Das Datum hätte kaum symbolträchtiger, die Teilnehmer hätten nicht prominenter sein können: Im September 2000 haben die in New York versammelten Staats- und Regierungschefs der Welt die Millenniumserklärung verabschiedet, in der sie bekräftigen, den Anteil der in extremer Armut lebenden Menschen bis zum Jahr 2015 halbieren zu wollen. Acht Teilziele haben sie dafür formuliert.
Wer wollte da Wasser in den Wein gießen und zum Beispiel daran erinnern, dass es auch in den Jahrzehnten zuvor schon ehrgeizige Entwicklungsziele gegeben hatte, die dann alle kleinlaut zurückgenommen oder einfach stillschweigend vergessen wurden? Oder gar fragen, ob sich nicht die schönen Worte auch abnutzen, ob Alarm und Aktionismus am Ende nicht eher abstumpfen? Hat es nicht in den letzten 25 Jahren auch noch jede Menge Sachverständigenkommissionen gegeben, die immer wieder aufzurütteln versuchten? Und war die Aufmerksamkeit nicht jedes Mal geringer geworden - so gering, dass der jüngste Bericht dieser Art zu Fragen der humanitären Intervention (The Responsibility to Protect) in der (deutschen) Öffentlichkeit kaum noch wahrgenommen wurde?
Inzwischen sind zwei Jahre vergangen, und die Fachleute in den großen Entwicklungsorganisationen haben erste Bilanzen gezogen, ob diese Ziele bei Fortschreibung der gegenwärtig absehbaren Trends überhaupt erreicht werden können. Im jüngsten Bericht des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) heißt es dazu: "Für große Teile der Welt, im Allgemeinen die ärmsten Länder, scheint es unwahrscheinlich, dass sie die Ziele erreichen." Und auch Kofi Annan, der UN-Generalsekretär, hat schon gewarnt, dass die Weltgemeinschaft "nicht auf Kurs" ist:"Wenn wir in den nächsten zwölf Jahren nicht mehr bewerkstelligen als in den vergangenen zehn, werden wir die meisten dieser Ziele verfehlen."
Dass diese ernüchternden Feststellungen neuen Elan zur Folge haben, ist nicht zu erkennen. Das ist auch in unserem Land nicht anders. Zwar wurde - darauf ist die Entwicklungsministerin mit Recht stolz - das nationale Aktionsprogramm 2015 im April 2001 vom gesamtem Kabinett beschlossen. Doch dann ist das Thema ganz schnell wieder in die Reihen der Entwicklungspolitik zurückgekehrt, wo das Ministerium und die einschlägigen NGOs um Prioritäten und Formulierungen streiten. Bei insgesamt 75 ausgewiesenen "Aktionen" gibt es dafür jede Menge Anknüpfungspunkte.
Hätte man einsichtige und anschauliche Prioritäten gesetzt, hätten sich vielleicht auch andere gesellschaftliche Gruppen interessieren lassen. Das zweite Ziel - die Grundschulbildung - hätte sich dafür besonders gut geeignet: Sicherstellen, dass alle Kinder dieser Welt, Jungen wie Mädchen, eine Primarschulbildung vollständig abschließen können. Es handelt sich dabei nicht nur um ein elementares Menschenrecht, sondern um eine Befähigung, das Leben selbst besser in die Hand nehmen zu können. Und um eine gute Investition: Inzwischen hat sich in der Entwicklungswelt herumgesprochen, dass Ausgaben für die Bildung von Mädchen zu den besten Maßnahmen überhaupt gehören. Wenn alle Kinder in die Schule gingen, wäre auch ein großes Stück Geschlechtergerechtigkeit gewonnen. Das käme einer - hier ist das große Wort angebracht - Revolution gleich.
Was "Bildung für alle" (Education for All, kurz: EFA) betrifft, hat sich in den letzten Jahren eine Menge bewegt. Das fängt mit der Zielvorgabe an. Im thailändischen Jomtien war 1990 noch die Einschulung aller Kinder als Aufgabe festgelegt worden. Zehn Jahre später, auf dem Weltbildungsforum im April 2000 im senegalesischen Dakar, legte man die Latte wesentlich höher: fünf Jahre Schulunterricht in guter Qualität bis zum Jahr 2015. Ein ehrgeiziges Ziel, denn 125 Millionen Jungen und Mädchen gehen derzeit nicht zur Schule, etwa ebenso viele Kinder brechen vorzeitig ab. Der höheren Anforderung, das ist die Kehrseite dieser sehr viel sachgerechteren Zielvorgabe, werden aber noch weniger Länder entsprechen können, wenn nicht noch sehr große Anstrengungen unternommen werden. Geschieht das nicht, werden nach Schätzungen der Weltbank 88 Länder das gesteckte Ziel nicht erreichen.
