Die Türkin Vildane Abdelatif arbeitet als Bestatterin in Hamburg
Unweit des Hamburger Hauptbahnhofs, wenige Schritte entfernt von Gemüseläden und einer Moschee, arbeitet Vildane Abdelatif, geborene Uludag. "Uludag - Bestattungen" steht - in Deutsch und Türkisch - auf grünem Hintergrund. An der Tür baumelt ein Schildchen: "Tag und Nacht erreichbar", darunter die Handynummer. Kein Sarg steht in der Auslage. Hier gibt es Tücher, Kaftans, Halsketten, Messingdosen und die traditionellen Kopfbedeckungen für Männer. Über all dem hängt - als Bild gerahmt - der Koran, 110 Euro soll er kosten.
von Renate Giesler
Hinter dem Verkaufsraum, nur durch eine Glastür getrennt, sitzt die Bestatterin am Computer. Sie blickt vom Bildschirm auf, und bittet um etwas Geduld. "Dies Schreiben muss so rasch wie möglich zum Konsulat." In der islamischen Kultur ist es wichtig, dass die Beisetzung möglichst schnell erfolgt. "Die Angehörigen kommen sonst nicht zur Ruhe".
Sechs Stühle stehen aufgereiht unter dem dunkelroten Wandteppich. In ihrer Filiale im Hamburger Stadtteil Hamm hat sie doppelt so viele stehen. Vildane Abdelatif hat bewusst weniger hingestellt. "Normalerweise kommen die Angehörigen im Dutzend, das ist Tradition. Keiner will fehlen, wenn die Details der Überführung und Beerdigung besprochen werden." Dann steigt der Lärmpegel an, und Vildane Abdelatif kommt in der Sache nicht weiter. Dabei eilt es doch. Im Normalfall erledigt sie innerhalb von sechs bis acht Stunden die Überführung. Selten - in drei von zehn Fällen - organisiert sie eine Beerdigung auf den großen Hamburger Friedhöfen Ohlsdorf oder Öjendorf. Beide haben extra Felder für Muslime eingerichtet und bieten Räume für die rituelle Waschung. "Tritt der Tod am Wochenende ein, so ist die Überführung noch immer der schnellere Weg." Ihre Stimme verrät, dass es mitunter Stress gibt. "Die Friedhofsverwaltung erreiche ich frühestens am Montag und einen Termin bekomme ich erst Tage später." Dagegen gibt es täglich Flüge in die Türkei; und in den Maschinen haben die Zinksärge stets Vorrang vor Koffern und Kisten. In Istanbul oder Ankara holen Kooperationsfirmen oder aber Verwandte den Sarg ab. Der Beruf des Bestatters ist neu in der Türkei.
Den Toten in der Türkei zu beerdigen und in Deutschland zu trauern, das ist für sie kein Widerspruch: "Die Seele des Verstorbenen ist überall." Türken trauern anders als Deutsche. Wenn Angehörige zum Gespräch in ihr Büro kommen, rufen sie den Schmerz laut heraus, klagen, weinen und preisen, wie gütig oder klug der Tote gewesen ist. Auch sind Trauernde befreit von lästigen Alltagspflichten; Freunde und Nachbarn kochen in der Zeit und leisten Beistand. Mund-zu-Mund-Propaganda sorgt dafür, dass die Nachricht vom Tod umgehend verbreitet wird. Karten werden nicht verschickt, das würde wieder zu lange dauern. Üblich ist, dass sich Familien und Freunde mehrmals treffen, um gemeinsam zu trauern und im Koran zu lesen - so auch am siebten Tag nach dem Tod des Angehörigen.
