinsicht überwiegend Turkvölker sind. Man ordnete diesen Wettstreit in das Schema Laizismus versus Islamismus ein. Aber weder die Türkei noch der Iran wurde zum maßgeblichen ideologischen Vorreiter in diesem Raum oder zum Hauptspieler in einem neuen Great Game.
Das Schlagwort Wiedergeburt hatte beim Zerfall der Sowjetunion in verschiedenen Nationalsprachen des Vielvölkerreichs auch einen nationalistischen Klang. Es appellierte an ein nationales Kulturerbe. In Zentralasien war die Rückbesinnung auf ein solches Erbe bereits in der sowjetischen Periode nach Stalins Tod in Gang gekommen. Seit den sechziger Jahren tauchte dort miros (Erbe) als Schlüsselbegriff in Literatur und Publizistik auf und gab der kulturellen Strömung Mirasismus ihren Namen.
Die religiöse Wiedergeburt war zumeist direkt mit einer islamischen Erweckung assoziiert. Der erste Versuch einer Vereinigung sowjetischer Muslime wurde 1990 in Astrachan im Süden Russlands mit der Gründung einer Islamischen Partei der Wiedergeburt unternommen. Mit dem Zerfall der Sowjetunion gliederte sich diese Partei in Republikfilialen auf, von denen nur die tadschikische eine politische Rolle spielen sollte. Der religiösen Wiedergeburt wohnte ebenso wie der ethno-nationalen die Gefahr einer politischen Radikalisierung in der Region inne. Zum einen, weil sich unter verschiedenen Varianten islamischer Wiedergeburt auch politische, im Extremfall militante islamistische Bewegungen herausbildeten. Zum anderen, weil sich die aus sowjetischer Zeit stammenden säkularen Machteliten mit der Unterscheidung zwischen observanten Muslimen und gewaltorientierten Glaubenskämpfern schwer taten und so ein Feinbild des religiösen Extremismus über ein heterogenes Spektrum regimekritischer Kräfte stülpten. Dabei gerieten besonders in Usbekistan tausende religiös, aber nicht politisch aktive Personen zwischen die Mühlen eines autoritären und zunehmend repressiven postsowjetischen Regimes und militant-islamistischen Oppositionskräften.
Von regions- oder landesweiten islamistischen Massenbewegungen kann in Zentralasien allerdings kaum die Rede sein. Dort hatte sich der Islam schon in vorsowjetischer Zeit je nach Gebiet stark differenziert und in recht unterschiedlicher Weise bei Nomaden und Sesshaften gezeigt. Dennoch wuchs in den letzten Jahren ein Konfliktpotenzial zwischen staatlichen Organen und der offiziellen Geistlichkeit auf der einen sowie auf der anderen Seite zwischen Staat und religiös argumentierenden Dissidenten, die Anstoß nahmen an prekären politischen und sozialökonomischen Verhältnissen.
Wiedergeburt in ihren national-kulturellen und religiösen Aspekten hat in den zentralasiatischen Gesellschaften zudem Tendenzen einer Rückkehr zu traditionellen Rollen verstärkt. Dazu gehören zum Beispiel traditionelle Leitbilder für Frauen, die vom sowjetischen Modernisierungsideal der beruflich und gesellschaftlich aktiven Frau wegführen.
Zu einem Zusammenstoß zwischen dem postsowjetischen Staat und islamistischen Kräften kam es im usbekischen Teil des Ferghana-Tals bereits 1991. Im tadschikischen Bürgerkrieg von 1992 bis 1997 trat der politische Islam in Gestalt einer Partei Islamischer Wiedergeburt als militärisch kämpfende Partei auf. Allerdings waren hier die Konflikte keineswegs auf den ideologischen Antagonismus Postkommunisten versus Islamisten zu reduzieren, sondern es handelte sich eher um einen Kampf zwischen den Führungsschichten unterschiedlicher Landesteile um die politische Macht.
Seit Mitte der neunziger Jahre entfaltete die global agierende islamistische Bewegung Hizb-ut-Tahrir in Zentralasien eine intensive Propagandatätigkeit gegen die gottlosen postsowjetischen Regierungen und für ein transnationales Kalifat. Sie tritt zwar nicht mit Waffengewalt, aber so konspirativ regimefeindlich auf, dass sie nicht nur in Usbekistan ein politisches Feindbild für die Regierungen abgibt. Dagegen führte die Islamische Bewegung Usbekistans 1999 grenzüberschreitende Militäraktionen durch und löste damit in allen Hauptstädten der Region Alarm aus, stand sie doch mit den in Afghanistan stationierten islamistischen Netzwerken in Verbindung.
