Zum Tod von Dr. Wolfram Kistner
Den "stillen Revolutionär" hat Peter Storey, ehemaliger Präsident des Südafrikanischen Kirchenrats (SACC), ihn einmal genannt - Wolfram Kistner, deutschstämmiger lutherischer Pastor und viele Jahre lang Direktor der Abteilung Gerechtigkeit und Versöhnung im SACC, ist am 4. Dezember letzten Jahres in Johannesburg gestorben.
von Gisela Albrecht
Er war ein Mensch, in dessen Gegenwart einem bewusst wurde, was es heißen könnte, ein Christ zu sein, wollte man nur mit dem Glauben ernst machen. Wenn er in den Zeiten der Apartheid bei eisiger Kälte Nachtwache hielt im Kreis der Menschen, die sich voll Angst vor der ihnen angekündigten Zwangsumsiedlung im Freien versammelt hatten, wenn er ihnen im Morgengrauen, mit einer Decke um die Schultern, die Andacht hielt, mit ihnen betete und ihnen Trost zusprach, dann leuchtete etwas auf, das unwiderstehlich zu der Hoffnung einlud, Christen könnten die eschatologische Dimension ihres Glaubens ein Stück weit schon in dieser Welt sichtbar machen, würden sie sich, so kompromisslos wie er, auf den Weg der Nachfolge machen.
Auch heute, nach seinem Tod, fällt es schwer, von diesem Menschen zu erzählen, ohne dass es wie eine Heiligen-Legende klingt.
Als Sohn eines Hermannsburger Missionars in Südafrika, war er von Kindheit an geprägt von zwei Welten - ein Mensch zwischen Afrika und Europa, zwischen Deutschland und Südafrika, zwischen zwei Ländern, die eine verheerende Geschichte von Rassenideologie und Diskriminierung teilen.
Viele Jahre hindurch war Wolfram Kistner für die Kirchen beider Länder hin- und hergehender Bote, mit Nachrichten aus dem Polizeistaat Südafrika, Nachrichten über Passgesetze, Zwangsumsiedlungen, Verhaftungen, Folter und Tod, Nachrichten auch über die eskalierende Konfrontation zwischen Kirche und Staat.
Für die Evangelische Kirche in Deutschland war er gewissermaßen Vermittler und Dolmetscher dessen, was in Südafrika geschah, einer, dessen schonungslose Analyse der Situation Herausforderung war an die ökumenische Gemeinschaft zu solidarischem Handeln. Und für den Südafrikanischen Kirchenrat war er die Brücke zu den Lehren aus der deutschen Vergangenheit, zur Bekennenden Kirche und ihrem Kampf, bei dem es, wie in Südafrika, nicht nur um den Konflikt mit dem Staat ging, sondern auch um den rechten Glauben der Kirche, um Bekenntnis, Häresie und status confessionis.
Lehrer, Schulleiter, Universitätsdozent und Direktor der Abteilung für Gerechtigkeit und Versöhnung im SACC - das waren die Berufsbezeichnungen seiner so gewichtigen Ämter, Kistner selbst aber hat sich stets nur als Lernender verstanden, bis ganz zuletzt, und die Lehrer, die er sich suchte, waren die Opfer staatlicher Gewalt, "die Verdammten dieser Erde", die Menschen in Armut und Elend, die ohne Stimme, die Verfolgten und Vertriebenen und Heimatlosen.
Diese Lehrer waren es, die in den Jahren des Kampfes gegen Apartheid aus dem lutherischen Pastor, der aufgewachsen war in der frommen, konservativ-pietistischen Tradition der Hermannsburger Mission, einen der einflussreichsten und profiliertesten Theologen des südafrikanischen Widerstands machten. Und einen der radikalsten. Aber diese Radikalität obwohl im Kontext des südafrikanischen Systems von immenser politischer Sprengkraft war nicht politisch begründet. Wolfram Kistner war kein politischer Theologe, auch kein Freiheitskämpfer im landläufigen Sinn, seine Radikalität war die Radikalität des Evangeliums, das allein Richtschnur und Grund für sein Reden und Handeln war. Es war die Freiheit, von der die biblische Botschaft spricht, um die es ihm ging, die "revolutionäre" Freiheit, in die er alle mit einschloss, auch den Gegner und Feind: "Unsere Losung 'dein ist die Macht' hilft uns, die unausweichliche Konfrontation zu führen auch für die Befreiung des Feindes." Dass dieses Hineinnehmen des Feindes in die Versöhnung nicht nur ein in Kistners Texten oft wiederholter zentraler Grundsatz seines theologischen Denkens, sondern mitten in seiner Existenz beheimatet war, wird jeder, der ihn gekannt hat, erlebt haben.
Wenn ich zurückdenke an meine Begegnungen mit Dr. K. - so haben wir ihn damals alle genannt -, dann sind mir vor allem die vielen Fahrten mit ihm im Gedächtnis. Er fuhr weite Strecken, oft zur fast noch nächtlichen Stunde, um zu den Menschen zu kommen, die in Not waren. Und er nahm uns, die von draußen kamen, mit auf diese Fahrten, um uns sehen zu lassen, was geschah.
