Hansjörg Dilger : "Suche nach ganzheitlicher Heilung"
Die Aids-Programme der Kirchen in Tansania zeigen Wirkung. Gleichzeitig fördert aber die Seuche das Wachstum von Pfingstkirchen mit strengen Moralvorstellungen, erklärt Hansjörg Dilger, Ethnologe an der Freien Universität Berlin, in einem Gespräch mit Bernd Ludermann. Er hat 1995-96 und 1999-2000 insgesamt 16 Monate über den Umgang mit Aids, insbesondere in Pfingstkirchen, in Tansania geforscht.
von Bernd Ludermann
Ist das Thema Aids in Tansania noch ein Tabu, oder hat sich das seit 1995 geändert?
Es hat sich geändert. Heute wird auch im öffentlichen Raum über Aids gesprochen, allerdings sehr allgemein - zum Beispiel da-rüber, was Aids in Familien anrichtet und wie sich Sexualität verändert hat. Aber im persönlichen Bereich findet man viel weniger Offenheit.
Tansanier haben Schwierigkeiten zuzugeben, wenn jemand aus der Familie infiziert ist?
Ja. Allerdings ist das regional sehr unterschiedlich. Westlich des Viktoriasees zum Beispiel, wo es schon lange Aids-Programme gibt, haben Menschen 1995 schon selbst gesagt, sie sind HIV-infiziert und machten Gemeinwesenarbeit. Noch im vergangenen Jahr war das in meiner ländlichen Forschungsregion östlich des Viktoria-Sees ganz anders - da würde das kaum jemand sagen.
Haben Kirchen und ihre Hilfswerke dazu beigetragen, das Tabu aufzuweichen?
Einige Kirchen waren sehr engagiert, und die evangelisch-lutherische hat seit den achtziger Jahren Aufklärungsarbeit gemacht. Persönlich habe ich mit einer katholischen Organisation in Dar es Salaam zu tun gehabt, die unter anderem eine Selbsthilfegruppe für HIV-Infizierte gegründet hat und Jugendliche aufklärt. Ich habe aber auch erlebt, dass Gemeinden nach wie vor von Aids als einer Strafe Gottes predigen. Das gibt es sowohl in der evangelischen und katholischen Kirche als auch in unabhängigen afrikanischen.
Sie haben sich besonders mit Pfingstkirchen befasst. Hat das Gefühl der Bedrohung, das Aids ausgelöst hat, dazu beigetragen, dass diese Kirchen Mitglieder gewonnen haben?
Mit Sicherheit. Aids hat zusammen mit Modernisierungsprozessen an das Wertesystem einzelner ethnischer Gruppen und der tansanischen Gesellschaft als ganzer gerührt. Ein Wertewandel ist im Gange. Die Menschen suchen Antworten auf Fragen, die nicht nur den Bereich der Sexualität, sondern größere Lebens- und Sinnzusammenhänge betreffen. Die Pfingstkirchen gehen darauf ein - wie immer man ihre Antworten beurteilt. Attraktiv macht sie zum einen das große Heilungsangebot.
Das heißt Geist-Heilungen?
Ja, durch individuelles Handauflegen, aber auch kollektive Gebete; die Leute werden sozusagen gesund gebetet. Allerdings greifen auch einige Pfingstkirchen auf das medizinische Modell zurück und erkennen an, dass es einen HI-Virus gibt. Die Kirche in Dar es Salaamdie ich untersucht habe, sagt, der Virus ist von Gott gebracht - er ist sozusagen die Form eines bösen Geistes, der weggebetet werden kann und muss. Für andere Pfingstkirchen sind die Medizin und die Religion zwei Paar Stiefel, die man nicht vermischen soll. Manche sagen ihren Anhängern, sie dürfen die medizinische Behandlung gar nicht in Anspruch nehmen. Andere - wie die, die ich untersucht habe - schicken ihre Mitglieder zum Aids-Test, um den Erfolg der Gebete zu messen. Es macht solche Pfingstkirchen attraktiv, dass sie Brücken zwischen dem medizinischen Modell und religiösen Werten schlagen. Die etablierten Kirchen würden dagegen religiöse Heilungen ablehnen und beschuldigen die Pfingstkirchen teilweise, mit "dunklen Mächten" zu arbeiten.