Immerhin - auch das ist ein großer Fortschritt gegenüber dem nun schon Jahrzehnte mitgeschleppten, aber mit keinerlei Qualifizierung verbundenem 0,7-Prozent-Ziel - haben sich die Gebernationen in Dakar verpflichtet, dass "kein Land, das sich ernsthaft anstrengt", Primarschulbildung im definierten Sinne zu gewährleisten, an Geldmangel scheitern soll. Und: Den starken Worten sind schon Taten gefolgt: Die G8-Staaten haben im Juli 2001 in Genua eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die beim nächsten Gipfel im kanadischen Kananaskis Ende Juni 2002 ihre Empfehlungen vorgelegt hat. Auch sie machte noch einmal deutlich, dass "Grundbildung für alle" eine kollektive Verpflichtung der internationalen Gemeinschaft ist. Die Erklärung nimmt auf, was die Weltbank, immerhin der größte Bildungsfinanzier, zuvor im April beschlossen hatte: ein "Schnellspur"-Bewilligungsverfahren für Länder, die ein überzeugendes Konzept vorlegen und dieses auch umzusetzen in der Lage sind. "Bildung für alle" ist damit auf entscheidenden Ebenen als eine kollektive Verpflichtung der internationalen Gemeinschaft begriffen worden.
Doch, daran hat die Weltbank keinen Zweifel gelassen, es wird auch zusätzliches Geld benötigt: 10 bis 15 Milliarden US-Dollar pro Jahr. Den größten Teil, so die Planer in Washington, sollen die Länder selbst aufbringen, aber auch die Geber sollen fünf Milliarden beisteuern. Deutschland gehört zu den ersten Ländern, die Unterstützung versprochen haben: Die Ministerin hat zugesagt, zwei der "Schnellspur"-Kandidaten zu unterstützen, und sie möchte die bilaterale Grundbildungshilfe innerhalb der nächsten fünf Jahre auf 120 Millionen Euro verdoppeln. Das hört sich gut an, zeigt aber auch, wie erschreckend gering die bilaterale Bildungshilfe in diesem Bereich bisher ist. Und: Der Anteil war zuvor über Jahre kräftig gesunken und 1995 schon mal höher als das jetzt angestrebte Ziel.
Fünf Jahre Schulbesuch und guter Unterricht für alle, Mädchen und Jungen - das ist ein schönes Ziel, für das zu streiten, zu spenden und Steuern zu zahlen sich lohnt. Umso mehr man freilich ins Detail geht, um so schwindelerregender erscheint die Aufgabe. Eine einfache Schule ist schnell gebaut, aber was ist mit guten Schulbüchern (vgl. die Beiträge ab S.62 in diesem Heft)? Und woher nimmt man qualifizierte Lehrer, wenn dieser einst so angesehene Beruf in vielen Ländern in einer Krise ist (vgl. S.10)? Wie kann man in Frieden lernen, wenn die gesellschaftlichen Probleme (Gewalttätigkeit und HIV/AIDS zum Beispiel) auch die Schulen gefährden?
Und doch: Wahrscheinlich ist dieses Millenniumsziel von allen noch am einfachsten zu erreichen. Auch deshalb, weil sich viele Menschen - in Süd und Nord - dafür mobilisieren ließen. Wenn denn das nationale Programm zur Armutsbekämpfung die Sache der ganzen Bundesregierung ist, warum werben Bildungs-und Entwicklungsministerin nicht gemeinsam und offensiv dafür? Vielleicht zusammen mit UNICEF, dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen? Oder mit der UNESCO, die für Bildung zuständig ist? Und könnten nicht auch Verbände, Bildungseinrichtungen, Lehrer, Eltern und Schüler für "Bildung für alle" mobilisiert werden? Ganz nebenbei würde dabei auch unsere eigene Bildungsdiskussion ein wenig zurechtgerückt. Doch auf das nationale 2015-Programm kann sich solches Engagement nur schwer stützen: Grundbildung als eigenständiges Instrument kommt dort kaum vor.
