Mexikos Gewerkschaften suchen nach einer neuen, selbstständigen Rolle
Die Gewerkschaften sind in Mexiko traditionell eng mit der regierenden Partei verflochten. Das macht sowohl ihre Stärke als auch ihre Schwäche aus: Die Regierung verschafft den Arbeitnehmern per Dekret gewisse Schutzrechte, verhindert aber zugleich, dass sie sich unabhängig organisieren und ihre Interessen vertreten. Doch dieses System ist nun, da die Staatspartei ihr Machtmonopol abgegeben hat, in der Krise. Und die Gewerkschaften sind sich nicht einig, welchen Ausweg sie nehmen sollen.
von Dorothea Goebel und Ludger Pries
Wie in einem Brennglas zeigten sich am Ersten Mai auf dem Zócalo, dem zentralen Platz in der Hauptstadt Mexikos, die Strukturprobleme der mexikanischen Gewerkschaften und vieler sozialer und politischer Bewegungen insgesamt. Denn der Erste Mai ist auch in Mexiko für Gewerkschaften und andere Organisationen der Arbeiter, Angestellten und kleinen Selbstständigen das wichtigste Datum, die eigene Politik und die Kräfteverhältnisse zu demonstrieren.
Dieses Jahr begann der Erste Mai auf dem Zócalo pünktlich um 9 Uhr morgens mit der Kundgebung der "offiziellen" Gewerkschaftsdachverbände, die dem Arbeitskongress (Congreso de Trabajo) angeschlossen sind. Die Veranstaltung in Anwesenheit des scheidenden Präsidenten Zedillo dauerte genau eine Stunde. Von den angekündigten 200.000 Teilnehmern fand sich nur etwa ein Zehntel ein. Viele von ihnen hatten nichts Eiligeres zu tun, als sich bei ihrem gewerkschaftlichen Vertrauensmann zu melden, um ihre Anwesenheit registrieren zu lassen und so einer möglichen Strafe in der Höhe von vielleicht einem oder zwei Tageslöhnen für Abwesenheit während einer angeordneten Gewerkschaftsaktion zu entgehen. Vertreten waren vor allem die Gewerkschaften der Petroleum- und der Eisenbahnarbeiter, eine bedingungslose Stütze des politischen und gewerkschaftlichen Systems.
Wie weit die Verunsicherung im Lager der offiziellen Gewerkschaften geht, zeigt sich daran, dass selbst Kernorganisationen des Arbeitskongresses wie der größte in die Staatspartei Partido Revolucionario Institucional (PRI, Partei der Institutionalisierten Revolution) integrierte Gewerkschaftsbund CTM, der ebenfalls dieser Partei nahe stehende nationale Gewerkschaftsbund CROC sowie der Gewerkschaftsbund der Staatsbediensteten nicht mit eigenen Fahnen und Transparenten auf dem Zócalo waren. So kurz vor den Präsidentschaftswahlen im Juli diesen Jahres können oder wollen sich diese Dachorganisationen nicht mehr umstandslos als Teil der Wahlkampfmaschine der PRI benutzen lassen.
Jahrzehntelang waren die Gewerkschaften der Logik des politischen Tausches gefolgt: Loyalität und Unterstützung für die Staatspartei gegen Teilhabe am vom Staat kontrollierten System der Arbeitsbeziehungen. Daher ist die Abwesenheit vieler Gewerkschaften und Gewerkschafter während der offiziellen Maikundgebung im Wahljahr vielleicht der untrüglichste Beweis dafür, dass sich große Veränderungen in den Beziehungen zwischen Staat, Arbeit und Kapital und damit auch im politischen System anbahnen. Jedenfalls war dieser Protest durch Gefolgschaftsverweigerung wesentlich markanter und dürfte die herrschenden politischen Kräfte mehr beunruhigen als die unterschiedlichen Demonstrationen, die gegen Mittag des Ersten Mai aus verschiedenen Richtungen auf dem Zócalo ankamen.
