Die kleinen Textilbetriebe in Surat konkurrieren erfolgreich mit Indiens großen Textilfabriken
Die kleineren, wendigen Firmen in Surat und anderen Zentren der Weberei in Indien haben sich besser an schnell verändernde Textilmärkte und Kundenwünsche angepasst als die großen zentralisierten Fabriken. Gelungen ist das dank der Kontaktnetze zwischen Händlern und Produzenten, die weitgehend mit mündlichen Abmachungen arbeiten und sich staatlichen Regeln entziehen. Die Kehrseite dieses Erfolgs sind schlechte Arbeitsbedingungen und sehr niedrige Löhne.
von Garrett Menning
Ein Neuankömmling braucht in der Stadt Surat nicht lange, um zu entdecken, was die Wirtschaft dieses indischen Industriezentrums antreibt. Die Straßen sind verstopft mit Heerscharen von Arbeitern und einer verwirrenden Vielfalt von Fahrzeugen - Fahrräder, Motorroller, motorisierte Dreiräder, schwerfällige Dieseltrucks, hin und wieder sogar ein von Pferden gezogener Wagen. Sie transportieren Stoffballen, Spindeln mit knallbuntem Garn, mit Farbstoff gefüllte Behälter und Ersatzteile für Textilmaschinen. Um sie herum bewegt sich ein rastloser Strom von Büroangestellten mit Aktentaschen und einfach gekleideten Arbeitern auf ihrem Weg zu und von Surats vielen kleinen Webereien. Der Besucher kommt in keinem Teil der Stadt weit, ohne das Surren der Webmaschinen zu hören - sei es in einer der neueren Fabriken, die in den außerhalb gelegenen Industriegebieten entstanden sind, oder in den Erdgeschossen der Häuser der schmalen Altstadtgassen. Diese heterogenen Weberei-Einheiten beherbergen zwischen einer Hand voll und hundert oder mehr Webmaschinen und sind das Rückgrat der florierenden synthetischen Textilindustrie Surats. Sie bilden das Herz eines komplexen, dezentralisierten Netzwerkes aus Zwischenhändlern und kleinen, typischerweise von Familien betriebenen Firmen, die sich auf die Produktion und den Vertrieb von dem spezialisiert haben, was vor Ort als "Kunstseide" bekannt ist - eine Sammelbezeichnung für eine Reihe von synthetischen Stoffen.
Surat ist eines der größten unter mehreren schnell wachsenden Textilzentren in den benachbarten indischen Bundesstaaten Gujarat und Maharashtra. Andere Städte, nämlich Bhiwandi, Ichalkaranji und Malegaon, sind ebenfalls von der Expansion der indischen Webmaschinen-Industrie begünstigt worden und wie Surat in das Rennen gegen Indiens großen, zentralisierten Textilfabrik-Sektor um einen Anteil am Textilmarkt eingestiegen. Es ist ein Rennen, das die Zentren der Weberei klar gewinnen werden. Der Webereisektor profitiert von einem flexiblen System der Produktion und Kapitalbildung sowie der relativen Freiheit von belastenden staatlichen Vorschriften und Schwierigkeiten mit der organisierten Arbeiterschaft, die den großen Textilbetrieben zugesetzt haben. Die kleineren, wendigen Firmen in Surat und anderen Zentren der Weberei haben neue Technologien und Materialien erfolgreicher übernommen und sich besser an schnell verändernde Märkte und Kundenwünsche angepasst als die großen zentralisierten Fabriken.
Die Art des flexiblen Produktions- und Vertriebssystems, für das Surat steht, ist in seinen wesentlichen Grundzügen dem sehr ähnlich, was heute in Ländern auf der ganzen Welt zu finden ist. Unter Management-Experten und Wissenschaftlern sind derzeit schlanke Herstellungsstrukturen, Subunternehmertum und dezentralisierte Produktion beliebt. Die sind auch für die Wirtschaft Surats typisch, ebenso wie für die Norditaliens oder des Silicon Valley in den USA.
