Gefängnisse schaffen mehr Probleme als sie lösen
Zum Erbe der Kolonialzeit gehören auch die Gefängnisse. Die vergangenen Jahrzehnte haben gezeigt, dass das mit ihnen verbundene Konzept von Strafvollzug weder den Bedürfnissen noch den Möglichkeiten der ärmeren Länder gerecht wird. Überbelegung, jahrelange Untersuchungshaft und Korruption sind verbreitete Probleme. Trotz sehr unterschiedlicher Bedingungen und historischer Erfahrungen sind sich die sozialen Strukturen in Gefängnissen weltweit erstaunlich ähnlich.
von Vivien Stern
Gemeinsam mit einer Delegation von Penal Reform International besuche ich 1998 das Professor Anibal Bruno Gefängnis in Recife im brasilianischen Bundesstaat Pernambuco. Das Gefängnis bietet Platz für 700 Insassen - zu jener Zeit sind dort 1840 Untersuchungsgefangene untergebracht. Nur zehn Prozent von ihnen werden von einem Anwalt vertreten. Die übrigen sind zu arm, um sich einen Rechtsbeistand zu leisten. Wir werden in das Büro des Direktors geführt und sollen warten, auf die Nationalgarde. Nach einer halben Ewigkeit erscheinen zehn Männer, bewaffnet mit Maschinengewehren und Handgranaten. Die Tour kann beginnen. Anspannung liegt in der Luft. Während des gesamten Besuchs schließen die Männer von der Sondereinheit einen Kreis um uns, schirmen uns ab von den Gefangenen, mit denen wir uns unterhalten. Drei Tage später höre ich auf BBC, dass es im Professor Anibal Bruno Gefängnis einen ernsten Zwischenfall gegeben hat. Einige Gefangene haben versucht auszubrechen. Dreißig Besucher von Gefangenen - Freunde und Bekannte - wurden als Geiseln genommen. Am Ende gibt es sechs Tote: vier Gefangene, ein Besucher und ein Militärpolizist.
Überall auf der Welt gehören Erfahrungen von Gewalt und Misshandlung zum Alltag von Gefangenen. In Indien tragen Häftlinge noch immer Fußfesseln: Zwei Eisenringe, die die Knöchel des Gefangenen umfassen; daran je ein Eisenstab, den der Häftling in der Hand halten muss, um sich vorwärts zu bewegen. Bei einem Besuch in einem Gefängnis in Bihar erfahren wir, dass die Gefangenen frühestens nach zwei Monaten von den Fesseln befreit werden - Voraussetzung ist eine gute Führung. Wer schwerwiegend gegen die Haftdisziplin verstößt, dem werden spezielle Fußfesseln angelegt, die Fortbewegung nur noch hüpfenderweise oder im Krebsgang ermöglichen. Sieben bis neunzig Tage kann diese Art der Bestrafung dauern.
Menschenrechtsverletzungen in Gefängnissen sind nicht nur eine Realität der ärmeren Länder. In Australien haben Forschungen ergeben, dass jeder vierte männliche Gefangene im Alter zwischen 18 und 25 im Bundesstaat New South Wales damit rechnen muss, vergewaltigt oder misshandelt zu werden. Ein Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch beschreibt die Situation von Isolationshäftlingen im staatlichen Red Onion Gefängnis im US-amerikanischen Bundesstaat Virginia so: "Wenn ein Isolationshäftling seine Zelle verlassen will, muss er sich nackt ausziehen, den Mund öffnen, seine Genitalien hochheben und sich dann mit ausgestreckten Beinen nach vorn beugen um den Beamten einen Blick in seinen After zu gewähren. Anschließend werden ihm Hand- und Fußfesseln angelegt, an denen eine Leine befestigt wird. So wird der Häftling von zwei Wärtern etwa in die Dusche begleitet. Der eine Beamte hält die Leine, der andere richtet ein elektronisches Betäubungsgerät auf den Körper des Gefangenen." Eine Untersuchungskommission im Wormwood Scrubs Gefängnis in London bewirkte, dass 27 Mitarbeiter des Gefängnispersonals angeklagt wurden, Häftlinge misshandelt zu haben. Das Urteil steht noch aus.
In Japan müssen Gefangene damit rechnen, dass ihnen bei der ersten Durchsuchung nach der Einlieferung eine Glaskanüle in den After geschoben wird. Bei der täglichen Zellendurchsuchung müssen sie bewegungslos in der so genannten seiza-Position ausharren - einer förmlichen Haltung, bei der der Betreffende auf seinen Fersen sitzt und die nach einer Weile zu Taubheit der Glieder führt.
