Aktuelle Veränderungsprozesse: Strukturdiskussion oder heimliche Strukturanpassung?
Motivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, seien sie ehrenamtlich oder hauptamtlich tätig, sind in der (kirchlichen) Entwicklungsarbeit noch immer ein entscheidendes "Kapital". Vielfach läuft der Bereich jedoch Gefahr, durch eine steigende Bürokratisierung und durch hierarchisch geführte Strukturwandlungsprozesse dieses "Kapital" leichtfertig zu verspielen.
von Gottfried Mernyi
In den vergangenen Jahrzehnten wurde vom "offiziellen" Österreich nur allzu gerne der selbstgewählte Mythos von einer "Insel der Seligen" gepflegt. Nicht erst durch die Sanktionen der EU-14 nach dem Antritt der schwarz-blauen Regierungskoalition vor einem Jahr wurde diese "Schrebergarten-Mentalität" in Frage gestellt.
Auch im Rahmen der Evangelischen Kirche in Österreich (die gemeinsame Repräsentanz von Lutheranern und Reformierten) haben sich — von wenigen Ausnahmen abgesehen — die ökumenischen Außenbeziehungen und das internationale Engagement eher provinziell entwickelt. Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte bei der Gestaltung der offiziell wahrgenommen Weltverantwortung lässt sich mit wenigen Schlagworten skizzieren:
Nach einem beginnenden Aufbruch in den sechziger Jahren kam es Anfang der siebziger Jahre zu massiven innerkirchlichen Auseinandersetzungen. Es ging damals um die österreichische Unterstützung des internationalen Programms zur Bekämpfung von Rassismus des Ökumenischen Rates der Kirchen. Diese Auseinandersetzungen führten letztlich nicht nur zu einem deutlichen Einbruch der Aktivitäten in den Bereichen Weltmission, Entwicklungsarbeit und weltweite Ökumene, sondern auch zur ersatzlosen Auflösung der 1968 entstandenen Arbeitsgemeinschaft Dienst für die Welt sowie des zuständigen Synodenausschusses für Äußere Mission.
Die daraufhin mit bescheidenen landeskirchlichen Mitteln und beinahe ausschließlich ehrenamtlich getragenen Arbeitszweige bekamen mit den — durch das Wohlwollen der Kirchenleitung verstärkt nach Österreich expandierenden — evangelikal geprägten Missionsgemeinschaften und Missionsgesellschaften neue Mitbewerber, unter anderem die Wycliff-Bibelübersetzer und die Liebenzeller Mission Österreich.
Erst Ende der achtziger Jahre wurde von der Katastrophenhilfe des Diakonischen Werkes in Österreich, der Aktion Brot für Hungernde in der Evangelischen Frauenarbeit und dem Evangelischen Arbeitskreis für Weltmission (EAWM) wieder ein Versuch unternommen, die offiziellen kirchlichen Gremien schrittweise mehr in die Anliegen der kirchlichen Entwicklungsarbeit einzubinden. Gemeinsam formierte man die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Entwicklungszusammenarbeit als informelle Plattform — noch ohne eigene Rechtspersönlichkeit. So konnte 1994 eine verbindliche kirchliche Partnerschaft zwischen der Evangelischen Kirche in Österreich und der Presbyterian Church of Ghana ins Leben gerufen werden.
Letztendlich auf Grund der von den evangelischen Landeskirchen in Deutschland ausgehenden Debatte über Prognosen zur Mitgliederentwicklung und der daraus abgeleiteten zukünftigen Einnahmensituation der Kirche erreichte die aktuelle Welle der Strukturdiskussionen vor rund vier Jahren auch die erwähnte "Insel der Seligen". (In Österreich gibt es keine Kirchensteuern, sondern einen von jedem Kirchenmitglied selbst zu entrichtenden Kirchenbeitrag.)
Im Bereich der katholischen Kirche — des mit Abstand größten privaten österreichischen Trägers für Entwicklungshilfe — starteten beinahe gleichzeitig umfangreiche Strukturdiskussionen und - veränderungen. Auch die in der Schweiz laufenden Prozesse rund um die Schaffung eines gemeinsamen Vorstandes der Evangelischen Hilfswerke und Missionen (EHM) und die Gründung des Missionswerkes Mission 21 wurden in Österreich aufgrund der traditionell engen Beziehungen zur Basler Mission aufmerksam wahrgenommen. Durch persönliche Gespräche mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von AGKED, EZE und den einzelnen Missionswerken in Deutschland sowie auch durch die Publikationen wie der überblick und epd Entwicklungspolitik wurde schließlich die Strukturdiskussion rund um die Schaffung des Evangelischen Entwicklungsdienstes (EED) mit einigem Interesse aufgenommen.
In Österreich selbst gewann 1999 die ähnlich gelagerte Diskussion eine bemerkenswerte Schärfe: So wurde durch den Direktor der Diakonie Österreich dem Evangelischen Oberkirchenrat ein kurzfristiges Übernahmeangebot unterbreitet, die Aktion Brot für Hungernde und den Evangelischen Arbeitskreis für Weltmission in die Diakonie einzugliedern. Auf die Weigerung beider Einrichtungen hin, ihre Eigenständigkeit aufzugeben, reagierten die kirchenleitenden Organen mit der Anordnung einer bei einem Management-Consulting-Unternehmen in Auftrag gegebenen Betriebsanalyse.