In jeder der vier Ecken des zentralen Platzes versammelten sich jeweils einige Tausend unabhängige und oppositionelle Gewerkschafter. Sie gehörten zu vier verschiedenen Verbänden: Zur Frente Auténtico del Trabajo (FAT), die schon 1960 aus linkskatholischen Kreisen entstanden ist; zur Coordinadora Intersindical Primero de Mayo, die aus dem nationalen Forum "Die Gewerkschaften angesichts der nationalen Krise" von 1995 hervorgegangen ist; zum 1997 entstandenen Bündnis Unión Nacional de Trabajadores (UNT), das unabhängige und offizielle Gewerkschaften einschließt; oder zum Movimiento Proletario Independiente um linksoppositionelle Kräfte und Stadtteilbewegungen. Die Tageszeitung La Jornada sprach am 2. Mai 2000 sarkastisch von "getrennten Miniversammlungen" auf dem Zócalo.
Mit diesen verschiedenen Veranstaltungen demonstrierten die reformorientierten, demokratischen und unabhängigen Gewerkschaftskräfte vor allem die Zersplitterung der gewerkschaftlichen Kräfte im Hinblick auf grundlegende strategische Fragen: Wie lassen sich angesichts der wirtschaftlichen Globalisierung und der nationalen Standortkonkurrenz bestimmte Mindeststandards von Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen erreichen, und zwar nicht nur für eine kleine Arbeiteraristokratie, sondern für die breite Masse der Lohnabhängigen? Wie können Gewerkschaften Unabhängigkeit vom Staat und gleichzeitig arbeits- und gewerkschaftspolitischen Einfluss gewinnen? Wie kann die innergewerkschaftliche Demokratie mit Mobilisierungs- und Durchsetzungsfähigkeit verbunden werden? Wie lässt sich für die Beschäftigten das Prinzip der Koalitionsfreiheit verwirklichen, ohne dass die gewerkschaftliche Organisationsmacht radikal schrumpft? Diese Fragen verweisen auf Strukturprobleme, die in der Entwicklung des Landes tief verwurzelt sind und für die es keine einfachen Lösungen gibt.
Die Gewerkschaften und die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Lohnabhängigen entwickelten sich in Mexiko, vor allem seit der Revolution, völlig anders als in Deutschland. Die Gewerkschaftsbewegung war zunächst, nicht zuletzt wegen der späteren und "abgeschnittenen" Industrialisierung, von ihrer sozialökonomischen Basis her schwach. Doch sie erhielt, als sich der autoritär-paternalistische Entwicklungsstaat herausbildete, darin ein vergleichsweise großes politisch-institutionelles Gewicht. Das ist schon in der Verfassung von 1917 verankert und wurde in den zwanziger Jahren im Arbeitsrecht im Einzelnen festgelegt. Da die Arbeiterschaft zu dieser Zeit im Verhältnis zur Landbevölkerung noch klein war – um die Jahrhundertwende waren in Mexiko etwas mehr als ein Zehntel der Erwerbstätigen im Industriesektor beschäftigt, in Deutschland waren es zur gleichen Zeit etwa ein Drittel -, war der Staat von Beginn an ein Garant und gleichzeitig auch ein Kontrolleur dieser weit reichenden Rechte. Das Arbeitsrecht sichert vor allem dem Bundes-Arbeitsministerium exzessive Kontroll- und Interventionsrechte. Es regelt die Aushandlung der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen nicht vorwiegend prozedural – also durch Normen darüber, wie die Beteiligten miteinander verhandeln und Konflikte austragen –, sondern sie werden vom Staat vorgegeben: Er definiert die sozialen Schutzrechte des Arbeitnehmers bis in die technischen Einzelheiten.
Das 1931 verabschiedete Bundesarbeitsgesetz schreibt etwa das Senioritätsprinzip (die Bevorzugung der früher Eingestellten) als Hauptkriterium für die Einstellung und Entlassung von Arbeitskräften fest, regelt die Entlohnung und schafft ein System eng definierter Schritte für den beruflichen Aufstieg. Dasselbe Gesetz regelt die Koalitionsrechte der Beschäftigten und damit die Arbeit der Gewerkschaften. Zwar wird allgemein die Koalitionsfreiheit der Arbeitnehmer betont, aber sie wird durch viele Einzelbestimmungen eingeschränkt. So sind Gewerkschaften nur dann tariffähig, wenn sie von den Behörden des Arbeitsministeriums offiziell registriert worden sind, und das kann bei unliebsamen Gewerkschaften viele Jahre dauern und mit einem abschlägigen Bescheid enden. Auch dürfen Arbeiter und Angestellte nicht der gleichen Gewerkschaft angehören. Die Beschäftigungsgruppe der sogenannten Vertrauensangestellten, zu denen die Unternehmen häufig sämtliche Angestellten ihrer Betriebe zählen, kann sich überhaupt nicht gewerkschaftlich organisieren. Weiter kann in einem Unternehmen nur eine Gewerkschaft die Arbeiter bzw. Angestellten vertreten, und dieses Vertretungsrecht bzw. -monopol muss sie sich durch eine offizielle Registrierung bei einer Arbeitsbehörde sichern.