Alle diese Länder sind dem Internationalen Pakt der Vereinten Nationen über bürgerliche und politische Rechte beigetreten . In Artikel Zehn heißt es dort: "Jeder Mensch, dem seine Freiheit entzogen ist, muss menschlich und mit Achtung vor der dem Menschen innewohnenden Würde behandelt werden."
Gefängnisse gibt es überall auf der Welt, aber die Art und Weise, wie Gefängnisse geführt werden, spiegelt die Kultur und historischen Erfahrungen eines Landes wider. Die Haft als Hauptform der Bestrafung ist eine europäische Idee des 18. Jahrhunderts, die von christlichen Vorstellungen von Sünde und Buße getragen wird. Gefängnisse sind in ihrem Aufbau christlichen Klöstern nachempfunden. Nicht zufällig leben die Häftlinge wie Mönche in Zellen. Hier geht es um das Individuum, das seine Seele von der Sünde befreien soll.
Ganz anders in Russland, wo Inhaftierung Verbannung bedeutet und den langen Marsch in die Straflager Sibiriens. Sünde und Gnade spielen hier keine Rolle. Die Gefangenen sollen arbeiten müssen, eine Gruppe von Sklavenarbeitern soll geschaffen werden. Im Fernen Osten, in China und Japan, wird eine Mischung von beiden Vorstellungen praktiziert. Die Gefangenen sollen arbeiten, zugleich aber ihre Fehler erkennen und sich bessern.
Die Länder der Dritten Welt haben ihre Gefängnisse von den westlichen Kolonisatoren geerbt. Ursprünglich wurden hier vor allem antikoloniale Widerstandskämpfer inhaftiert. Oftmals entspricht die Art der Gefängnisverwaltung noch heute dem europäischen Modell der 1920er Jahre und richtet sich nach den in der Kolonialzeit gelegten gesetzlichen Grundlagen. Das Gefängnisgesetz in Indien beispielsweise datiert aus dem Jahre 1894. Zugleich haben eigene Vorstellungen die Gefängniskultur in den einzelnen Ländern geprägt. So hielt Prison Reform International in Ruanda mit 900 Häftlingen ein Treffen ab, die nur von fünf Wärtern überwacht wurden. Dennoch gab es weder Geiselnahmen noch Ausbruchsversuche. Ein solch hoher Grad an Konsens ist in vielen anderen Ländern kaum denkbar.
Trotz dieser unterschiedlichen historischen und ideologischen Hintergründe sind die Ergebnisse - die Bedingungen der Haft - erstaunlich ähnlich. Gefängnispersonal überall auf der Welt versteht einander problemlos. Die Grundregeln des Überlebens sind weltweit die gleichen - für die Insassen wie für das Gefängnispersonal. Der Geruch von zu vielen ungewaschenen Körpern und mangelhaften sanitären Einrichtungen ist unverwechselbar. Überbelegung ist in den meisten Gefängnissen eines der Hauptprobleme. Sie produziert soziale Spannungen zwischen den Gefangenen und fördert die Ausbreitung von Krankheiten. Schätzungen zufolge sind etwa 10 Prozent der Inhaftierten in Russland mit Tuberkulose infiziert.
Hinter dem Problem der Überbelegung steht oftmals ein ineffektiv arbeitendes Justizsystem. In vielen Ländern gibt es mehr Untersuchungsgefangene als verurteilte Häftlinge, in Venezuela beispielsweise sind drei Viertel der Gefängnisinsassen bisher ohne Gerichtsverfahren inhaftiert. Oftmals übersteigt ihre Haftzeit die Höchststrafe, die ihnen im Falle einer Verurteilung gedroht hätte.