Trotz dieser Parallelen ist es allerdings unwahrscheinlich, dass Analytiker aktueller Trends der Weltwirtschaft die Textilindustrie Surats überhaupt erwähnen. Die konzentrieren sich eher auf neuere Industriezweige mit wesentlich höheren Gewinnspannen und besser entwickelten Technologien. Um die neuesten Entwicklungen zu analysieren, schauen diese Experten eher auf die industriell fortschrittlichsten Volkswirtschaften Europas und Nordamerikas und haben nur gelegentlich einen Blick übrig für einige der schneller wachsenden Wirtschaftsräume in Ost- und Südost-Asien. Manchmal lassen sie sich jedoch von ihren eigenen Modellen täuschen. Vereinfachende Gegensätze wie die zwischen der "Ersten" und der "Dritten" Welt verdecken zum Beispiel oft wichtige grundlegende Gemeinsamkeiten, die in den Geschäftspraktiken und Wirtschaftsstrukturen sowohl reicher als auch armer Länder der globalen Ökonomie zu finden sind.
Surats Weberei-Industrie ist ein treffliches Beispiel. Die wichtigsten Vorteile, die lokale Unternehmer nutzen, sind billige Arbeitskräfte und einfache, preiswerte, technisch unkomplizierte Herstellungsprozesse. Deshalb hat Surat nichts von dem Glanz vorzuweisen, der den technologisierten und wissensbasierten Hochlohn-Industrien anhaftet, die man in reicheren Staaten findet. Die meisten Unternehmer Surats arbeiten in trostlos aussehenden Fabriken und kleinen, nicht gerade attraktiven Familienfirmen, die sich überwiegend in schmutzigen, verstopften Straßen drängen. Selbst wer hinter die grauen Fabrikmauern und eintönigen Ladenfronten blickt, wird kaum beeindruckt sein. Die Webmaschinen sind nämlich ziemlich klein. Das erlaubt vielen Unternehmern, sechs oder zehn von ihnen im Erdgeschoss ihrer Häuser unterzubringen. Die Maschinen sind häufig alte und dreckige, manchmal notdürftig hergerichtete Modelle, die aus zweiter Hand gekauft wurden. Die Weber stellen Stoffe wie Viskose oder Polyester her, mäßig in Preis und Qualität und vor allem für den Markt der indischen Verbraucher mit niedrigem und mittlerem Einkommen bestimmt.
Die Geschäftsbeziehungen zwischen den Unternehmern und das Verhältnis zwischen Arbeiterschaft und Management in Surat unterscheiden sich ebenfalls sehr von den formalisierteren Geschäftsmilieus westlicher Länder. Viele der einheimischen Unternehmen sind aufgrund ihrer geringen Größe nicht staatlich erfasst und entziehen sich so effektiv den Kontrollen oder der Aufsicht des Staates. Manager mit Berufsausbildung gibt es kaum, und formelle Verträge werden selten abgeschlossen. Statt dessen kommen lokale Händler und Produzenten auf der Basis von ausschließlich mündlichen Vereinbarungen ins Geschäft und verlassen sich - wie sie es seit Jahrhunderten tun - fest auf Netzwerke der Kastenbeziehungen, der Verwandtschaft und der religiösen Bindungen, um Verträge durchzusetzen und Vertrauen zu schaffen. Viele der Geschäftsleute haben eine geringe formale Bildung, und die meisten haben ihr Wissen über den Handel und die technischen Details der Stoffherstellung von Familienmitgliedern oder anderen Leuten der selben ethnischen Gemeinschaft übernommen.
Die Beziehungen zwischen Unternehmern und Arbeitskräften, die die Webmaschinen bedienen und andere einfache Arbeiten verrichten, sind ebenso informell. Arme Menschen aus ganz Indien strömen auf der Suche nach Jobs nach Surat, wo der Bedarf an Arbeitskräften nach wie vor hoch ist. Die Arbeits- und Lebensbedingungen sind schwierig, doch die Beschäftigten ertragen das, weil die Löhne - obwohl niedrig - hier höher ausfallen als zu Hause.
Wie konnte ein offenbar so anarchischer Ort wie Surat mit seinen einfachen, kleingewerblichen Unternehmern zu einem der führenden Hersteller synthetischer Textilien für den indischen Markt werden? Wo liegt sein Wettbewerbsvorteil gegenüber Indiens großem Textilsektor, der scheinbar so viel moderner und besser organisiert ist? Ein Vergleich zwischen der historischen Entwicklung von Surat und der nahe gelegenen, größeren Stadt Mumbai (früher Bombay), deren bedeutende Baumwollspinnereien einst Indiens Textilindustrie dominierten, ist lehrreich. Surat ist die ältere der beiden Städte. Sie gehörte im 16. und 17. Jahrhundert zu den größten Häfen des Indischen Ozeans - und der Welt. Während ihrer Blütezeit war Surat ein Treffpunkt für Händler aus Afrika, dem Mittleren Osten und anderen Teilen Asiens und Europa.