Das Arbeitsrecht regelt auch, dass die allgemeinen Tarifverträge landesweit einheitlich in zweijährigem Rhythmus neu ausgehandelt werden; seit 1976 finden wegen der hohen Inflation in den Jahren dazwischen einmal reine Lohnverhandlungen statt. Arbeitskämpfe und Streiks werden vom Arbeitsministerium nur als legal anerkannt, wenn bestimmte Verfahrensregeln wie die fristgerechte Hinterlegung des gewerkschaftlichen Forderungskatalogs und das Ausschöpfen aller Verhandlungsmöglichkeiten minutiös eingehalten wurden und sie politisch opportun sind.
Das Arbeitsrecht billigt ausdrücklich die in fast allen Tarifverträgen enthaltene Bestimmung, dass Unternehmen nur Arbeitnehmer einstellen dürfen, die Mitglied der für den Betrieb registrierten Gewerkschaft sind. Dies sichert der jeweils in einem Unternehmen tätigen Gewerkschaft nicht nur ein absolutes Vertretungsmonopol, sondern automatisch auch ein Vorschlagsrecht für alle neu einzustellenden Arbeitnehmer. Tatsächlich werden neue Beschäftigte in den Unternehmen, in denen es Gewerkschaften gibt, auf der Grundlage von Vorschlagslisten eingestellt, die die Gewerkschaft dem Unternehmen unterbreitet. Darüber hinaus gibt eine in den Tarifverträgen verankerte Klausel der Gewerkschaft das Recht, vom Unternehmen die Auflösung eines Arbeitsvertrages zu verlangen, wenn der betreffende Arbeitnehmer aus der Gewerkschaft ausgeschlossen worden ist oder sie verlassen will.
Solche Bestimmungen geben den jeweils als tariffähig anerkannten Gewerkschaften eine relativ starke Position – sowohl gegenüber den Unternehmen als auch gegenüber ihren Mitgliedern. Doch ihre Stärke und Durchsetzungsfähigkeit hängt mehr von ihrer Einbindung ins politische System und ihren Interventionschancen dort ab als von ihrer Legitimation gegenüber den Gewerkschaftsmitgliedern und ihrer Mobilisierungsfähigkeit gegenüber den Unternehmerverbänden.
Die drei wichtigsten Gewerkschaftsverbände für den Arbeiterbereich, die in diesem System mitspielen, sind die CROM (Confederación Regional Obrera Mexicana, gegründet 1918) mit rund 400.000 Mitgliedern, die CTM (Confederación de Trabajadores de México, gegründet 1936) mit rund 2 Millionen und die CROC (Confederación Revolucionaria de Obreros y Campesinos, gegründet 1952) mit etwa 850.000 Mitgliedern. Alle drei gehören dem Arbeitskongress an, der 1966 unter Federführung des Staates gegründet wurde. Sie werden als offiziell bezeichnet, weil sie in den Arbeitersektor der quasi-ständisch gegliederten Staatspartei PRI integriert sind. Das heißt die Arbeiter, die einer Gewerkschaft angehören – und das müssen sie ja wegen der Eintrittsklausel -, sind traditionell über die Dachverbände CTM, CROM oder CROC auch unmittelbar Mitglieder der Staatspartei PRI. Allerdings sind nach dem 1996 von allen Parteien einmütig reformierten Wahlgesetz nur noch individuelle Parteimitgliedschaften erlaubt, keine korporativen mehr. Zwar hat die Staatspartei PRI noch im September 1996 auf ihrem XVII. Parteikongress bestätigt, dass alle CTM-Angehörigen automatisch Mitglieder der PRI sind. Sie kann damit aber kaum den Erosionsprozess des offiziellen Blocks aufhalten.