Überall auf der Welt organisieren sich Gefängnisinsassen in Gruppen, die ihnen Status, Identität und Schutz gewähren. Der Führer einer solchen Gruppe ist leicht auszumachen, ebenso wie seine Schergen, die die Terrorarbeit leisten, und die Gewaltopfer - oft junge Insassen, die misshandelt, brutalisiert und ausgenutzt werden. Betritt eine Delegation einer Menschenrechtsorganisation wie Penal Reform International eine Zelle mit vierzig Insassen, so steht sofort fest, wer von ihnen "der Baron" ist: der Chef der Zelle wird selbst nichts sagen. Stattdessen wird er die anderen beobachten und durch ein zustimmendes Lächeln oder einen finsteren Seitenblick beeinflussen, welche Informationen seine Mitgefangenen an die Besucher weitergeben. Der Einfluss eines solchen Barons erstreckt sich meist über die Gefangenen hinaus auf die Wärter. Auch von ihnen wird erwartet, dass sie in Angst vor Gewalt leben. Im Verhältnis zu ihren Wärtern entwickelt sich unter den Gefangenen immer so etwas wie Solidarität. Ein ungeschriebener Kodex regelt das Verhalten ihnen gegenüber - und wehe denen, die sich nicht daran halten.
Das Stigma, das einem Gefängnis anhängt wird oft auch auf jene übertragen, die in den Gefängnissen arbeiten. Gefängniswärter reden oft nur ungern über ihre Arbeit. In den Heldenmythen der Filmindustrie über Polizisten und Gangster kommen sie nicht vor. Ist der Bandit einmal verhaftet, dann ist die Spannung vorüber. Was danach kommt, ist die glanzlose Arbeit des Gefängnispersonals: aufschließen, zuschließen und die Beaufsichtigung der Gefangenen in allen banalen Lebenslagen.
Die Vorstellungen der Öffentlichkeit gehen an der Realität des Gefängnisalltags oft vorbei. Viele Menschen halten Gefängnisse für Luxushotels. Andere glauben, alle Gefängniswärter seien Gewalttäter und Menschenrechtsverletzer. Viele Menschen sind zudem davon überzeugt, dass man auf Verbrechen am besten reagiert, indem man noch mehr Menschen einsperrt.
Wer sind nun die Gefangenen? Aus welchen Bevölkerungsschichten stammen sie? Die Antwort ist eindeutig: In den Gefängnissen der Welt sitzen die Armen und die Minderheiten. Ein schwarzer Mann in den USA hat statistisch gesehen mehr Chancen, in einem Gefängnis zu landen als einen Hochschulabschluss zu erlangen. 1997 wurden pro 100.000 schwarzer Einwohner 8.630 Männer zwischen 25 und 30 inhaftiert. Das waren zehnmal mehr als weiße Männer im selben Alter. Ähnliche Verhältnisse finden wir auch in anderen Teilen der Welt. In Neuseeland ist der Anteil von Maori unter den Gefangenen acht Mal höher als der von Nicht-Maori. Und das obwohl nur 12 Prozent der neuseeländischen Bevölkerung zu den Maori gezählt werden. In Australien sind 19 Prozent der Insassen Aborigines, ihr Anteil an der australischen Bevölkerung beträgt aber nur 1,7 Prozent. In Osteuropa ist die Situation ähnlich: Schätzungen zufolge sind etwa die Hälfte aller Insassen in ungarischen Gefängnissen Roma, eine Gruppe, die etwa 5 Prozent der ungarischen Bevölkerung stellt.
Auch in anderer Hinsicht repräsentieren die Insassen eines Gefängnisses nicht den Bevölkerungsdurchschnitt: 19 von 20 Gefangenen sind Männer - meist junge Männer. Viele von ihnen sind schon als Kind ins Heim abgeschoben worden und früh straffällig geworden. Der Jugendstrafvollzug kann sie nicht von der schiefen Bahn abbringen, und so landen sie meist irgendwann im Gefängnis für erwachsene Straftäter.
Frauen sind im Gefängnis deutlich in der Minderheit. Die Delikte, für die sie inhaftiert werden, ähneln sich weltweit: Drogen, Prostitution und Armutskriminalität sind die häufigsten Anklagepunkte. Meist sind die Frauen selbst Opfer von Gewalt und Misshandlung. Nicht wenige sind inhaftiert, weil sie sich schließlich zur Wehr gesetzt und ihre Peiniger ermordet haben. Frauen sind in den allermeisten Fällen den selben Haftbedingungen ausgesetzt wie Männer. Die speziellen Bedürfnisse von Frauen werden dabei außer Acht gelassen. So gibt es kaum Programme, die sich mit den Missbrauchserfahrungen der Frauen auseinander setzen. Wenn es hoch kommt, gibt es Nähkurse für die weiblichen Gefangenen.
