Juden haben in Marokko lange in guter Nachbarschaft mit muslimischen Bürgern gelebt
Seit Jahrhunderten leben Juden in der Region des heutigen Marokko. Noch in den fünfziger Jahren dieses Jahrhunderts waren es fast 400.000. Infolge der Staatsgründung Israels und der Nahostkriege von 1967 und 1973 ist die Zahl jüdischer Marokkaner stark gesunken. Dennoch spielen Juden im öffentlichen und im wirtschaftlichen Leben des Königreichs nach wie vor eine beachtliche Rolle. Und selbst diejenigen, die das Land in den vergangenen Jahrzehnten verlassen haben, haben eine enge Beziehung zu ihrem Heimatland bewahrt.
von Beat Stauffer
Der Mann aus Fes besitzt einen Stammbaum, der über 900 Jahre zurückreicht. Wer wollte anzweifeln, daß Charles El Fassy ein echter Marokkaner ist? Doch im Unterschied zu über 99,9 Prozent seiner Landleute ist El Fassy jüdischen Glaubens. Der Immobilienhändler, der unter anderem den Modeschöpfer Yves Saint Laurent zu seinen Kunden zählt und mit seiner Familie in Marrakesch lebt, fühlt sich dennoch voll und ganz als Marokkaner. In den vergangenen 30 Jahren war El Fassy als Direktor einer großen Bankgruppe tätig, stand dem örtlichen Lions- Club vor und ist ins gesellschaftliche Leben von Marrakesch bestens integriert. Hier fühle er sich ganz einfach zu Hause, erklärt er. Die jüdische Gemeinde werde von den Behörden mit großem Respekt behandelt, und selbst in Krisenzeiten - etwa während des Golfkriegs, als auch in Marokko die Emotionen hochkochten - hätten er und seine Familie sich in diesem Land sicher gefühlt.
Doch die jüdische Gemeinde von Marrakesch, die einst über 20.000 Mitglieder zählte, ist mittlerweile auf wenige hundert Köpfe geschrumpft. Auch in den anderen großen Städten, die einst florierende jüdische Gemeinden zählten - vor allem Fes, Meknes und Tanger -, ist die Situation nicht anders. All diese Gemeinden sind zu klein geworden, um ihre eigenen Institutionen längerfristig tragen zu können. Noch schlimmer sieht es in den kleineren Städten aus. So leben etwa in Essaouira, das noch Anfang des Jahrhunderts eine jüdische Bevölkerungsmehrheit und über 30 Synagogen aufwies, gerade noch ein knappes Dutzend Menschen jüdischen Glaubens. Am Sabbat müssen sie nach Casablanca oder Marrakesch fahren, denn die letzte Synagoge ist längst geschlossen. Vollständig verschwunden sind schließlich die zahlreichen jüdischen Gemeinden auf dem Land. Nur noch Ortsnamen, Friedhöfe und Grabmäler von Rabbinern erinnern daran, daß vor allem im Hohen Atlas, im Antiatlas und in den Oasen am Rand der Sahara die jüdische Kultur jahrhundertelang stark verwurzelt war.
Einzig in der Wirtschaftsmetropole Casablanca hat sich eine größere jüdische Gemeinde halten können. Sie verfügt immer noch über ein aktives Gemeindeleben und über alle dafür notwendigen Einrichtungen: In Casablanca gibt es jüdische Kindergärten, Grund- und Mittelschulen, Altersheime, soziale Dienste, rabbinische Gerichte sowie koschere Metzgereien und Lebensmittelgeschäfte. Mindestens 5000 Menschen zählt diese letzte größere jüdische Gemeinde Marokkos und damit gut die Hälfte der im Land verbliebenen Juden. Hält man sich vor Augen, daß in den fünfziger Jahren noch zwischen 350.000 und 400.000 Juden in Marokko lebten, so gewinnt man einen Eindruck von den dramatischen Veränderungen, die die jüdischen Gemeinden Marokkos in den letzten 40 Jahren erschüttert haben.