Für die Anliegen kirchlicher Entwicklungsarbeit ist es letztlich erfreulich, dass es nach der folgenden monatelangen intensiven Diskussion schließlich doch gelungen ist, von allen Beteiligten gemeinsam getragene Entscheidungen zu treffen: So konnte im März 2001 der Evangelische Arbeitskreis für Entwicklungszusammenarbeit (EAEZ) als gemeinsam getragener Dachverband seine Arbeit aufnehmen, der die Arbeit der einzelnen organisatorisch eigenständigen Mitglieder koordinieren und fördern soll. Die Evangelische Kirche unterstützt jetzt diesen Schritt durch die Anerkennung als evangelisch-kirchliche Rechtspersönlichkeit und durch die Zuerkennung eines bescheidenen Basisbudgets. Bereits im Januar hat sich ein neuer Ausschuss der Generalsynode der Evangelischen Kirche (Lutheraner und Reformierte) für "Entwicklungszusammenarbeit und Weltmission" konstituiert.
Folgende aus dieser Strukturdebatte und aus der Beobachtung aller zuvor genannten Strukturprozesse gewonnenen Einsichten und Lernerfahrungen scheinen für das Nachdenken über eine Weiterentwicklung (kirchlicher) Entwicklungsarbeit wichtig:
Es steht außer Streit, dass die Tatsache tendenziell sinkender kirchlicher Mittel nicht ignoriert werden kann und auch kreativer, organisch wachsender Veränderungen bedarf. Jedoch auch in den Kirchen in Europa sollte gelten, was rund 40 Jahre an Erfahrung bei der Implementierung von Programmen und Projekten in den Partnerkirchen und Partnerorganisationen im Süden gezeigt haben: Trotz bester Rahmenbedingungen und Strukturen erfüllen dort diese Projekte zumeist nur dann die in sie gesetzten hohen Erwartungen, wenn möglichst viele Akteurinnen und Akteure von der Wichtigkeit, Sinnhaftigkeit und Zukunftsperspektive des Vorhabens überzeugt werden können.
Motivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, seien sie ehrenamtlich oder hauptamtlich tätig, sind in der (kirchlichen) Entwicklungsarbeit noch immer ein entscheidendes "Kapital".
Vielfach läuft der Bereich jedoch Gefahr, durch eine steigende Bürokratisierung und durch hierarchisch geführte Strukturwandlungsprozesse dieses "Kapital" leichtfertig zu verspielen. Eine Abnahme der Zahl kompetenter und erfahrener Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie eine inhaltliche "Ausdünnung" sind die Folge. Eine bedenkliche Tendenz für die Zukunft kirchlicher Entwicklungsarbeit angesichts einer globalisierten und alle internationalen Beziehungen dominierenden Finanzwirtschaft bei einer gleichzeitig in Kirche, Medien und Politik sinkenden Aufnahmebereitschaft für die Anliegen für Entwicklungszusammenarbeit.
Insbesondere die Kofinanzierungspolitik der Öffentlichen Hand im Bereich der vom DAC (Developement Assistance Committee) der OECD als "bilaterale technische Hilfe" definierten "klassischen Entwicklungshilfe" zielt immer mehr darauf ab, weniger Projekte (dafür mit größerem Projektvolumen) von wenigen großen Akteuren zu fördern.
Was sich gegenüber den europäischen Steuerzahlern trefflich als effektiver Mitteleinsatz durch weniger Bürokratie verkaufen lässt, hat den (geplanten?) Nebeneffekt, politisch berechenbarere und weniger basisverbundene Akteure der Zivilgesellschaft als Auftragnehmerinnen und Auftragnehmer für die Durchführung von Entwicklungsprogrammen zu erhalten.
Es bleibt daher abzuwarten, ob es den europaweit neu entstehenden Strukturen wirklich gelingt, sowohl in der medialen Öffentlichkeit als auch bei den politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern ein stärkeres Gewicht zu erhalten, als es die einzelnen Organisationen bisher hatten. Wer also für mehr "Effizienz" in der Entwicklungsarbeit plädiert, muss sich die Frage gefallen lassen, ob die von ihm/ihr gesetzten Schritte tatsächlich vorrangig den bedürftigen Menschen im Süden zugute kommen beziehungsweise zu einer Stärkung der dortigen Partnerinnen und Partner führen.
Es ist ein Rückschritt in die Zeit des Kolonialismus, wenn die Meinung wiederbelebt wird, dass über erfolgreichere Strukturen und Marketingstrategien für die Mittelaufbringung zur gemeinsamen Arbeit ausschließlich hier bei uns im Norden entschieden werden kann. Eine wichtige Grundvoraussetzung für eine authentische Vermittlung der gemeinsamen Anliegen wäre hingegen die Bereitschaft zu einer — oftmals bei den Projektpartnerinnen und -partnern eingeforderten — Transparenz und zu einem allfälligen Diskurs unter Einbeziehung der Partnerinstitutionen im Süden. Dies nicht nur um einen Identifikationsverlust oder gar einen Bruch der gegenseitigen Vertrauensbasis zu riskieren, sondern letztlich auch in der Gewissheit um den gemeinsamen Auftrag, eben "Kirche für Andere" (Dietrich Bonhoeffer) zu sein.
aus: der überblick 02/2001, Seite 108
AUTOR(EN):
Gottfried Mernyi:
Gottfried Mernyi ist Mitarbeiter im Evangelischen Arbeitskreis für Weltmission (EAWM) in Österreich.