Gefängnisse sind also ein Spiegel gesellschaftlicher Ungleichheiten. Und sie sind oft Orte, an denen Menschenrechte verletzt werden. Wie steht es mit ihrem Nutzen? Indem sie die Gesellschaft vor Menschen schützen, die wirklich eine Gefahr darstellen, erfüllen sie eine wichtige Aufgabe. Im Fall von weniger gewalttätigen Kriminellen, von Jugendlichen oder von Straftätern, die wegen nicht-gewalttätiger Delikte angeklagt sind, überwiegen aber die Nachteile des Gefängnissystems gegenüber seinen Vorteilen. Die sozialen und materiellen Kosten sind vielfältig: Die Gefangenen verlieren ihre Arbeitsstelle und oftmals ihre Wohnung. Ihre Familien werden destabilisiert und geraten in eine existenzielle Krise. In vielen Ländern fällt ihnen gar die Aufgabe zu, den Gefangenen zu ernähren, um sein Überleben zu sichern. Auch kommen die Gefangenen durch die Haft oft erst eng mit der Welt der Kriminellen in Berührung. Wenn sie aus dem Gefängnis entlassen werden, haftet ihnen ein Stigma an, das ihre Reintegration in die Gesellschaft gefährdet.
Auch die materiellen Kosten sind nicht zu unterschätzen. Die Gebäude müssen erhalten, ein möglichst gut ausgebildetes Personal muss entlohnt, die Gefangenen müssen ernährt werden. Für ärmere Länder sind diese Ausgaben eine immense Belastung. Das Gefängnispersonal wird in diesen Ländern meist schlecht bezahlt; damit wird der Korruption Tür und Tor geöffnet. Nicht selten werden Nahrungsmittel, die für die Gefangenen bestimmt sind, gestohlen. Oder das Personal beteiligt sich am Drogenschmuggel. Wohlhabendere Gefangene können sich mit Schmiergeldern bessere Haftbedingungen erkaufen. In Gefängnissen, in denen sanitäre Anlagen fehlen, wo es keine Ärzte und keine Medikamente gibt, wo es an Wasser fehlt und an Raum zum Schlafen, kann eine Gefängnisstrafe gleichbedeutend sein mit der Todesstrafe.
Ein Blick auf die Statistiken zeigt, dass das Verhältnis der Gefängnisinsassen zur Gesamtbevölkerung von Land zu Land sehr unterschiedlich sein kann. Russland steht mit 685 Häftlingen pro 100.000 Einwohner an der Spitze der Statistik. Die USA folgen mit einer Rate von 668 Häftlingen. Obwohl die USA nur fünf Prozent der Weltbevölkerung stellen, sitzen 25 Prozent der Insassen weltweit in US- amerikanischen Gefängnissen. Weitere Länder mit einer hohen Gefangenenrate sind Kasachstan, Singapur, Lettland, Weißrussland, Ukraine und Südafrika. In Afrika liegen die Durchschnittswerte zwischen 60 Insassen pro 100.000 Einwohner in West- und Zentralafrika und 250 im südlichen Afrika. In Asien beträgt der Durchschnittswert 45, in Westeuropa zwischen 60 und 130. Inwieweit diese Zahlen etwas über die Kriminalitätsrate eines Landes aussagen können ist umstritten. Es besteht jedoch Einigkeit unter Kriminologen, dass kulturelle Vorstellungen von Strafe und Formen der Bestrafung einen größeren Einfluss auf die Gefangenenstatistik eines Landes haben. So führt ein integratives Konzept von Staatsbürgerschaft wie beispielsweise in Frankreich dazu, dass es als eine sehr ernste Angelegenheit empfunden wird, einen Landsmann ins Gefängnis zu schicken. Die Franzosen wenden daher die Haftstrafe sehr viel zögerlicher an als die Engländer, deren Gesellschaftsvorstellung exklusiver und klassenorientierter ist, und denen es in gewissem Sinne einfacher fällt, die Gefängnisstrafe für jemanden zu akzeptieren, der als "anders", als nicht dazugehörig, empfunden wird.
