Ein unterstützter Suizid
Eine düstere Bilanz, die “afrikanische Renaissance” nur Schönfärberei, die Lage des Kontinents hoffnungslos? Afrika hat derzeit keine Zukunft, weil es sich in einem blutigen Identitätswahn selbst tötet.
von Stephen Smith
Warum Afrika stirbt ... Das ist nun die einzige Frage, die bleibt, die einzige, die zählt, lebenswichtig für die Afrikaner, grundlegend für die anderen, zumindest für diejenigen, die immer noch versuchen, diesen Kontinent, dieses “Ubuland” ohne Grenzen, Schauplatz von Massakern und Hungersnöten, Grabstätte aller Hoffnungen, zu verstehen. Mehr als vierzig Jahre nach der Unabhängigkeit der meisten Staaten, ein gutes Jahrhundert nach der kolonialen Eroberung, die zeitlich mit dem tatsächlichen Ende des Sklavenhandels zusammenfiel, gibt es keine Ausflüchte, keine ätiologischen Mythen mehr, keine Verschleierung der wirklichen Ursachen.
Warum stirbt Afrika? Zum großen Teil, weil es sich selbst umbringt. Es ist, als bohrten die Menschen an Bord einer Piroge (traditionelles Segelschiff), die bereits von den Sturmwogen eines durch die Globalisierung aufgewühlten Meeres erfasst ist, unablässig Löcher in den Rumpf ihres leichten Bootes, anstatt zu paddeln, um Festland zu erreichen.
1997 betitelte der französische Fotograf und Filmemacher Raymond Depardon, ein bewährter Freund des Kontinents, einen Dokumentarfilm: “Afriques: comment ça va avec la douleur ?” (Afrika: wie geht es dir mit dem Leid?). Es geht schlecht, sehr schlecht. Afrika liegt im Sterben, was auch immer die unverbesserlichen Optimisten in den Sonderdossiers über “Afrikas Weg aus der Krise” einmal pro Jahr während der Nachrichtenflauten sagen mögen. Natürlich gibt es Überlebende, Inseln des Wohlstands in einem Ozean des Elends. Natürlich werden die Afrikaner auf lange Sicht trotz Konflikte ohne erkennbare Strukturen, trotz HIV/Aids und der Bedenkenlosigkeit ihrer Machthaber ihren Weg gehen. Aber auf lange Sicht werden wir - wie der Wirtschaftswissenschaftler John Maynard Keynes richtig bemerkte - alle tot sein.
Trotz der mildernden Umstände, die ihm zuerkannt werden können, ist Afro-Optimismus ein Verbrechen an der Information. Man hat weder die Wahl noch das Recht. Man darf die Nachrichten aus dem Kontinent nicht nach Gutdünken, aus Sentimentalität oder Sensationsgier schönen oder schwärzen. Die Nachrichten aus Afrika sind insgesamt niederschmetternd. Heute ist der einzige real existierende Panafrikanismus der des Schmerzes, der Leiden. Im Elend wurzelt auch die “identitäre Illusion” (wie Jean-François Bayart es nennt), die darin besteht, von Afrika - einem durch große Vielfalt gekennzeichneten Kontinent - als Einheit zu sprechen. Afrika im Singular könnte es nur dann als Abstraktum nach dem Muster Europas geben, wenn der Kontinent südlich der Sahara nicht in zahlreichen Katastrophen versunken, von vielerlei Nöten heimgesucht, Opfer seiner selbst wäre. Von diesem “schwarzen” Afrika ist hier die Rede, dem “Bauch” zwischen Nord- und Südafrika, der Region zwischen dem Wendekreis des Krebses und dem des Steinbocks, der einzigen weltweit, die seit einer Generation Rückschritte macht, in der die Lebenserwartung sinkt.
Drei Beispiele seien genannt: die Krise in Côte d’Ivoire, die Hungersnot in Äthiopien, der Krieg in der Demokratischen Republik Kongo. In Côte d’Ivoire, dem Schlaraffenland von Kaffee und Kakao, ist ein ehemaliger Premierminister, Alassane Ouattara, wegen seiner “zweifelhaften Nationalität” daran gehindert worden, bei den Wahlen zu kandidieren. Die Angelegenheit artet zu einem Streit um die Ivoirité aus, Zuwanderer aus dem Sahel werden im Südwesten des Landes von den Plantagen vertrieben. Es gibt die ersten Toten.