Die Briten gründeten in Surat Anfang des 17. Jahrhunderts ihre erste Fabrik auf dem Subkontinent und nannten die Stadt "Wiege des Britischen Empires in Indien". Die Lage in einem der führenden Baumwollanbaugebiete machte Surat zu einem Hauptzentrum für die Produktion und das Marketing von Baumwollstoffen. Die Handwerker und Kaufleute der Stadt handelten auch mit einer Vielfalt anderer Textilien einschließlich Seide und jari (Gold- und Silbergarn). Mitte des 18. Jahrhunderts begann der Wohlstand Surats zu verblassen im Vergleich mit dem südlichen Nachbarn Bombay. Als die Briten begannen, Bombay als Ausgangspunkt für die koloniale Eroberung Westindiens zu nutzen, kam Surat nur eine unterstützende Rolle zu. Große Baumwollspinnereien in Bombay und anderen Städten Gujarats und Maharashtras - gestützt von britischen Investitionen, Managementstrategien und technischem Know-how - begannen, die Textilherstellung zu dominieren.
Die Massenproduktion von Baumwollstoffen in Bombay und anderen Städten verdrängte viele der Handwebereien in Surat. Nun stand Surat nicht länger im direkten Zentrum der britischen Aufmerksamkeit, jedoch spielten die Händler der Stadt immer noch eine wichtige Rolle, weil sie den Briten halfen, Zugang zu Indiens enormen einheimischen Kredit-Netzwerken und Handelsrouten zu erlangen - ein unerlässlicher Bestandteil der britischen Expansionsstrategie. Viele vorkoloniale Formen der Organisation des Handels in Surat wurden so erhalten, passten sich aber während der Kolonialzeit veränderten wirtschaftlichen Bedingungen an. Familienfirmen, Unternehmen auf der Basis von Haushalten und kommerzielle Organisationen auf Grundlage der Kasten funktionierten weiterhin, allerdings oft auf neue und innovative Weise.
Während der letzten Jahrzehnte haben ortsansässige Geschäftsleute nichts von ihrer Flexibilität verloren, von ihrer Fähigkeit traditionelle Geschäftspraktiken an aktuelle Anforderungen anzupassen. Der dezentralisierte, zum größten Teil informelle Sektor ist dramatisch gewachsen. Lokale Handwerker haben ihre Kenntnisse der Handweberei in vieler Hinsicht auf die Produktion mit Webmaschinen übertragen und ihre Maschinen umgebaut, um die neuen Sorten synthetischen Garns verarbeiten zu können, die nach dem Zweiten Weltkrieg erhältlich waren. Die Anzahl von Webmaschinen, die in der Stadt betrieben werden, ist von einer handvoll im frühen 20. Jahrhundert bis heute auf über 300.000 sprunghaft angestiegen. Die Bevölkerung ist in den letzten 50 Jahren mit dem Geschäft der Kunstseide von weniger als 250.000 auf über 2 Millionen Einwohner gewachsen.
Der Kontrast zwischen der flexiblen, dezentralisierten Organisation von Surats Weberei-Industrie und der formalisierten, zentralisierten Struktur des Textilsektors in Mumbai ist verblüffend. Die Aufmerksamkeit für die Textilindustrie Indiens konzentrierte sich größtenteils auf den Textilsektor Mumbais und anderer Städte, in dem die Produktion nach traditionellem westlichen Muster zentral geplant abläuft. In diesen Webereien erinnern professionelles Management, formell geregelte Arbeitsbeziehungen und die weit verbreitete Anwendung formeller Verträge über Sozialversicherungen und Löhne an die Ideen Frederick Taylors, den frühen "Experten für Produktivität" und Studenten des "wissenschaftlichen Managements", sowie an Henry Ford, den Pionier des Montagebandes.