Schon vor dem 11. September 2001 und der Einbindung von Regierungen der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS) in eine internationale Anti-Terror-Allianz beschworen sicherheitspolitische Eliten von Moskau bis Taschkent die Triade Islamismus, Terrorismus, Separatismus als eine Hauptbedrohung für den postsowjetischen Raum. Auch in Ländern wie Kasachstan und Kirgisistan begann die politische Führung davor zu warnen, obwohl diese Länder bis dahin die Gefahr einer Radikalisierung religiöser Wiedergeburt in ihren eigenen Gesellschaften als sehr gering bezeichnet und auf den liberalen Charakter islamischer Tradition und Lebensweise bei ehemals nomadischen Völkern hingewiesen hatten. In Usbekistan beherrschte dagegen die Warnung vor religiösem Extremismus als politischer Sprengkraft von Anfang an die Aussagen des Präsidenten Karimow.
In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre rückte das Thema Islam auch in Russland zunehmend in einen einseitigen Kontext mit militantem Islamismus. Der Sezessionskonflikt mit Tschetschenien wurde mehr und mehr islamisiert und zwar auf beiden Konfliktseiten. Russlands Muslime sind ein ethnisch und kulturell heterogener, in seiner überwiegenden Mehrheit keineswegs radikaler oder politisch besonders aktiver Bevölkerungsteil von bis zu 20 Millionen Menschen. Aber nun richtete Russland seinen Blick auf die eigenen Muslime vor allem durch das Prisma einer sich ausweitenden Gewalt im Nordkaukasus, wo an die vier Millionen Muslime leben. Islamophobie und antikaukasische Ressentiments flossen im russischen Massenbewusstsein zusammen. Genährt wurde dieser Prozess dadurch, dass in Dagestan und anderen Teilen des Nordkaukasus tatsächlich radikal-islamistische Kräfte den Prozess islamischer Wiedergeburt beeinflussten und der Krieg in Tschetschenien dabei als Katalysator wirkte.
Regierungskreise in der GUS malten nun eine Großoffensive religiöser Extremisten im postsowjetischen Raum an die Wand. So antwortete der russische Präsidentenberater Gleb Pawlowskij im Oktober 2001 auf die Frage, wie Moskau die Einrichtung westlicher Militärbasen in Zentralasien bewerte: Besser Amerikaner in Usbekistan als Taliban in Tatarstan. Mit der Häufung von Terroraktionen im Umfeld des ungelösten Tschetschenienkonflikts und Bombenanschläge in Usbekistan im Jahr 2004 verstärkte sich die Wahrnehmung, dass die Aktionen eine Bedrohung durch einen religiös verbrämten Terrorismus seien.
Außenstehende Beobachter konnten schwer beurteilen, ob solche Sicht der Realität entsprach oder überzogen war, aber ernsthaft empfunden wurde oder ob es politisch instrumentalisierte Bedrohungsbilder waren. Dass gewaltorientierte, international vernetzte Dschihad-Bewegungen auch den postsowjetischen Raum erfasst haben, steht außer Frage. Es wurde aber ebenso der Verdacht geäußert, dass Regierungen und Machteliten innen- und außenpolitisches Kapital aus diesem Bedrohungsbild zu schlagen versuchen. Häufig würden Krisen- und Konfliktpotenziale, die mit Missständen postsowjetischer Entwicklung auf ganz anderen Feldern zu tun haben, mit den Schlagworten Islamismus und Terrorismus belegt. Nicht Islamismus, sondern Arbeitslosigkeit, Niedergang des Lebensstandards, Korruption, Willkür und Gewalt staatlicher Organe, so ergaben Meinungsumfragen unter der Bevölkerung in Zentralasien, werden als Hauptfaktoren für die Krise in der Region gesehen.
Das deutet kaum auf ein Votum für die islamische Ordnung in breiteren Teilen der Bevölkerung auf dem säkularisierten Boden der postsowjetischen Staaten. Zwar zeigen die Umfragen, dass die Bedeutung von Religion im gesellschaftlichen und politischen Leben gewachsen ist. Auch die Forderung nach einer stärkeren Mitsprache des Islam im öffentlichen Raum und in der Politik findet mehr Anhänger.