Im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Ländern war diese traditionelle korporatistisch-staatsautoritäre Regulierung der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen bis in die neunziger Jahre erstaunlich stabil – auch während der wirtschaftlichen und politischen Turbulenzen zur Zeit der neoliberalen Öffnungspolitik, der Privatisierung von Staatsunternehmen und der politischer Demokratisierung. Entgegen mehrfacher Ankündigungen seitens der letzten drei Staatspräsidenten ist zum Beispiel das Arbeitsgesetz bis heute unverändert geblieben. Und trotz des Wachstums von unabhängigen Gewerkschaftskräften sind die offiziellen Gewerkschaftsorganisationen bisher nicht zusammengebrochen. Warum?
Der wohl wichtigste Grund dürfte in der traditionell engen Verzahnung der Gewerkschaften mit dem politischen System liegen. Schon während der siebziger Jahre war – besonders in modernen Wirtschaftssektoren wie der Automobilindustrie – der Druck in Richtung grundlegender Änderungen im Regime der Arbeitsbeziehungen angewachsen. Es fiel den traditionellen Gewerkschaften immer schwerer, die Probleme und Konflikte in den Arbeitsbeziehungen auf die althergebrachte Art und Weise, also vor allem "von oben" und "außerhalb der Betriebe", in der politischen Sphäre zwischen Betrieb und Staat, zu lösen. Es entstand eine neue basisdemokratische Gewerkschaftsbewegung, die zusammen mit kritisch-demokratischen Strömungen in traditionellen Gewerkschaften des parastaatlichen Bereichs (etwa Telefon und Elektrizitätsversorgung) und einem Teil der Lehrergewerkschaften das traditionelle System der offiziellen Gewerkschaften zu sprengen drohte.
Die Wirtschaftskrisen von 1982, 1985-86 und 1994 veränderten dann allerdings für alle Beteiligten – den Staat, die Industrieunternehmen, die offiziellen Gewerkschaften und die neuen unabhängigen oder demokratischen Gewerkschaftskräfte – das Panorama. Seit der Regierung von Miguel de La Madrid (1982-88) verfolgte der Staat wirtschaftspolitisch einen neuen, neoliberalen Kurs. Gleichzeitig aber wurde arbeitspolitisch die tradierte autoritäre Intervention in die Arbeitsbeziehungen und die Symbiose zwischen offiziellen Gewerkschaften und PRI weitergeführt. Allerdings verloren die offiziellen Gewerkschaften bei den Arbeitnehmern in dem Maße an Legitimität, wie sie nicht mehr eine angemessene Beteiligung der Beschäftigten an der ökonomischen Entwicklung garantieren konnten. Nicht zuletzt durch strikte staatliche Kontrollen über die Lohnerhöhungsraten verschlechterte sich das Realeinkommen der Arbeitnehmer in den letzten 15 Jahren um mehr als 60 Prozent – eine für frühindustrialisierte Länder unvorstellbare Größenordnung.
Alle bis heute von der Staatspartei PRI gestellten Regierungen haben versucht, die offiziellen Gewerkschaften in ihre neoliberale Restrukturierungspolitik einzubinden und gegen unabhängige Gewerkschaftskräfte zu verteidigen. Nur Salinas de Gortari hat zum Ende seiner Regierungszeit die offiziellen Gewerkschaften unter enormen Veränderungsdruck gesetzt, indem er unabhängige Gewerkschaftskräfte förderte, die nicht dem Arbeitskongress angehörten – jedoch nur für kurze Zeit. Das Überleben des tradierten offiziellen Gewerkschaftssystems war so mit dem Überleben des überlieferten politischen Einparteiensystems aufs engste verwoben.
Dies konnte nicht verhindern, dass vor allem in der sechsjährigen Regierungszeit Ernesto Zedillos unabhängige und basisdemokratische Gewerkschaftskräfte innerhalb und außerhalb des Arbeitskongresses ihren Einfluss systematisch ausbauen konnten. Vor dem Hintergrund der sogenannten Tequila-Krise von Ende 1994 (damals zogen Anleger massenhaft kurzfristiges Geld aus Staatsanleihen zurück, der Wechselkurs brach ein, und die Wirtschaft stürzte in eine Krise; Anm. d. Red.) und der politischen Schwächung der Staatspartei am Ende der Regierungszeit von Salinas de Gortari entwickelte sich seit Februar 1995 auf nationaler Ebene ein gewerkschaftliches Forum (Foro El Sindicalismo ante la Nación), welches zum ersten Mal in der mexikanischen Geschichte in beachtlichem Ausmaß offizielle und unabhängige Gewerkschaften zusammenführte. Das Forum vereinte etwa zehn wichtige nationale, dem Arbeitskongress angehörende Dachverbände und etwa fünfzehn kleinere inoffizielle Vereinigungen und Gewerkschaften. Wesentliche Programmpunkte der Foristas waren die Unabhängigkeit der Gewerkschaften vom Staat und von den Unternehmern, die Förderung der innergewerkschaftlichen Demokratie sowie die Beteiligung der Gewerkschaften an der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung des Landes.