Die Webereien in Mumbai sind stark auf staatliche Subventionen und Finanzierungen durch Banken, große Investment-Firmen und andere formale Institutionen angewiesen. Der Textilsektor war einer der am meisten regulierten Industriezweige Indiens. Wegen ihrer Größe und Struktur kann der Staat die Textilfabriken viel einfacher kontrollieren als die kleineren Webereien. Paradoxerweise expandierte die Kunstseide-Industrie, während die großen Webereien in Mumbai und anderen Städten kränkelten. Letztere litten unter fortwährenden Streiks, strikten Regulierungen durch die indische Regierung und sinkender Rentabilität. Mindestens 33 indische Webereien wurden seit 1998 geschlossen, während andere drastische Maßnahmen zur Umstrukturierung vornehmen mussten.
Wie waren die Geschäftsleute von Surat fähig, sich und ihre traditionelle Geschäftsweise so effektiv anzupassen, dass sie den industriellen Weberei-Sektor überholen konnten? Dafür waren einige seit langem bestehende Charakteristika der einheimischen Geschäftskultur und des Sozialsystems besonders bedeutsam. Das Familienunternehmen war das Fundament des wirtschaftlichen Erfolgs von Surat. Mitte des 20. Jahrhunderts begannen die Familien, die zu Hause mit hand- und fußbetriebenen Webstühlen gewebt hatten, elektrisch angetriebene Webmaschinen zu kaufen, darunter viele gebrauchte Maschinen aus den Textilfabriken Bombays. Die geringe Größe und relative Schlichtheit dieser Webmaschinen ermöglichte es den Webern, viele der Methoden zu übertragen, die sie bereits aus der mechanisierten Produktion in den Familienbetrieben kannten. Auch die Händler, die bei den Webern einkauften, nutzten den Vorteil der bereits existierenden Geschäftspraktiken sowie der Netzwerke für das Marketing und den Vertrieb der Kunstseide.
Heute gehört die überwiegende Mehrzahl der Handels- und Webereiunternehmen noch immer denselben Familien und werden auch von ihnen geführt. Ihre Geschäftspartner sind zumeist weitläufig verwandt oder gehören ihrer Kaste oder religiösen Gruppe an. Ethnische Gemeinschaften, die seit Jahrhunderten in Surat leben, konkurrieren nun zwar mit Immigrantengruppen, die erst vor kurzem hierher gezogen sind, aber die Strukturen ihrer Geschäftsnetzwerke auf ethnischer und verwandtschaftlicher Basis bestehen weiterhin. Angehörige einer Gemeinschaft und Verwandschaftsgruppe sind aufeinander angewiesen, um die Finanzierung der Betriebe zu sichern, die notwendigen Fertigkeiten zu erwerben, Marktinformationen zu erlangen und sich gegen Marktschwankungen und die Konkurrenz anderer Gruppen zu schützen oder abzusichern.
Die einzelnen Aufgaben der Stoffherstellung und -vermarktung sind unter spezialisierten Firmen und einzelnen Zwischenhändlern aufgeteilt, die jeweils für spezifische Stadien bei Herstellung und Vertrieb verantwortlich sind. Das Rohmaterial der Kunstseide-Produktion ist ein synthetisches Garn, das in großen, hoch technologisierten, kapitalintensiven Spinnereien außerhalb Surats in Indien und im Ausland hergestellt wird. Das nach Surat gebrachte Garn wird gewöhnlich im Auftrag der Spinnereien von Händlern verkauft, die Netzwerke lokaler Kontakte nutzen. Ein Kaufmann ersteht dann das Garn und schickt es in eine oder mehrere Werkstätten, die das Garn schären oder schlichten und so zum Weben vorbereiten. In diesem als Job Work bezeichneten Arrangement werden die Rohmaterialien einem Subunternehmer überlassen, der bei Lieferung des Endproduktes nach Stückzahl für seine Dienste bezahlt wird. Jobber nennt man diejenigen, die diese Arbeit verrichten. Der Jobber liefert das bearbeitete Garn zurück an den Händler, der es dann an eine Weberei verkauft.
Die Weber verkaufen normalerweise die unbearbeiteten (oder "grauen") Stoffe aus ihren Werkstätten einem Tuchhändler, wobei sie gelegentlich die Dienste eines Tuch-Maklers oder Half Percent Man in Anspruch nehmen. Der Tuchhändler gibt ebenso wie der Garnhändler das Produkt zu Job Work weiter. Die Kunstseide wird in einem Verarbeitungsbetrieb nach den Wünschen des Händlers gefärbt und bedruckt. Schließlich verkauft der Händler den fertigen Stoff - oft über einen adatiya (Kommissionär) - an einen Einzelhändler oder Schneider.