Die schlanke und energische Kauffrau und Betriebswirtin ist zur Zeit eine der ganz wenigen, wenn nicht gar die einzige islamische Bestatterin in Deutschland. Kann sie sich durchsetzen, wird sie akzeptiert? Sie blickt irritiert - und antwortet dann selbstbewusst: "Was nützt der stärkste Mann, wenn er im Todesfall nicht behilflich sein kann. Sensibilität und Mitgefühl sind wichtig - und vor allem Ehrlichkeit." Sie nickt, als sie von den Erfahrungen zweier deutscher Bestatterinnen in Mainz hört, die gezielt Migranten ihre Dienste anboten, keine Resonanz hatten und nun vermuten, dass sie keine Chance haben, weil sie Frauen sind. Mit Bedacht wählt sie die Worte: "Ich wollte es nicht ansprechen, es könnte arrogant wirken, aber es ist im Todesfall sehr schwierig mit unseren türkischen Landsleuten. Selbst wenn sie im Alltag keine gläubigen Moslems sind, im Angesicht des Todes bekennen sie sich zur Religion und Kultur." Weder Christen noch Atheisten sollen sich um die rituelle Waschung und die weiteren Schritte kümmern.
Und was ist, wenn ein Muslim stirbt, die Witwe aber eine deutsche Christin ist? "Es ist uns bislang immer gelungen, unseren Teil der Bestattung nach alten Regeln durchzuführen und den Teil, den die deutsche Ehefrau wünscht, auch zu ermöglichen. Und zwar aus Respekt für die christliche Kultur."
Dass ein Toter rasch beerdigt werden muss, ist nur eine von vielen Vorschriften, die eine islamische Beerdigung von einer christlichen unterscheidet: Muslime dürfen nicht neben Christen beerdigt werden. Eine Einäscherung ist ihnen nicht gestattet. Und bei einer Neubelegung der Grabstätte nach 20 Jahren ist es untersagt, die Gebeine des zuvor Bestatteten aus dem Grab zu entfernen. Es ist darauf zu achten, den Kopf des Toten immer nach Westen, die Füße nach Osten zu betten. Traditionell werden alle, auch der Staatspräsident, in Leichentücher gewickelt und nicht im Sarg beerdigt. Damit die Erde nicht direkt auf den Körper fällt, wird auf den Leichnam ein Holzbrett gelegt. "So einfach wie eben möglich", nennt die Seiteneinsteigerin in der von Männern dominierten Branche eine weitere Regel. Blumenschmuck ist nicht verboten, aber auch nicht erwünscht. Das ist Verschwendung. "Man soll nichts von dieser Welt mitnehmen, weder Ring noch Wertgegenstände", ihre Stimme klingt entschieden, "vor Gott sind wir alle gleich."
Vor der Einwanderung muslimischer Arbeitnehmer und ihrer Familien waren islamische Bestattungen und Friedhöfe eine Seltenheit in Deutschland. Heute haben nahezu alle größeren Städte auf gemeindeeigenen Friedhöfen geschlossene Sektionen für Muslime reserviert - oder wie in Berlin, separate islamische Friedhöfe eingerichtet. In Öjendorf und Ohlsdorf, auf Friedhöfen in Aachen und Essen ist auch erlaubt, die Toten in den traditionellen Leichentüchern - ohne Sarg - zu Grabe zu legen. Friedhofssatzungen und Verordnungen werden den gesellschaftlichen Realitäten angepasst. In Berlin werden bereits zehn Prozent der verstorbenen Türken in dortiger Erde bestattet. Auf dem Ohlsdorfer Friedhof, dem größten Parkfriedhof der Welt, gab es im letzten Jahr auf den Grabfeldern für Muslime 115 Beisetzungen, fünf Jahre zuvor waren es 70. "Ich selbst möchte in der Türkei beerdigt werden. Meine Familie hat schon ein Grab gekauft für 10 bis 15 Personen."
In einem kleinen Ort am Schwarzen Meer kam sie 1964 zur Welt. Sie war acht, als ihre Eltern nach Deutschland gingen. Fast ohne Sprachkenntnisse ging sie in Hamburg zur Realschule, das war hart. Sie gab nicht auf, machte das Fachabitur und lernte Groß- und Außenhandelskaufmann, wurde Fremdsprachenkorrespondentin und studierte dann noch Betriebswirtschaft. Hamburg ist ihr Zuhause geworden. In zweiter Ehe ist sie mit einem Zahnarzt verheiratet, einem Algerier. Er unterstützt sie im Geschäft und kümmert sich um die beiden Kinder.