Die späte Einsicht, dass Primarschulbildung kostenlos zugänglich sein muss, gehört nun hoffentlich endgültig zum eisernen Bestand der nationalen und internationalen Bildungspolitik. Einige Länder - zum Beispiel das ostafrikanische Tansania - haben für den Lernprozess einen hohen Preis bezahlt. Dort hatte die 1995 erfolgte Einführung von Schulgebühren zu einem Rückgang des Schulbesuchs und zu großer Unzufriedenheit in der Bevölkerung geführt. Nun sind die Schulgebühren wieder abgeschafft worden; dafür sitzen die Lehrer nun vor extragroßen Klassen, weil viele Kinder Versäumtes nachholen wollen.
Das Grundschulbildung frei sein muss, darf aber umgekehrt nicht heißen, dass Eltern nicht etwas zur Bildung beitragen können und sollen. Für die Erhebung der Gebühren wurden ja entwicklungspolitisch durchaus sinnvolle Argumente vorgebracht: Vertrauen auf die eigenen Kräfte und Identifikation mit der Schule zum Beispiel. So hatten zum Beispiel die Regierung von Tansania und die Weltbank die Einführung von Schulgebühren begründet. Hat sich nicht in vielen Ländern immer wieder gezeigt, dass Schulen, bei denen sich Eltern finanziell und ideell engagieren, besonders gut laufen? Warum sollen nicht Gemeinden, wie in Tansania überlegt wird, zusätzlich etwas aufbringen können, das dann in die weitere Verbesserung der Lernbedingungen investiert wird? Ein Teil der Unzufriedenheit mit der bisherigen Schulgebühr in Tansania rührte auch daher, dass die Behörden das Geld zwar vereinnahmten, dann aber nichts für die Schulen taten.
Während der freie Zugang zu grundlegender Bildung nicht mehr ernsthaft bestritten wird, ist die Frage, wer Schulen und Hochschulen betreiben soll, weiter Gegenstand heftiger Diskussionen. Der Teufel der "Privatisierung" wird auch für das Bildungswesen an die Wand gemalt. Der Wunsch nach Chancengleichheit wird dabei vorschnell mit der Vorstellung verbunden, dass der Besuch von Bildungseinrichtungen generell kostenlos und vom Staat organisiert sein soll. Doch das wird weder der Sache noch dem - sehr sympathischen - Ziel gerecht.
In vielen Ländern spielen private Träger eine quantitativ und qualitativ bedeutende Rolle, in manchen Staaten wäre das Schulwesen ohne sie kaum existent. Gegner und Befürworter privater Schulen führen Untersuchungen an, die beweisen sollen, dass das jeweils bevorzugte Modell das bessere und der Streit damit entschieden ist (vgl. die beiden Beiträge ab S.26), tatsächlich aber ist er ziemlich offen. Ob eine öffentliche oder private Schule im Einzelfall bessere Ergebnisse erzielt, hängt oft von ganz anderen Faktoren ab.
Staaten sind beim Versuch, Gleichheit herzustellen, meist nicht sehr erfolgreich. Dafür gibt es leider viele Beispiele. Dass sie dabei eher Privilegien und neue Ungleichheit schaffen, ist in vielen Ländern der Dritten Welt offensichtlicher und bitterer als bei uns. Wenn die den Staat bestimmenden Gruppen das Angebot kostenloser Grunddienste geschickt für sich selbst nutzen, entsteht eine Art "Sozialismus für die Reichen", die Armen bleiben trotz der egalitären Rhetorik außen vor.
Eltern sind überall auf der Welt bereit, sich die Ausbildung ihrer Kinder etwas kosten zu lassen, gerade viele arme Menschen in der Dritten Welt zeigen das auf beeindruckende Weise. Sie wollen dafür aber auch eine Gegenleistung, sprich: gute Schulen sehen. Und sie schätzen es, wenn es mehrere Möglichkeiten gibt, unter denen sie sich entscheiden können. Ein differenziertes Angebot an privaten und öffentlichen Schulen ist allemal besser als ein leeres Versprechen des Staates.
Reante Wilke-Launer ist Chefredakteurin des "überblick"
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aus "der überblick" Nr. 4/2002 Seite 4