Dann, am 24. Dezember 1999, führt eine Meuterei wegen ausstehender Soldzahlungen zu einem Staatsstreich, dem ersten seit der Unabhängigkeit, gefolgt vom “Komplott des weißen Pferdes” und vom “Komplott des schwarzen Mercedes”. Man reibt sich die Augen. In der Nacht vom 19. September 2002 fordern Kampfhandlungen in Abidjan etwa 300 Todesopfer, im Norden des Landes kommt es zu Aufständen. Côte d’Ivoire versinkt in Gewalt. Laurent Gbagbo, dem ivorischen Präsidenten sozialistischer Couleur, wird vorgeworfen, “Todesschwadronen” einzusetzen, um den inneren Feind aus dem Weg zu räumen, Aufständische, die in Wirklichkeit aus dem benachbarten Burkina Faso gekommen sind.
Frankreich greift ein, um sie aufzuhalten. Alle am Konflikt beteiligten Parteien - Regierung, Rebellen und Opposition - treffen sich schließlich in Marcoussis bei Paris, wo sie ein Friedensabkommen verhandeln. Sobald dieses Abkommen am 24. Januar 2003 in Anwesenheit des Generalsekretärs der Vereinten Nationen Kofi Annan unterzeichnet ist, wird in Abidjan alles, was französisch ist - vom Kulturzentrum über Schulen bis hin zur Botschaft - angegriffen, geplündert oder niedergebrannt. Im Westen von Côte d’Ivoire werben Regierungsarmee und Rebellen liberianische “Kämpfer” an. Übergriffe auf die Zivilbevölkerung nehmen zu. Bis die französische Armee und westafrikanische Friedenssoldaten mit einem Mandat zur Friedenserzwingung eingreifen, um im Westen für Sicherheit zu sorgen.
Hier schließlich glaubt man, den Film, die Ereigniskette zu verstehen. Als am 25. Mai 2003 diese als “neutrale Kräfte” bezeichneten ausländischen Truppen in Goulaleu einmarschieren, einem der gepeinigten Orte, dem sie zu Hilfe kommen sollen, erwartet sie an der Mauer eines ausgebrannten Hauses die Aufschrift: “Hier gibt es niemanden mehr zu töten!”.
Zweites Beispiel: eine gute Sache in Afrika. Am 2. Juni 2003, während in Evian, Frankreich, ein Gipfel der Industrieländer stattfindet, ist Bob Geldof in Äthiopien. Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren kehrt der irische Sänger der Musikgruppe Boomtown Rats, der unter dem Banner der Band Aid viele Rockstars um sich scharte, in das Land zurück, das er im Dezember 1984 vor dem Hunger retten wollte. “Wir brauchen einen Marshall-Plan”, erklärt er der französischen Tageszeitung Libération am Telefon. “Südlich von Europa, auf der anderen Seite des Mittelmeers, ist ein ganzer Kontinent am Kippen. Hier bin ich wieder, mitten unter Menschen, die Leiden durchmachen, schlimmer noch als in den achtziger Jahren. Und die Europäische Union (EU) reagiert - im Gegensatz zu den USA - nicht. Die Nahrungsmittelhilfe, die von der EU zugesagt wurde, um die sich abzeichnende Hungersnot in Grenzen zu halten, ist nicht angekommen. Ich habe in dieser Woche zu viele Babys gesehen, die an Mangelernährung oder Aids sterben. Ich will das nicht mehr sehen.”
Die Geschichte wiederholt sich. Zwanzig Jahre, nachdem er sich über verhungernde Kinder entrüstete, ohne die Verbindung herzustellen mit der Zwangsvertreibung von Bevölkerungsgruppen durch die damaligen äthiopischen Machthaber, gegen die allein “Ärzte ohne Grenzen” protestierte - was die Ausweisung der Organisation aus dem Land zur Folge hatte -, führt Sir Bob, mittlerweile in den Adelsstand erhoben, erneut einen Medienfeldzug gegen eine Hungersnot, die er für biblisch hält. “Er fand sehr starke Worte, um über das Leid, das er sah, zu sprechen, aber die Worte beschrieben letztendlich sein eigenes Leid, seine eigenen Gefühle, stellten seine eigene Seelengröße heraus und zeichneten nur ein äußerst verzerrtes Bild dessen, was sich in Wirklichkeit abspielte”, erinnert sich der ehemalige Präsident von “Ärzte ohne Grenzen” Rony Brauman. “Während man diese bewegende Erfolgsstory internationaler Wohltätigkeit per Satellitenübertragung vor zwei Milliarden Fernsehzuschauern feierte, waren die Deportationen in vollem Gange.”
Zwei Jahrzehnte später sagt Bob Geldof auf einer Werbetour für UNICEF, das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, kein Wort über den ebenso mörderischen wie kostspieligen Krieg, den Äthiopien und Eritrea von 1998 bis 2000 um ein paar Morgen Ödland, an der gemeinsamen Grenze führten. Er sagt auch nichts über die Diktatur in Addis Abeba, über die humanitäre Hilfe, die das Regime Jahr für Jahr einzuholen sucht. Gewiss, Bob Geldof kommt nicht oft und schließlich ist er Sänger. Aber warum schlägt er dann die karitative Trommel für UNICEF?