Die Idee zur Geschäftsgründung kam von ihrem Vater. Jahrelang hatte er in der Pathologie von Krankenhäusern gearbeitet, hatte Ahnung vom Bestattungsgewerbe. Sie musste lediglich zur Gesundheitsbehörde, ehe sie 1997 das erste Beerdigungshaus für Muslime in ganz Norddeutschland eröffnen konnte. Bis dahin wurden islamische Bestatter aus Süddeutschland gerufen - und wertvolle Zeit ging verloren.
"Deutschen Bestattern fehlt mitunter das Verständnis für die Wichtigkeit dessen, was gefordert wird - und es gibt Verständigungsprobleme: "In einer emotional aufgewühlten Situation drückt man sich lieber in der Muttersprache aus." Und nicht jeder spricht gut Deutsch. Sie erkannte die Marktlücke: Schätzungsweise eine halbe Million Migranten ist 60 Jahre und älter. In den nächsten Jahren wird sich diese Zahl noch verdoppeln. Von den knapp zwei Millionen Türken, die heute in Deutschland leben, bekennen sich 96 Prozent zum sunnitischen Islam. Längst kommen nicht nur Türken, auch Muslime aus dem Iran, Afghanistan und aus Nordafrika wenden sich an das islamische Beerdigungsinstitut Uludag. Und die Tochter des Namensgebers wird als Geschäftsfrau respektiert - ob mit oder ohne Kopftuch. Sie trägt es heute, weil sie sich reif genug fühlt für den Glauben und offen zu ihrer Religion bekennt.
In den ersten Jahren als Bestatterin hat Vildane Abdelatif fast alles allein gemacht: Mit den Angehörigen gesprochen, den Verstorbenen im Krankenhaus abgeholt, sich - wenn es sich um Frauen handelte - um die rituelle Waschung gekümmert, die Papiere für den Zoll und die Luftfracht fertig gemacht und den Angehörigen ermöglicht, dass das Gebet stattfinden kann. Sie ist zum Flughafen gefahren mit dem Sarg, manchmal fünf Mal die Woche. Heute hat sie einen Mitarbeiter, auch ihr Mann packt mit an. Doch das Geschäft ist hart und die Konkurrenz nimmt zu. "Türken handeln gern - selbst bei einer Beerdigung wird noch versucht, den Preis zu drücken." Wenn es ihr zu weit geht, dann setzt sie selbstbewusst Grenzen.
Sie blickt auf die Uhr, ihre Kinder warten. "In den letzten Tagen habe ich sie etwas vernachlässigt", gesteht sie. Ständig war sie unterwegs, am Montag ein Todesfall in Lübeck, am Mittwoch einer in Lüneburg - zwei verschiedene Bundesländer und entsprechende Wege. Und was baut sie auf? "Es ist der Dank der Angehörigen, die keinen Übersetzter mehr brauchen und froh sind, dass ich mich um all die Formalitäten kümmere."
Beim Gang über die islamischen Felder auf dem Parkfriedhof Öjendorf bleibt sie immer wieder an Grabsteinen stehen, in die in türkischer oder arabischer Schrift Namen und Suren eingraviert sind. "Das Kind habe ich bestattet", Trauer schwingt mit, " die Familie auch - sie ist verbrannt." Sie seufzt, zeigt zu einer Stelle, die üppig mit Stiefmütterchen bepflanzt ist und sagt kaum hörbar: "Ein junger Mann, ich kenne die Familie gut." Grabsteine, Blumen - sie bemerkt den kritischen Blick, und ihr Gesicht erhellt sich für einen Moment. "In der Türkei legen wir oft nur einen Stein an die Stelle, wo der Kopf des Toten liegt, mehr nicht. In der Fremde passen wir uns an. Die Deutschen haben beides, Blumen und Grabsteine - da möchte der eine oder andere von uns seinem Verstorbenen auch ein Denkmal setzen."
aus: der überblick 02/2003, Seite 35
AUTOR(EN):
Renate Giesler:
Renate Giesler ist Sozialwissenschaftlerin und arbeitet alsfreie Journalistin in Hamburg.