Bei diesen Zahlen ist allerdings Vorsicht am Platz. Denn zum einen verfügen die im Land verbliebenen Juden über weitaus größeren Einfluß, als die Zahlen vermuten lassen. In den Medien, im Finanzsektor, im Tourismus - um nur einige der wichtigsten Bereiche zu nennen - befinden sich bedeutende Unternehmen immer noch in jüdischer Hand. Auch unter Intellektuellen und Freischaffenden gibt es einige herausragende jüdische Köpfe. Zum anderen sind die Zahlen von höchstens noch 10.000 jüdischen Marokkanern nicht sehr aussagekräftig. Denn von den Hunderttausenden, die das Land verlassen haben, besitzen viele immer noch einen marokkanischen Paß. Sie können so wirtschaftlich durchaus eine Rolle spielen, ohne daß sie ständig im Land leben.
Dennoch: Die jüdisch-marokkanische Kultur, deren Wurzeln nachgewiesenermaßen bis in die Antike zurückreichen und die einst allgegenwärtig war, ist aus dem Alltag in Marokko fast vollständig verschwunden. Diesen Verlust erleben auch viele gebildete Marokkaner als sehr schmerzhaft. Denn "Mauren" und Juden haben weit mehr geteilt als nur die gemeinsame Vertreibung aus dem andalusischen "Paradies" vor rund 500 Jahren (in den Jahrzenten nach dem Fall Granadas 1492 - er markierte das Ende der Reconquista, der Rückeroberung Spaniens von den Mauren - wurden Juden und Muslime aus dem katholischen Königreich vertrieben; Anm. d. Red.).
Ihre beiden Kulturen haben sich vielmehr in über tausendjähriger Koexistenz gegenseitig befruchtet. In vielen Bereichen, so schreibt Haim Zafrani in seinem Werk Mille ans de vie juive au Maroc (Eintausend Jahre jüdisches Leben in Marokko), ist die jüdisch-marokkanische mit der islamisch-arabischen und der berberischen Kultur eine echte Symbiose eingegangen. Am augenfälligsten war dies im Alltagsleben und in gewissen Formen des volkstümlichen Glaubens. So wurde - und wird bis auf den heutigen Tag - das Grabmal eines wundertätigen Rabbiners häufig auch von den muslimischen Bewohnern der umliegenden Dörfer mit größter Selbstverständlichkeit verehrt.
Es darf allerdings nicht verschwiegen werden, daß die Juden, obwohl lange vor den Muslimen in Nordafrika ansässig, in bestimmten Bereichen diskriminiert waren. Sie waren Dhimmis (Schutzbefohlene) des muslimischen Staates, mußten Sondersteuern entrichten und hatten bis in die jüngste Zeit nicht dieselben Rechte wie ihre arabischen Mitbürger. Ab der Mitte des 15. Jahrhunderts mußten sie zudem meistens in einem speziellen Viertel der Stadt, der Mellah, leben. Doch diese Judenviertel hatten nur wenig gemein mit den Ghettos der mittel- und osteuropäischen Juden. Sie befanden sich immer in unmittelbarer Nähe des Palastes und damit unter dem direkten Schutz des Herrschers. Bei Unruhen und Aufständen waren die Juden somit besser geschützt als die restliche Bevölkerung. Wohl kam es auch in der marokkanischen Geschichte zu gelegentlichen Judenverfolgungen. Die zumeist lokal beschränkten Gemetzel und Plünderungen erreichten jedoch nie das Ausmaß europäischer Pogrome. Sie geschahen zudem immer in Zeiten, in denen das ganze Land in Wirren steckte. Insgesamt gesehen lebten die Juden in Marokko wesentlich besser als ihre Glaubensgenossen in Europa.