In Eritrea, auf der anderen Seite der von den beiden bettelarmen Staaten am Horn von Afrika umstrittenen Grenze, beschränkt sich ein Journalist der New York Times darauf, seinen Job zu machen. Am Tag vor dem Gipfel der G8 in Evian, der eine “Neue Partnerschaft für Afrikas Entwicklung” (Nepad) beschließen soll, veröffentlicht Nicholas Kristof am 27. Mai 2003 einen Artikel über den “afrikanischen Holocaust”: What Did You Do During the African Holocaust? (“Was habt Ihr während des afrikanischen Holocausts getan?”). Er erinnert daran, dass Asmara Mitte der neunziger Jahre als eine der Hauptstädte der “afrikanischen Renaissance” galt. Wie in anderen zu Staatschefs avancierten Rebellenführern sah man in dem eritreischen Präsidenten Isaias Afewerki damals einen der starken Männer eines “anderen Afrika”, meilenweit entfernt vom Afrika der “Dinosaurier” an der Macht, wie etwa des Gnassingbé Eyadéma in Togo, des Omar Bongo in Gabun oder des Daniel arap Moi in Kenya.
Hillary Clinton war sogar nach Eritrea gekommen, um den Puls eines “Afrikas, das bereit ist, sein Schicksal in eigene Hände zu nehmen” zu fühlen. Sieben Jahre später, zu Füßen des Denkmals für den “Befreiungskrieg” in Asmara - ein Paar riesiger Sandalen auf einem Granitsockel - prangert der amerikanische Journalist an, was er vorfindet: eine “erbärmliche kriminelle Diktatur”, die “ihr Volk aushungert”, das zu einem Drittel vom Hungertod bedroht ist.
Drittes Beispiel: ein afrikanisches Land im Krieg, die Demokratische Republik Kongo. Für ein paar Tonnen Gold, Kassiterit und Coltan, jenem Erz, das seit den neunziger Jahren einen unvorstellbaren Preisboom erlebt, weil es für Mikroprozessoren und Mobiltelefone verwendet wird, wurde der Osten Kongos zum offenen Schlachtfeld. Drei Berichte einer Expertengruppe der Vereinten Nationen in Folge dokumentierten diesen “Jahrhundertraub” - Ruanda richtete mit den Einkünften aus dem Export kongolesischer Rohstoffe einen revolvierenden Fonds von zehn Millionen US-Dollar ein - und die Verbindung zu General Salim Saleh, dem jüngeren Halbbruder des ugandischen Präsidenten Yoweri Museveni.
Weder letzterer, früher mit dem schmeichelhaften Namen “Bismarck der Großen Seen” bedacht, noch sein ehemaliger Verbündeter und heutiger Rivale, der ruandische Präsident General Paul Kagame, mussten sich für ihre Taten vor der internationalen Gemeinschaft verantworten. Im Gegenteil, diese subventioniert die Regimes mit großzügiger Entwicklungshilfe. Uganda, Verbündeter der USA in der Region, galt lange Zeit als Musterschüler des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank. In Ruanda leistet die Welt Wiedergutmachung dafür, dass sie der Tutsi-Minderheit, die 1994 Opfer eines Genozids mit mehr als einer halben Million Toten wurde, nicht zu Hilfe kam. “Nie wieder”, schwor man sich - einmal mehr - am Sitz der Vereinten Nationen und in den westlichen Hauptstädten.
Die räuberischen Nachbarstaaten des Kongo - neben Ruanda und Uganda auch Simbabwe, Namibia und Angola - konnten so ihr Beuteland ungestraft zerfleischen. Von August 1998 bis Ende 2002 haben nach Angaben der amerikanischen nichtstaatlichen Organisation International Rescue Committee Krieg, Epidemien und Hunger im ehemaligen Zaire 3,3 Millionen Menschenleben gefordert. Nach - wiederum grob geschätzten - 50.000 Toten in Ituri, der östlichen Grenzprovinz zu Ruanda und Uganda, in den letzten viereinhalb Jahren, führte das Massaker an über 400 Zivilisten in Bunia, der Hauptstadt der Ituri-Region, im Mai 2003 zum Eingreifen einer internationalen Truppe unter französischem Kommando. In drei Monaten sollte diese Task Force die Hauptstadt von Ituri, im Herzen einer Hügellandschaft mit Bananen-, Kaffee- und Teeplantagen, Avocado- und Papayafeldern, befrieden. Dieses Paradies auf Erden hat viele andere Bunias, deren Namen sicher nie auf einer westlichen Generalstabskarte zu finden sein werden: zum Beispiel Drodro, Nyakunde oder Blukwa.