Der informelle und fragmentierte Charakter der Kunstseiden-Industrie vereint eine Anzahl industrieller Vorteile. Der wichtigste ist Flexibilität. Die Firmen können, wenn die Marktlage sich ändert oder wenn sie mit alten Geschäftspartnern unzufrieden sind, ohne Probleme auf neue Lieferanten oder Abnehmer umstellen, weil sie nicht durch langfristige Verträge aneinander gebunden sind. Im Geschäft mit der Kunstseide herrscht eine hohe Konkurrenz. Denn wechselnde Moden sowie Zyklen von Boomphasen und Kurseinbrüchen in Verbindung mit starken Schwankungen beim Rohmaterial-Angebot führen zu schnellen Veränderungen der Nachfrage. Unternehmen mit schwachem Management und jene, die nicht wendig genug sind, werden innerhalb kurzer Zeit von ihren schnelleren Konkurrenten ausgestochen. Die Industrie wird im Ganzen dadurch gestärkt, dass nicht wettbewerbsfähige Firmen entweder aus dem Geschäft gedrängt werden oder sich auf lukrativere Nischen und effizientere Produktionstechniken umstellen. Die zahlreichen Makler und Kommissionäre in der Stadt verbinden die Käufer und Verkäufer. Diese Zwischenhändler stimmen nicht einfach nur Angebot und Nachfrage ab, sondern stellen auch Vertrauen zwischen den Geschäftspartnern her, die sie zusammenbringen, und wirken als Garanten, indem sie für die Kreditwürdigkeit und Verlässlichkeit ihrer Kunden bürgen. Gibt es Streit bei der Abwicklung von Geschäften, werden sie auch als Schlichter tätig.
Die kleingewerblichen Unternehmer von Surat profitierten ebenso von ihrer Fähigkeit, lästige staatliche Regulierungen zu umgehen. In vorkolonialen Zeiten lebten die Händler Surats in ständiger Furcht, dass ansässige Herren und deren Büttel ihren hart erwirtschafteten Wohlstand beschlagnahmen könnten. Dieses Misstrauen gegen die Bürokratie hat sich bis zum heutigen Tag erhalten. Die Einstellung von Surats Geschäftsleuten wird am treffendsten mit einem südasiatischen Sprichwort beschrieben: "Steh niemals hinter einem Pferd oder vor einem Beamten."
Das Gesetz Factory Act verpflichtet Firmen mit zehn oder mehr Beschäftigten, am Arbeitsplatz eine Reihe von Gesundheits-, Sicherheits- und anderen Standards einzuhalten. Viele Familienunternehmen haben weniger als zehn Angestellte, und jene mit mehr Beschäftigten teilen häufig ihre Räume und lassen sich unter verschiedenen Namen registrieren, sodass sie ohnehin von den Regelungen ausgenommen sind. Wenn es für die Beamten schon schwierig ist, die Geschäfte der Familienfirmen im Auge zu behalten, so ist es ihnen praktisch unmöglich, einzelne Makler und Kommissionäre zu kontrollieren, die oft nicht einmal feste Büroadressen haben. Dass einheimische Unternehmer von der lokalen Justiz und Verwaltung nicht erfasst werden können, bedeutet jedoch nicht, dass ihr Verhalten nicht kontrolliert wird. Im Gegenteil: Für zuverlässige Beziehungen zwischen Händlern und Herstellern sorgen der Druck des öffentlichen Ansehens und informelle soziale Sanktionen. Dadurch sparen die Geschäftsleute in Surat auch die beträchtlichen Kosten und Verzögerungen, die aus der Verhandlung eines Streits vor den indischen Gerichten entstehen können.
Surats ungezwungenes kommerzielles und politisches Milieu hat der lokalen Industrie eine einzigartige Dynamik ermöglicht, aber ebenso eine Anzahl von ernsten Problemen hervorgerufen. Anfang der neunziger Jahre erlitt Surat eine Reihe von harten Rückschlägen: Auf gewaltsame Ausschreitungen gegen Muslime und Christen um die Jahreswende 1992/1993 folgte 1994 ein Ausbruch der Lungenpest. Die hohen Kosten dieser Vorfälle für Surat - bemessen nach Menschenleben und wirtschaftlichem Schaden - führten zu einer Neuabwägung der Kosten und des Nutzens einer lokalen Entwicklungsplanung. Es wurde deutlich, dass die tiefer liegenden Ursachen für die Ereignisse im unkontrollierten urbanen Wachstum und dem Zusammenbruch einer effizienten lokalen Verwaltung zu suchen waren.