Diese tolerante Haltung läßt sich auch daran ersehen, daß Juden über Jahrhunderte hinweg immer wieder höchste Positionen am marokkanischen Königshof innehatten. Unzählige Herrscher hielten sich jüdische Diplomaten, Finanziers, Berater und Leibärzte. So bewegten jüdische Berater im Jahr 1787 den Sultan zur offiziellen Anerkennung der Vereinigten Staaten von Amerika und zum Abschluß eines Freundschaftsvertrags. Nie war es Juden im christlichen Abendland vergönnt, so schreibt Zafrani, in derart wichtige Positionen aufzusteigen.
Diese Tradition ist bis auf den heutigen Tag aufrechterhalten worden. Daß auch die Schutzverpflichtung ernst genommen wurde, bewies Sultan Mohammed V. während des zweiten Weltkriegs auf eindrückliche Weise: Er weigerte sich 1943, seine jüdischen Bürger an Vichy-Frankreich auszuliefern und sie damit in den sicheren Tod zu schicken. Dies haben ihm seine jüdischen Untertanen nie vergessen.
Nach dem Abzug der Franzosen im Jahr 1956 erhielten die marokkanischen Juden erstmals die gleichen Rechte wie ihre muslimischen Mitbürger, und jüdische Intellektuelle besetzten hohe Posten in der nachkolonialen Verwaltung. Dennoch setzte schon zwei Jahre später eine erste, große Auswanderungswelle ein, die der junge marokkanische Staat anfänglich zu bremsen versuchte. Zu sehr war sich die Regierung bewußt, welchen Substanzverlust das Land im Falle einer Emigration aller Juden zu erleiden hätte.
Der Hauptgrund für diesen freiwilligen Exodus lag in der Gründung des Staates Israel und in dessen aktiver Rekrutierungspolitik. Der neu geschaffene Staat benötigte dringend Bauern und Handwerker, und diese fanden sich zahlreich unter den marokkanischen Juden. So waren es denn vor allem die ärmeren und weniger gebildeten Teile der jüdischen Gemeinschaft, die dem Ruf Israels folgten.
Doch als sich anläßlich der beiden Nahostkriege von 1967 und 1973 eine Welle des arabischen Nationalismus ausbreitete, wurden auch im Maghreb die Beziehungen zwischen Juden und Muslimen vergiftet. Nochmals verließen Zehntausende das Land - diesmal vor allem gut ausgebildete und wohlhabende Bevölkerungsteile. Marokko ließ seine Juden in Frieden ziehen; es gab keine Enteignungen und praktisch keine Zwischenfälle. Der Abschied - dies belegen unzählige Zeitzeugen - ist damals beiden Seiten sehr schwer gefallen.
Marokko verfolgt bis heute von allen arabischen Ländern die weitaus liberalste und toleranteste Politik gegenüber seiner jüdischen Minderheit. Nach wie vor haben jüdische Gemeinden ein Anrecht auf eigene Schulen und rabbinische Gerichte. Nach wie vor nehmen Juden hohe Posten in praktisch allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ein. Mit der Ernennung von André Azoulay zum persönlichen Berater in außenwirtschaftlichen Belangen hatte der jüngst verstorbene König Hassan II. gar eine der höchsten Staatsstellen einem Juden übertragen. Azoulay, der als ehemaliger Direktor der Bank Paribas über ausgezeichnete Beziehungen zu europäischen Finanzkreisen verfügt, ist vom neuen König in seinem Amt belassen worden. Ob dies auch in Zukunft der Fall sein wird, steht auf einem anderen Blatt. Mohamed VI. hat schon öffentlich verlauten lassen, daß er sich in Zukunft mit Beratern seiner Wahl umgeben werde.
Hinter dem Schutz, den die Herrscher Hassan II. und sein Vater Mohamed V. den Juden angedeihen ließen, steckte zweifellos auch Kalkül: Sie sicherten sich dadurch nicht zuletzt die Unterstützung der einflußreichen jüdischen Kreise in den USA. Die marokkanischen Juden ihrerseits identifizieren sich mit ihrem Land und stehen loyal zu der Alawitendynastie. So war etwa Kritik am verstorbenen Herrscher Hassan II. für sie gänzlich tabu. Denn die jüdische Gemeinde war und ist sich sehr wohl bewußt, daß ihr Wohlergehen direkt vom Königshaus abhängt.