Gemeinsam ist diesen Orten, dass sie Schauplätze von Massakern waren, dass an einem einzigen Tag weit über 300 Zivilisten - Männer, Frauen und Kinder - mit Macheten niedergemetzelt wurden. Die Pygmäen - seit jeher geringgeschätzt und verdächtigt, rivalisierenden bewaffneten Gruppen als Führer im Äquatorialwald zu dienen - werden in besonderem Maß verfolgt und Opfer kannibalischer Handlungen. “Der Kannibalismus diente als gezieltes Mittel der Kriegsführung”, schließt ein Untersuchungsbericht der Vereinten Nationen im August 2003 auf der Basis von rund 500 Augenzeugenberichten in der Region. “Der Verzehr von Herz und Leber der Pygmäen kann als reiner Fetischismus betrachtet werden, der den Tätern die Fähigkeit der Opfer zu jagen und im Dschungel zu überleben verleiht. Dass manche Familien gezwungen wurden, Körperteile ihrer getöteten Verwandten zu essen, ist dagegen als Teil einer psychologischen Folterstrategie zu sehen.”
Um es brutal zu sagen: Seit der Unabhängigkeit scheint Afrika an seiner Rekolonialisierung zu arbeiten. Zumindest würde es, wenn dies das Ziel wäre, nicht anders vorgehen. Allein, der Kontinent scheitert auch in dieser Hinsicht. Es gibt keine Interessenten mehr.
Nun geht es nicht darum, zu polemisieren oder Afrika zusätzlich zu belasten. Aber es ist an der Zeit, einer doppelten Heuchelei ein Ende zu setzen: der des Westens, der aus Gründen historischer Schuld oder feigen Desinteresses den Afrikanern nicht die Wahrheit sagt, obwohl er weiß, dass sie mit ihrer kollektiven Selbstzerstörung aufhören müssen; und der der Afrikaner, die sich ihrer hausgemachten Probleme sehr wohl bewusst sind, aber jede radikale Kritik zurückweisen, um die regelmäßigen Alimente aus dem Schuldgefühl des Westens nicht zu verlieren, und dabei auf ihre “Würde des schwarzen Menschen” pochen und damit ebenso rassistische Kategorien verwenden wie einst die Kolonisten.
Vielleicht hat in der Vergangenheit das Pharisäertum der einen wie der anderen niemanden getötet. Heute jedoch ist es tödlich. Die “Zeit des Unglücks”, von der der kamerunische Historiker und Sozialwissenschaftler Achille Mbembé spricht, einer der wenigen Intellektuellen des Kontinents, der die Katastrophe beim Namen nennt, ist “eine Zeit, in der Macht und Existenz auf der Ebene der Animalität verstanden und ausgeübt werden”. Soweit sind wir gekommen, dass Afrikaner einander in Massen morden, einander - man möge uns verzeihen! - sogar “auffressen”.
Die 3,3 Millionen Toten in der Demokratischen Republik Kongo folgen auf 200.000 Hutus, die von Oktober 1996 bis Mai 1997 im Dschungel des ehemaligen Zaire zu Tode kamen, auf rund 800.000 Opfer des Völkermords in Ruanda 1994, auf bis zu 300.000 Opfer eines “schleichenden Genozids” an Hutus in Burundi, auf 300.000 Opfer von Hunger und Gewalt in Somalia - seit ein Land ohne Staat -, auf mindestens ebenso viele Tote in einer Dekade der Menschenopfer in Liberia wie auch in Sierra Leone.
Diese Todesbilanz allein der letzten zehn Jahre ist bei weitem nicht vollständig. Wie viele Opfer gab es in der Casamance (Südsenegal), in der Republik Kongo (Brazzaville ), wo Hunderttausende verängstigter Menschen lange Monate im Wald lebten und sich von Wurzeln und Wildbeeren ernährten? Und wie viele Tote seit September 2002 in Côte d’Ivoire? Kann man angesichts dieser Bilanz, die auch ein Plädoyer gegen das unerschütterlich gute Gewissen des Westens (“weder Einmischung noch Gleichgültigkeit”) ist, die (Selbst-) Lüge noch aufrechterhalten?
aus: der überblick 01/2004, Seite 99
AUTOR(EN):
Stephen Smith:
Der französische Journalist Stephen Smith zieht nach zwanzig Jahren Tätigkeit als Korrespondent in Afrika - zuletzt für die Tageszeitung "Le Monde" - eine düstere Bilanz. Dieser Artikel ist eine vom Autor aktualisierte und überarbeite Fassung eines Auszugs aus seinem neuesten Buch "Négrologie", die wir mit freundlicher Genehmigung des Verlags Calmann-Lévy, Paris, abdrucken.