Informelle Kontrollen können lediglich die Ordnung und die Wirtschaftlichkeit in der Stadt garantieren; ohne eine funktionierende Stadtverwaltung aber kommt es zu einer Reihe von Folgeproblemen. Dazu zählen etwa sich ausbreitende Korruption und organisiertes Verbrechen sowie der Zusammenbruch der städtischen Infrastruktur, wie an schlechten Straßen, willkürlicher Planung und dürftigen öffentlichen Gesundheitseinrichtungen zu sehen ist.
Eine andere dunkle Seite des industriellen Wachstums von Surat ist die schlechte Behandlung der einheimischen Arbeitskräfte. Organisierte Aktionen von Arbeitnehmern und Gewerkschaften gibt es so gut wie gar nicht. Arbeitnehmer erhalten keine vertraglichen Sozialleistungen, ihre Jobs sind unsicher, und sie bekommen oft weniger als den Minimallohn. Sie leben in einem der vielen erbärmlichen Slumgebiete der Stadt ohne grundlegende Einrichtungen wie Wasseranschlüsse oder Kanalisation.
Die zweite wichtige Bewährungsprobe für die Menschen von Surat kommt von außen: die Globalisierung. Das Multifibre Arrangement (MFA), das den Industrieländern das Recht einräumt, mit Quoten den Import von Textilien aus Entwicklungsländern wie Indien zu beschränken, aber diese Quoten auch garantiert, läuft im Jahr 2005 im Einklang mit dem Abbau internationaler Handelsbarrieren aus. Surats Unternehmer müssen sich deshalb darüber klar werden, wo und wie sie auf den weltweiten Märkten am besten konkurrieren können.
Die Geschäftsleute Surats müssen prüfen, wie sie ihre Produkte verbessern können, um auf den Märkten des Westens konkurrieren zu können, wo die Qualitätsstandards um einiges höher als in Indien liegen. Zu Hause werden sie ebenso zu entscheiden haben, wie sie auf zunehmende Mitbewerber wie beispielsweise aus China reagieren, die den indischen Markt mit billigen Stoffen aus Massenproduktion überfluten können. Surats Geschäftsleute werden schnell neue technische Lösungen wie schiffchenlose Webmaschinen sowie Informationstechnologien einführen müssen, welche die Herstellungsgeschwindigkeit und -qualität, die Verwaltung der Warenlager und die Kommunikation zwischen Produzenten und Einzelhändlern verbessern können. Doch technische Innovationen sind nur ein Teil der zu lösenden Aufgabe, denn Indiens Unternehmer werden sich auch an neue internationale Standards des Arbeitsrechts und des Umweltschutzes halten müssen.
Surat befindet sich zu Anfang des 21. Jahrhunderts an einem wichtigen Scheideweg. Innerhalb der letzten zehn Jahre haben die Menschen in Surat erkannt, dass die Zeiten des Booms zu Ende gehen, wenn sie sich nicht den internen Problemen und externen Anforderungen stellen. Ob Surats Unternehmer dem gewachsen sind, bleibt abzuwarten. Über Jahrhunderte haben sie unzählige Krisen überstanden, die sie stärker und erfolgreicher gemacht haben. In Krisen- wie in Blütezeiten haben sie immer Möglichkeiten gefunden, sich anzupassen. Der Vergangenheit nach zu urteilen, werden sie mit der ihnen eigenen Hartnäckigkeit und Flexibilität reagieren und die Vorteile lokalen Wissens mit neuen Technologien und Methoden schöpferisch verbinden. Schließlich ist Surat in vieler Hinsicht kein Neuling in der Weltwirtschaft - sondern ein seit 500 Jahren aktiver Teilnehmer.
aus: der überblick 04/2001, Seite 74
AUTOR(EN):
Garrett Menning:
Garrett Menning arbeitet als Unternehmensberater in der Abteilung für Kleinbetriebsentwicklung der US-amerikanischen Entwicklungsbehörde USAID. Zuvor hat er an der University of California at Santa Barbara promoviert und am "Center for South Asia Studies" der University of California at Berkley geforscht. Die in diesem Artikel geäußerten Ansichten sind die des Autors und stimmen nicht unbedingt mit denen von USAID überein.