Ich erinnere mich besonders an eine Fahrt mit ihm zur Township Bophelong, südwestlich von Johannesburg gelegen. Das war im April 1986. Es war ein regnerischer, dunkler Sonntagnachmittag. Dr. K. hatte einen dringend klingenden Anruf bekommen; er kannte den Anrufer nicht, aber es war klar geworden, dass er um Hilfe bat. Er und seine comrades seien eingeschlossen von Polizei, hatte er gesagt, es werde geschossen. Einer von ihnen sei verletzt. Es war eine etwas verworrene hastige Wegbeschreibung gefolgt, dann war das Gespräch abgebrochen. Es war die Zeit, in der Dr. Kistner regelmäßig nächtliche Drohanrufe bekam. Ihm sei klar, dass dies eine Falle sein könne, sagte er in seiner leisen, nachdenklichen Art, aber vielleicht werde wirklich Hilfe gebraucht, er müsse hinfahren, ob ich mitkommen könnte.
Es war schon fast dunkel, als wir nach Bophelong kamen. Die Wegbeschreibung am Telefon war unklar gewesen; wir wussten nur, dass das Haus, das wir suchten, direkt hinter der Kirche lag. Wir irrten lange umher. Es war eine Szenerie wie mitten im Krieg. Überall Casspirs diese gepanzerten Militärwagen, die Straßen waren geisterhaft leer, nur brennende Autoreifen und aufgetürmte Steinbarrikaden. Man konnte die Gesichter der Soldaten in den Casspirs nicht sehen, nur die Silhouetten ihrer Waffen und Helme. Ich hatte das Gefühl, an einer Kriegsfront zu sein, und die Schatten der Soldaten in den Casspirs, das war - an dieses Gefühl erinnere ich mich - das war der Feind.
Aber Dr. Kistner stieg aus und ging auf sie zu, vorbei an den Barrikaden und den brennenden Reifen rechts und links. Er ging vollkommen ruhig, ganz gerade aufgerichtet auf die Militärwagen zu. Ich weiß nicht, ob er keine Angst hatte, aber es war klar, dass er die Soldaten nicht, wie ich das getan hatte, als Feinde betrachtete. Ich konnte beobachten, wie er das theologische Reden darüber, dass uns die biblische Botschaft von Feindbildern befreit, in diese Situation hineintrug, es wahr machte, und wie sich die Situation dadurch veränderte.
Als wir das gesuchte Haus schließlich fanden, war die Lage des Verwundeten bedrohlich. Es war klar, dass er dringend ärztliche Hilfe brauchte, aber ihn ins Krankenhaus zu bringen war nicht möglich, sagte man uns. Er würde verhaftet werden; jeder mit einer Schusswunde gelte als Terrorist. Es blieb nichts anderes übrig, als Hilfe von außen herein zu holen. Einer der comrades begleitete uns, um uns an den Polizeikontrollen vorbei zu schleusen und nach draußen zu bringen.
Wir gerieten trotzdem in eine Straßensperre. Wieder blieb Dr. K. gelassen, gab mit seiner leisen, langsamen Art Auskunft auf jede Frage, ohne Feindseligkeit, und wieder war es, als verändere er die Situation; der Ton der Beamten normalisierte sich, die Situation wurde entspannter.
Als sie dem jungen Mann in unserer Begleitung befahlen, in eines der Polizeiautos zu steigen, wandte sich Dr. K. zu ihm. Als verabschiede er sich von einem langjährigen Freund, als gäbe es keine schwer bewaffneten Polizeibeamten um uns herum, versicherte er ihm, er könne sich verlassen darauf, nicht allein gelassen zu sein; er werde dem Kirchenrat berichten und auch der Presse, werde ausländische Botschaften und Solidaritätsgruppen informieren von seiner Verhaftung, und ein Anwalt werde mit seiner Betreuung beauftragt. Dann zog Dr. Kistner ruhig seinen Mantel aus und legte ihn dem zitternden Mann um die Schultern.
Erst viel später - als der Mann wieder frei und der Mantel zurückgegeben war - ging mir durch den Kopf, wie merkwürdig es gewesen war, dass sich die Leute mit ihrem Hilferuf zuallererst an Dr. K. gewandt hatten, der doch kein Arzt war, ihnen unmittelbar eigentlich gar nicht helfen konnte. Presence communication - hatte man mir einmal in Südafrika erzählt, so nennen Afrikaner es, wenn einer bei einem Menschen ausharrt, der in Not ist. presence communication, das war es, was Dr. Kistner diesen Menschen in Bophelong an jenem Tag, als sie buchstäblich in der Falle saßen, gegeben hatte.
In den letzten Tagen vor seinem Tod haben ihm viele Menschen diese presence communication zurückgegeben. Sie saßen in seiner Wohnung oder im Garten, viele jeden Tag neu, oft schweigend, nur um in seiner Nähe zu sein und um ihm und seiner Familie ihre Nähe zu geben.
aus: der überblick 01/2007, Seite 152
AUTOR(EN):
Gisela Albrecht
Gisela Albrecht hat Literatur, Philosophie und Theologie studiert und sich als Journalistin auf Südafrika
spezialisiert. Ihr gemeinsam mit Angela Mai gedrehter Dokumentarfilm "Memories of Rain"
über zwei südafrikanische Widerstandskämpfer war auf Festivals in aller Welt zu sehen.