Es erstaunt deshalb nicht, daß sich viele marokkanische Juden nicht allzu sehr für ihren Glaubensgenossen, den Regimekritiker Abraham Serfaty, engagieren mochten. Serfaty hatte seinerzeit einer kommunistischen Gruppierung angehört und war Mitte der siebziger Jahre wegen eines angeblichen Komplotts, das mit seiner regierungskritischen Haltung in der Westsahara-Frage zusammenhing, zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe verurteilt worden. Als Serfaty auf internationalen Druck nach siebzehn Jahren Gefängnis des Landes verwiesen wurde, entzog ihm sein Heimatland die marokkanische Staatsbürgerschaft. Indem er Serfaty Anfang Oktober die Rückkehr nach Marokko erlaubte, hat der neue König einen endgültigen Strich unter diese leidvolle Geschichte gezogen, die auch die jüdische Gemeinde gespalten hat.
Das marokkanische Judentum, einst die größte jüdische Diaspora in der arabischen Welt, ist auf einen Bruchteil seiner einstigen Größe zusammengeschrumpft. Doch die marokkanischen Juden haben nicht das Gefühl, eine winzige Minderheit zu sein, weil sie sich zur großen "Gemeinde" der in aller Welt lebenden marokkanischen Juden zugehörig fühlen. Rund eine Million Juden marokkanischen Ursprungs gibt es weltweit, die meisten von ihnen leben heute in Israel.
Für Serge Berdugo, den ehemaligen Tourismusminister Marokkos, hat das marokkanische Judentum eine historische Aufgabe: Der Welt zu zeigen, daß Juden und Araber im Alltag ohne weiteres zusammenleben können. "Wir haben eine jahrhundertealte Erfahrung, die wir für die Lösung des Nahostkonflikts fruchtbar machen möchten", sagt Berdugo. Seit einigen Jahren arbeitet der Weltverband marokkanischer Juden aktiv an diesem hochgesteckten Ziel. Entscheidende Schritte zur Entschärfung des Nahostkonflikts hat auch der verstorbene König Hassan II. unternommen. 1976 empfing er den israelischen Regierungschef Jitzhak Rabin, zehn Jahre darauf den Ministerpräsidenten Shimon Peres. Diese Treffen trugen ihm damals schwere Vorwürfe seitens vieler arabischer Staaten ein.
Hassan II. versuchte auch seit Jahren, die nach Israel, Europa, Kanada und in die USA ausgewanderten jüdischen Landsleute zur Rückkehr, zumindest aber zu Investitionen in ihrer alten Heimat zu bewegen. Wie es scheint, war diesen Bemühungen allerdings kein großer Erfolg beschieden. Die Schwerfälligkeit und Ineffizienz der Verwaltung und die grassierende Korruption schreckten offenbar auch jüdische Investoren und Geldgeber ab. Zwar nehmen noch heute Jahr für Jahr jüdische Geschäftsleute, Anwälte und Professoren aus westlichen Ländern an den traditionellen Pilgerfahrten zu Ehren eines wundertätigen Rabbiners in Marokko teil. Doch zu größeren Investitionen in ihrer ehemaligen Heimat ließen sie sich nur selten bewegen. Der junge König, auf den sich im Moment alle Hoffnungen konzentrieren, hat es in der Hand, auch auf diesem Gebiet einen Durchbruch zu erzielen.
aus: der überblick 04/1999, Seite 64
AUTOR(EN):
Beat Stauffer:
Beat Stauffer ist freier Journalist mit dem Spezialgebiet Nordafrika und lebt in Basel (Schweiz). Er arbeitet für verschiedene Zeitungen und für den Schweizer Radiosender DRS.