Wie werden sich die Statistiken in Zukunft entwickeln? Besteht Hoffnung, dass alternative Formen der Bestrafung sich durchsetzen werden? Auf diese Frage gibt es zwei Antworten: In den westlichen Ländern zeichnet sich ein düsteres Bild ab, in den Ländern des Südens gibt es Zeichen der Hoffnung. In Europa und den USA steigt die Zahl der Häftlinge und die Strafpolitik wird rigider. Die Behandlung der Gefangenen wird härter, und die Entwicklung neuer Formen elektronischer Überwachung schürt Ängste, dass bürgerliche Freiheiten zunehmend eingeschränkt werden könnten. Beängstigend ist auch der Trend hin zur Privatisierung von Gefängnissen - die Schaffung eines neuen Marktes für Freiheitsentzug. Große Firmen, meist aus den USA, verkaufen die Haft als sei es eine Dienstleistung und reisen um die Welt auf der Suche nach Ländern, die Gefängnisse kaufen wollen. Andere Unternehmen handeln mit Überwachungsgeräten, die an den Körpern derer befestigt werden, die kontrolliert werden sollen.
In einigen Ländern des Südens gehen die Entwicklungen in eine andere Richtung. 1996 versammelten sich Repräsentanten aus 40 afrikanischen Ländern in Ugandas Hauptstadt Kampala und unterzeichneten ein Dokument, das weit reichende Reformen im Bereich von Haftbedingungen und der Entwicklung alternativer Strafformen vorsieht - die Kampala Deklaration. In vielen afrikanischen Ländern können die Reformer auf Traditionen alternativen Strafvollzugs und anderer Formen von Gerechtigkeit zurückgreifen, die als Basis für eine neue Entwicklung dienen könnten. Amos Wako, Generalstaatsanwalt von Kenia, sagt dazu: "In unserer traditionellen Vorstellung macht es nur dann Sinn, einen Kriminellen einzusperren oder ihn aus der Gemeinschaft zu exkommunzieren, wenn keine Hoffnung mehr besteht, dass der Betreffende durch sozialen Einfluss gebessert werden kann. Die Delikte, die in unseren Gesetzbüchern als Kleinkriminalität verbucht sind, wurden bei uns früher von der Gemeinschaft selbst gelöst. Wenn beispielsweise jemand eine Ziege stahl, dann kümmerte sich einer der Ältesten darum, dass eine andere Ziege als Wiedergutmachung an die Geschädigten gezahlt wurde. Das war dann das Ende des Falls. Allein die Scham hat den Dieb davor bewahrt, wieder zu stehlen."
Die Reformer in den Ländern des Südens sehen sich vor das Problem gestellt, dass das vom Westen geerbte Strafjustizsystem nicht geeignet ist, die Bedürfnisse der Mehrheit der Bevölkerung - das heißt der Armen - nach Sicherheit und Gerechtigkeit zu erfüllen. Das westliche Modell bedeutet zwar theoretisch die Anerkennung internationaler Menschenrechtsstandards, die praktische Umsetzung jedoch scheitert in vielen Ländern daran, dass das System zu komplex, zu teuer, zu zentralisiert ist und einen hohen Ausbildungsstand unter jenen voraussetzt, die es anwenden sollen. Oft hat die Polizei in diesen Ländern gar nicht die Mittel, um grundlegende Aufgaben zu erfüllen, es fehlt zum Beispiel an Autos und Ausrüstung. Die Justiz braucht oft Monate, wenn nicht Jahre, um einen Fall zu behandeln, nicht selten gehen Gerichtsunterlagen ganz verloren. Hinzu kommt, dass die wenigsten Angeklagten sich einen Anwalt leisten oder Rechtsbeihilfe in Anspruch nehmen können.
Viele Verantwortliche sind sich dieser Defizite bewusst und sind längst dabei, neue Wege zu beschreiten. Sie sind dabei, Alternativen zur Haftstrafe zu entwickeln, die sich an älteren, informellen Formen der Konfliktbewältigung orientieren. Strafformen - wie Arbeit in der Gemeinschaft -, die näher an den Menschen sind, die heilen wollen und nicht schaden, die integrierend und nicht ausschließend wirken. Währenddessen bewegen sich die westlichen Länder in eine Spirale immer härterer Maßnahmen, immer mehr Überwachung und immer stärkerer sozialer Ausgrenzung.
aus: der überblick 01/2000, Seite 11
AUTOR(EN):
Vivien Stern:
Vivien Stern ist Dozentin am Internationalen Zentrum für Gefängnisforschung am King's College in London. Sie ist außerdem Ehrenvorsitzende der Menschenrechtsorganisation Penal Reform International und hat Gefängnisse in 32 Ländern besucht. Ihr Buch 'A Sin Against the Future: Imprisonment in the World' ist 1998 bei Penguin Books und bei Northeastern University Press erschienen.