Ist das Gesundbeten auch deshalb attraktiv, weil die meisten Tansanier sich eine medizinische Behandlung gar nicht leisten könnten?
Das spielt eine Rolle. Man darf den Faktor Armut aber nicht überbewerten. Es gibt in Afrika auch Pfingstkirchen, die gezielt die Eliten ansprechen. Die Kirche in Dar es Salaam hat eine große Anhängerschaft unter ärmeren Schichten, vor allem unter Frauen, aber sie hat auch sehr gut gestellte und zum Teil prominente Mitglieder. Auch Bessergestellte nehmen das Heilungsangebot in Anspruch. Man lässt sich medizinisch behandeln, empfindet das aber nicht unbedingt als ausreichend, sondern sucht auch eine ganzheitlichere Heilung. Die Pfingstkirchen bieten Hoffnung und Sinn an.
Wie stehen die Pfingstkirchen zu Aufklärung und Aids-Prävention?
Sie haben strenge moralische Regeln und erwarten von ihren Anhängern, dass sie sich danach richten. Sexualität vor und außerhalb der Ehe wird strikt abgelehnt. Das ist aber nichts Außergewöhnliches, das gilt auch für die anderen Kirchen. Dass es in puncto Sexualität in Afrika etwas lockerer zugeht, ist ein unzutreffendes Vorurteil. Es gab immer moralische Vorstellungen, wann und mit wem man Geschlechtsverkehr haben sollte. Aber die soziale Kontrolle durch andere Mitglieder ist in Pfingstkirchen rigider. In den etablierten Kirchen hatte ich den Eindruck, die Moral wird im eigenen Leben nicht so ernst genommen. Insofern haben die Pfingstkirchen paradoxerweise größere Erfolge in der Aids-Prävention als andere Kirchen.
Paradoxerweise, weil die Pfingstkirchen gleichzeitig zum Beispiel den Gebrauch von Kondomen ablehnen?
Das tun die meisten. Sie verhalten sich nicht unbedingt so, wie die Regierung oder internationale Organisationen wünschen, dass sich Kirchen an der Aids-Prävention beteiligen. Danach sollten sie Werte vermitteln, aber auch die Prävention fördern, indem sie zum Beispiel nicht gegen Kondome sprechen. Und die Idee der religiösen Heilung lehnen natürlich die meisten internationalen Organisationen ab.
Woran liegt es, dass in einer Situation, wo die Gesellschaft sich öffnet und alte Selbstverständlichkeiten ins Wanken geraten, Tansanier sich Gruppen mit besonders starren Moralvorstellungen anschließen?
Viele Tansanier erfahren jetzt in ihren Familien das Sterben an Aids zunehmend direkt. Das mischt sich mit steigender Armut und anderen Problemen. Die Präventionskampagnen sagen, ein Individuum kann frei und unabhängig für sich handeln. Viele Tansanier erfahren das ganz anders, weil sie in sozialen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten leben und die Familie eine ganz starke Rolle spielt. Pfingstkirchen setzen die moralischen Leitplanken enger, auch wenn sie gleichzeitig auf individuellen Erfolg und gesellschaftliche Modernisierung setzen - also nicht als rückwärtsgewandt bezeichnet werden können. Dadurch finden die Menschen bei diesen Kirchen, aber auch bei Heilern, umfassendere Antworten auf das Spannungsfeld, in dem sich ihr tägliches Leben abspielt.
aus: der überblick 02/2002, Seite 112
AUTOR(EN):
Bernd Ludermann :
Bernd Ludermann war viele Jahre Redakteur beim "überblick". Er arbeitet jetzt als freier Journalist in Hamburg und betreut unter anderem als Redakteur die Forum-Seiten im "überblick".