Die Gewerkschaftskräfte des Foro beteiligten sich bereits 1995 als deutlich sichtbare Oppositionskraft an der Erster-Mai-Demonstration. Sie gewannen erheblich an Einfluss, als die offiziellen Gewerkschaften des Arbeitskongresses Anfang 1996 beschlossen, nach einer dreißigjährigen Tradition zum ersten Mal auf einen eigenen Demonstrationszug am Ersten Mai zum Zócalo zu verzichten. Für die offiziellen Gewerkschaften war dies zunächst eine Art Protest gegen die Regierung. Die Aufmärsche hatten regelmäßig die Verbundenheit der offiziellen Arbeiterbewegung mit der Regierung und der PRI demonstriert, und nun sollte ein solches Defilee vor dem Staatspräsidenten verweigert werden. Dagegen bestanden die dem Foro angeschlossenen Gewerkschaften und andere linke unabhängige Kräfte darauf, am Ersten Mai der Regierung den geballten Protest der Arbeitnehmer gegen die Regierungspolitik zu demonstrieren. Auf diese Weise wurde der Aufmarsch 1996 zu einem Erfolg der Foristas. Die offiziellen Gewerkschaften hatten mit ihrer Entscheidung, nicht zu demonstrieren, einerseits einen taktischen Fehler begangen, weil sie so das Feld den kritisch-demokratischen Kräften innerhalb und außerhalb des Arbeitskongresses überlassen hatten. Andererseits zeigte diese Entscheidung auch das strategische Dilemma der offiziellen Gewerkschaften: Nicht zu marschieren bedeutete für sie, dem Staat und der Regierung die Gefolgschaft zu verweigern – aber gleichzeitig auch, anderen sozialen Gruppen das Gesetz des Handelns zu überlassen.
Die Frage nach dem Verhältnis zum Arbeitskongress durchzog die weiteren Debatten im Forum. Mehrheitlich tendierten die angeschlossenen Verbände zunächst dazu, eine eigene gewerkschaftliche Zentrale zu gründen. Diese Position vertraten vor allem die in der Intergewerkschaftlichen Bewegung Erster Mai (Movimiento Intersindical Primero de Mayo) zusammengeschlossenen Kräften. Eine für den Juli 1997 angesetzte "Nationale Versammlung des Proletariats", auf der die neue Zentrale gegründet werden sollte, konnte aber wegen Meinungsverschiedenheiten – vor allem über die Haltung gegenüber dem Arbeitskongress – nicht stattfinden. Ende November 1997 wurde dann die Unión Nacional de Trabajadores (UNT) gegründet, die sich mehrheitlich für eine Beeinflussung des Arbeitskongresses und gegen die Bildung eines zweiten nationalen Dachverbandes aussprach.
Die Mitgliederzahl aller dem Arbeitskongress angeschlossenen Gewerkschaften dürfte etwa sieben bis acht Millionen betragen, die UNT und Primero Mayo vereinigen zusammen zwischen ein bis drei Millionen Gewerkschafter (sowohl die staatlich-offiziellen als auch die von Verbänden selbst angegebenen Zahlen sind mit Vorsicht zu gebrauchen!). Dies zeigt, dass in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre die reformorientierten und unabhängigen Gewerkschaftskräfte eigenständiges Gewicht gewonnen haben. Aber die offiziellen Gewerkschaften des Arbeitskongresses haben nach wie vor den größeren Einfluss.