Gleichzeitig sprach sich aber nur eine Minderheit für eine politische Ordnung auf religiöser Grundlage, also für den islamischen Staat und gegen die bestehenden säkularen Verfassungsgrundlagen aus. Das ergibt jedenfalls eine Untersuchung über die gesellschaftliche Akzeptanz und die politische Rolle des Islam, die im Juli 2000 im Auftrag des US-Außenministeriums in Aserbaidschan, Kasachstan, Usbekistan und Tadschikistan durchgeführt wurde. Unter denjenigen Befragten, die sich als gläubige Muslime bezeichneten, wünschten sich in Aserbaidschan 21 Prozent eine größere Rolle des Islam in der Politik, in Kasachstan und Usbekistan 45 Prozent sowie in Tadschikistan 27 Prozent. Bei der Frage nach der bevorzugten Verfassungsgrundlage des jeweiligen Landes säkular oder religiös votierten in Aserbaidschan 90 Prozent für die säkulare und 6 Prozent für die religiöse Grundlage, in Tadschikistan 76 Prozent gegenüber 7 Prozent. Freilich sind gegenüber der Aussagekraft solcher Meinungsumfragen Vorbehalte anzumelden: So lassen die politischen Verhältnisse im heutigen Usbekistan freie Meinungsäußerung zum Thema Islam und Staat kaum noch zu.
Bei Aussagen zur Verbreitung von Islamismus in Muslimregionen der zerfallenen Sowjetunion werden gravierende sozialkulturelle und religiöse Unterschiede zwischen postsowjetischen und benachbarten Gesellschaften wie der Irans, Afghanistans oder Pakistans oft ignoriert. So sehr zum Beispiel in Zentralasien Tradition und Religion auch zurückkehren mögen, bleiben diese Staaten gleichwohl immer noch stark von sowjetischen Denk-, Verhaltens- und Herrschaftsmustern geprägt.
Von einer generellen anti-modernistischen Revolte kann nicht die Rede sein. In einer Umfrage, die das japanische Forschungsinstitut Nippon Research Center am Orient-Institut der Universität Tokio 2003 in verschiedenen Regionen Usbekistans durchgeführt hat, nennen zwar 26,5 Prozent der Befragten Religion unter den fünf wichtigsten Grundlagen für soziales Verhalten und Identität nach Familie (98 Prozent), Verwandtschaft (74 Prozent), Herkunfts- und Geburtsort (47 Prozent) und Nachbarschaft (38 Prozent). Aber nur 2,5 Prozent der Befragten betrachtete Religion als die wichtigste Grundlage. Amerikanische Protestanten würden bei einer ähnlichen Umfrage der Religion einen höheren Stellenwert einräumen.
In Tadschikistan hat sich gezeigt, dass eine islamische Partei (als ehemaliger Bürgerkriegskombattant) in das politische System integriert werden konnte, ohne dass sie dieses System zu sprengen versuchte. Gerade dort ging der Zuspruch der Bevölkerung für den politischen Islam nach der Beendigung des Bürgerkriegs zurück. Im Kaukasus wird vor allem Dagestan als die Islamisierungsenklave hervorgehoben. In der Tat stellten sich dort gegen Ende der neunziger Jahre ganze Gemeinden auf die Basis der Scharia und ein vom Sufismus geprägter islamischer Traditionalismus geriet in Konflikt mit fundamentalistischen Herausforderern - so genannten Wahhabiten. In der mit 2,6 Millionen Einwohnern kleinen Vielvölkerrepublik am Kaspischen Meer entstanden so viele islamische Hochschulen wie - auf vergleichbarem Raum - in keinem anderen Teil der GUS.
Gleichwohl zeigen neuerliche Meinungsumfragen, dass die meisten jungen Einwohner Dagestans einem säkularen Bildungssystem den Vorzug geben. Vor zwei Jahren ermittelte eine Studie an der Staatsuniversität Dagestans, dass weniger als vier Prozent der Hochschulabsolventen für eine ausschließlich religiöse Bildung votierten. Zehn Prozent bevorzugten eine Mischung aus weltlicher und religiöser, die große Mehrheit eine primär weltliche Bildung.
Insgesamt bleibt das Thema des radikalen Islamismus im postsowjetischen Raum für auswärtige Beobachter eher undurchsichtig. Die Unsicherheit beginnt bei der Terminologie. So wurde in den letzten Jahren der Terminus Wahhabismus und Wahhabiten in Russland und anderen GUS-Staaten so inflationär benutzt, dass eine Regionalzeitung in Stawropol dazu schrieb: Bei uns ist mittlerweile jeder Verkehrspolizist und Milizionär ein Religionsexperte für Wahhabismus. Menschenrechtsbeobachter in Usbekistan sagen aus, dass bereits das Tragen eines Bartes und eine auffällig konsequente islamische Lebensführung einen jungen Mann in den Augen der Behörden zum Wahhabiten oder Sympathisanten von Hizb-ut-Tahrir und damit zum Objekt staatlicher Verfolgung und Repression mache. Es bestehe unter ex-sowjetischen Machteliten eine Tendenz, konsequent gelebten Islam mit religiösem Extremismus gleichzusetzen.