Die tiefe interne Zersplitterung der mexikanischen Gewerkschaften in Gefolgsleute der PRI-Hierarchie und Reformkräfte, die selbst wiederum von links-militanten Organisationen bis hinein in die offiziellen Gewerkschaftsverbände reichen, wurde am Ersten Mai 2000 augenfällig. Hierin zeigt sich sehr deutlich die Auflösung des alten gewerkschaftlichen und gleichzeitig des alten politischen Systems. Die Gewerkschaften sind für die Transformation des politischen Systems zwar eine treibende, aber keine richtungweisende Kraft – dafür sind sie zu zersplittert. Der Kampf um die unabhängig-demokratische Restrukturierung der Gewerkschaften in Mexiko ist, wie Hector de la Cueva im Mai in der Zeitung La Jornada formulierte, "gegenwärtig auf Eis gelegt, alle warten auf die Entscheidung vom Juli, um der Bewegung dann vielleicht wieder mehr Entschiedenheit zu geben".
Das macht die enge Verzahnung von gewerkschaftlicher und politischer Modernisierung deutlich. Die Zukunft der Gewerkschaften und des Regimes der Arbeitsbeziehungen wird einerseits ganz entscheidend vom Ausgang der Präsidentschaftswahlen abhängen, also davon, ob die Staatspartei PRI weiterhin die Regierung stellen wird oder nicht. Und vermutlich werden die gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer bei diesen Präsidentschaftswahlen heterogener als je zuvor abstimmen.
Aber andererseits ist die Zukunft des Systems der Arbeitsbeziehungen in Mexiko auch unabhängig vom politischen Ausgang der Wahlen noch relativ offen. Politische Reformen sind eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für Reformen auf diesem Gebiet. Erst die nächsten Jahre werden zeigen, unter welchen politischen Rahmenbedingungen welche strategischen Lösungen für Fragen wie die folgenden gefunden werden:
Welche Rolle wird der Staat in den Arbeitsbeziehungen spielen? Wird er sich auf eine Nachtwächterfunktion zurückziehen oder eine moderne wohlfahrtsstaatliche Lösung anstreben? Werden sich im Unternehmerlager diejenigen Kräfte durchsetzen, die Gewerkschaften und die kollektive Regulierung der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen für eine vorübergehende Erscheinung des 19. und 20. Jahrhunderts halten, oder gibt es auch auf Seiten des Kapitals eine hinreichende Basis für ein wie immer ausgestaltetes wohlfahrtstaatliches System? Wie stellen sich die Gewerkschaften zukünftig zur Modernisierung der Produktion? Wie können bestimmte Mindeststandards von Arbeitsbedingungen und Beschäftigung für die Mehrheit der Erwerbstätigen erreicht werden? Werden sich die Gewerkschaften gegenüber anderen benachteiligten Bevölkerungsgruppen öffnen oder abschließen? Wird das Prinzip der Zwangsmitgliedschaft in einer Gewerkschaft aufgegeben? Werden verschiedene Gewerkschaften gleichzeitig in einem Betrieb tätig sein können?
Der Ausgang der Präsidentschaftswahlen im Juli wird keine dieser Fragen unmittelbar beantworten. Er wird aber die neue politische Kräftekonstellation mitbestimmen, innerhalb derer die unaufhaltsame politische Modernisierung Mexikos Gestalt annehmen wird. Keine politische oder gewerkschaftliche Kraft hat zur Zeit eine schlüssige Gesamtantwort. Teillösungen werden sowohl Teil wie Ergebnis des Wandels im politischen System sein. Klar scheint gegenwärtig nur eines: Ein Zurück zum alten autoritär-paternalistischen System der Arbeitsbeziehungen ist mehr als unwahrscheinlich.
Literatur Rainer Dombois und Ludger Pries: Arbeitsbeziehungen zwischen Markt und Staat. Neue Arbeitsregimes im Transformationsprozess Lateinamerikas; Münster 1999. Rainer Dombois, Peter Imbusch, Hans-Joachim Lauth und Peter Thiery (Hrsg.): Neoliberalismus und Arbeitsbeziehungen in La-teinamerika; Frankfurt a.M. 1997. Hans-Joachim Lauth: Mexiko zwischen traditioneller Herrschaft und
Modernisierung. Die Gewerkschaften im Wandel von Politik und Wirtschaft (1964-1988); Münster und Hamburg 1991. aus: der überblick 02/2000, Seite 30
AUTOR(EN):
Dorothea Goebel und Ludger Pries:
Dorothea Goebel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Organisationssoziologie und Mitbestimmungsforschung der Ruhr-Universität Bochum und arbeitet unter anderem zu Migration und Transnationalisierung. Professor Ludger Pries leitet dieses Institut. Er forschte und lehrte unter anderem in Mexiko, Brasilien, Spanien und den USA.