Tatsächlich gerieten im Prozess religiöser Wiedergeburt in einigen Regionen der GUS vor allem im östlichen Teil des Nordkaukasus und im Ferghana-Tal in Mittelasien Islame unterschiedlicher Provenienz und Orientierung miteinander in Konflikt. Häufig entstehen Streitfragen zwischen einem volkstümlichen, meist von Organisationsformen und Riten des Sufitums sowie von lokalen Besonderheiten geprägten Brauchtumsislam und den so genannten Wahhabiten oder Salafiten, die alles als heidnisch denunzieren, was nicht strikter koranischer Überlieferung und dem reinen Islam entspricht. Solche Auseinandersetzungen spalteten zum Beispiel in Dagestan Dörfer und Familien und manifestierte sich vor allem als ein Generationenkonflikt.
Daneben gibt es einen Antagonismus zwischen nationalen und transnationalen Orientierungen. So kollidieren etwa Bemühung der usbekischen Regierung, das islamische Erbe in den Dienst des unabhängig gewordenen Nationalstaats zu stellen, mit islamistischen Bewegungen wie Hizb-ut-Tahrir, die ihrerseits für ein transnationales Kalifat kämpfen und jegliche nationalstaatliche Ordnung ablehnen. Ferner prallen oftmals einheimische Formen islamischer Praxis mit importierten Varianten der Re-Islamisierung zusammen: Arabischsprachige Bezeichnungen wie Hizb-ut-Tahrir und Wahhabismus verweisen auf ideologische Einflüsse, die von außen in den postsowjetischen Raum hineingetragen wurden.
Eng damit zusammen hängt ein Problem religiöser Bildung: Die Sowjetbehörden haben zwar nicht den Islam beseitigt, aber seine offiziellen Institutionen und vor allem sein öffentliches Bildungswesen weitgehend zerschlagen. Nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs gingen viele junge Muslime aus dem sowjetischen Raum zum Religionsstudium ins Ausland, teilweise zogen in ehemals sowjetisch beherrschten Regionen neu eingerichtete religiöse Bildungsanstalten ausländisches Lehrpersonal an. Dieser Austausch öffnete postsowjetische Gesellschaften auch für fundamentalistische Strömungen, denen die einheimische, noch aus sowjetischer Zeit stammende offizielle Geistlichkeit wenig Autorität und Argumentation entgegen zu setzen hatte.
Am heftigsten reagiert der Staat in Usbekistan auf das Feindbild des religiösen Extremismus. Dabei wurde Usbekistan zum Sorgenkind internationaler Menschenrechtsorganisationen, die Tausende von Gewissensgefangenen in Straflagern und Gefängnissen des Landes ausmachen. Die usbekische Regierung wehrt sich gegen den pauschalen Vorwurf religiöser Unterdrückung mit dem Hinweis auf eine staatlich geförderte institutionelle Wiedergeburt der Religionsgemeinschaften. Der Staat habe in den letzten zehn Jahren 45.000 Bürgern Pilgerreisen nach Mekka und zu anderen heiligen Stätten des Islam, des Christentums und des Judentums ermöglicht. Er habe ein System religiöser Bildung unterstützt, das im Falle des Islam die Taschkenter Islamische Universität und ein Islamisches Institut umfasst.
Usbekistan steht hier für Ambivalenz bei der Nutzung des Islam für politische Zwecke: Einerseits kultiviert der postsowjetische Staat mit beträchtlichem Aufwand Symbole islamischer Geschichte auf seinem Territorium, pflegt etwa die Erinnerung an Theologen und Traditionsgelehrte wie Ibn Sina (Avicenna) oder Al-Buchari, dem bei Samarkand ein regelrechtes Staatsheiligtum errichtet wurde. Die Regierung nutzt dieses Erbe als Instrument für die Kultivierung eines postsowjetischen, nachkolonialen Nationalbewusstseins. Andererseits misstraut sie allen religiösen Aktivitäten, die sich außerhalb staatlicher Kontrolle bewegen. Angesichts wachsender Herausforderungen durch ideologische Gegner wie Hizb ut Tahrir beansprucht der Staat die Kontrolle über die Religiosität der Bevölkerung und verfällt dabei wieder einem Kontrollwahn, der ihn weit hinter die Liberalisierung der Religionspolitik gegen Ende der sowjetischen Periode zurückführt.
aus: der überblick 01/2006, Seite 62
AUTOR(EN):
Uwe Halbach
Dr. Uwe Halbach ist Mitarbeiter bei der Stiftung für Wissenschaft und Politik. Seine Schwerpunkte sind Kaukasien und Zentralasien, Russland (südliche Regionen und nichtrussische Föderationssubjekte) sowie die Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS).