Ein großer Teil der Zugewanderten in Europa stammt aus dem Maghreb
Die Europäische Union macht es Zuwanderern aus dem Süden schwer, sich legal in Europa aufzuhalten. Das hat bisher aber die Zuwanderung aus dem Maghreb nicht aufgehalten. Zum einen kommen weiterhin Familienangehörige von Maghrebinern, die schon länger in Europa leben, in die EU. Zum anderen überqueren Nordafrikaner illegal die Grenze und leben dann in Europa weitgehend rechtlos. Daran wird sich wenig ändern, solange der Unterschied zwischen Reich und Arm an beiden Seiten des Mittelmeers derart groß ist und die Länder des Maghreb ihren gut ausgebildeten Jugendlichen keine Perspektive bieten können.
von Simona Costanzo
Den Mittelmeerraum, eine der Wiegen der Zivilisation, durchzieht heute eine Trennlinie zwischen Armut und Reichtum. Die Leitbilder der europäischen Konsumgesellschaften machen an dieser Trennlinie jedoch nicht halt. Sie wecken im Gegenteil auch am südlichen Ufer des Meeres Begehrlichkeiten, die mit den vor Ort vorhandenen Mitteln nicht befriedigt werden können. Mit über zwei Millionen Menschen zählen Maghrebiner zu einer der größten Einwanderergruppen in der Europäischen Union (EU). Selbst die früheren Auswanderungsländer Spanien und Italien sind zu Zielen der Armutswanderung geworden.
Obwohl mittlerweile alle Staaten der Europäischen Union die Einreisebedingungen verschärft haben, erreichen maghrebinische Arbeitsmigranten nach wie vor die Länder ihrer Hoffnungen - manchmal unter abenteuerlichen Bedingungen. Für die Maghrebländer spielt die Auswanderung eine wichtige Rolle als Ventil für ihren überlasteten Arbeitsmarkt. Bis in die achtziger Jahre wurde die Emigration von den dortigen Regierungen bewußt als Instrument der Arbeitsmarktpolitik eingesetzt.
Die ökonomischen, politischen und sozialen Bedingungen im Maghreb wirken als starke Push-Faktoren für die Abwanderung: die hohe Arbeitslosigkeit bei gleichzeitig hohem Bildungsniveau, die Strukturschwäche in der Landwirtschaft verbunden mit relativ hohen Geburtenraten vor allem in ländlichen Gebieten, die politisch und sozial einengenden Verhältnisse, denen vor allem die vielen jungen Menschen - mit einem sehr hohen Anteil an der Gesamtbevölkerung - zu entfliehen suchen. In den Ländern des Maghreb vollzieht sich zwar bereits der demographische Übergang hin zu einer geringeren Geburtenrate. Dennoch werden nach Schätzungen für das nächste Vierteljahrhundert weiterhin jedes Jahr etwa eine Million zusätzliche junge Arbeitsuchende auf die Arbeitsmärkte des Maghreb drängen, bis die weniger geburtenstarken Generationen den Arbeitsmarkt erreichen.
Der verstärkte Migrationsdruck und die geographische Nähe dieser Länder zu Europa haben die EU seit Mitte der neunziger Jahre veranlaßt, eine aktive Mittelmeerpolitik zu betreiben; sie versucht, die Ursachen der Auswanderung vor Ort zu bekämpfen und zugleich neue Märkte für die Union zu öffnen. Die Wirtschaftsreformen im Maghreb, die eine Freihandelszone mit der Europäischen Union vorbereiten sollen, könnten mittelfristig aber eher zu einer größeren Migrationsbereitschaft führen, statt die Auswanderung zu verringern. Denn die erhöhte Konkurrenz von Produkten aus der Europäischen Union auf dem Markt der Maghrebländer sowie die Entlassung öffentlicher Angestellter aus dem aufgeblähten Verwaltungsapparat führen zunächst zu einer höheren Arbeitslosigkeit. Auch die Spezialisierung auf arbeitsintensive Sektoren des Handwerks und der Industrie - vor allem auf den Textilsektor - führt tendenziell zu einer Mehrbeschäftigung von Frauen, die bisher nicht auf dem Arbeitsmarkt aufgetreten sind, und insofern nicht zu einem Abbau der Gesamtarbeitslosigkeit. Von Investitionen im Texilsektor erhoffen sich ausländische Anleger einen Standortvorteil wegen der geringen Lohnkosten; aber gerade das Lohngefälle, auf dem die Investitionsbereitschaft der privaten Firmen aus Europa beruht, wird für junge, gebildete und motivierte Maghrebiner weiter ein Grund sein, ihr Glück dort zu suchen, wo mehr zu verdienen ist. Sie handeln frei nach dem französischen Bonmot "Wenn der Reichtum nicht zu den Menschen kommt, gehen die Menschen eben zum Reichtum".
Gleichzeitig führt die wirtschaftliche Struktur in den europäischen Aufnahmeländern zu einem Bedarf an illegal arbeitenden, billigen Arbeitskräften, die in einer prekären rechtlichen Situation leben. Bei den Arbeitsbedingungen für irreguläre Einwanderer, insbesondere in den neuen Aufnahmeländern Italien und Spanien, drängt sich bisweilen die Frage nach einer modernen Sklaverei auf. Doch die Regierungen der EU wollen diesen Arbeitskräftebedarf nicht eingestehen; die ansonsten vielgepriesenen Prinzipien des freien Marktes gelten im Falle der Einwanderer nicht. Wie der Journalist Van Buuren in der Monatszeitung Le Monde diplomatique feststellt:
An der Frage der Migration zeigt sich ein großes Paradoxon des neoliberalen Diskurses. Er predigt Deregulierung, Flexibilität und Privatisierung und stimmt Lobeshymnen auf den minimalen Staat und den freien Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr an. Aber sobald es um den freien Personenverkehr und um Fragen des Asylrechtes geht, werden andere Spielregeln angewandt."
Die Anfänge der maghrebinischen Einwanderung nach Europa reichen weit zurück. Zahlenmäßig bedeutsam wurde sie allerdings erst mit der Arbeitsmigration des 20. Jahrhunderts. Drei Phasen der jüngeren Einwanderung aus dem Maghreb lassen sich unterscheiden: die Zeit vor der Unabhängigkeit der maghrebinischen Staaten - 1956 im Falle Marokkos und Tunesiens, 1962 für Algerien -, die Periode von der Unabhängigkeit bis zum Einwanderungsstop in verschiedenen europäischen Ländern 1973-74 sowie die Zeit seitdem.
Vor der Unabhängigkeit der Länder des Maghreb war die Emigration von dort nach Europa praktisch gleichbedeutend mit der Auswanderung nach Frankreich. Die berberophone Kabylei Algeriens war eine der Auswanderungsregionen par excellence. Im Zuge der beiden Weltkriege wurden viele Maghrebiner als Arbeitskräfte rekrutiert, um jene Franzosen zu ersetzen, die als Soldaten ihren Dienst an der Front leisteten und als Arbeitskräfte im Inland ausfielen. Zugleich wurden Hunderttausende Maghrebiner als sogenannte tirailleurs maghrébins (maghrebinische Infanteristen) für militärische Aufgaben mobilisiert.
Die Unabhängigkeit gab zwar den ehemals Kolonisierten ihre Würde zurück, konnte jedoch nicht das Verlangen nach Modernität und sozialer Mobilität stillen. Die alte Kolonialmacht Frankreich blieb also weiterhin das Wunschziel. Der wirtschaftliche Aufschwung in Europa in den fünfziger und sechziger Jahren führte zu einem gesteigerten Bedarf an Arbeitskräften und zu einer Beschleunigung der Arbeitsmigration - nun auch in andere Aufnahmeländer. Verstärkt wurde diese Entwicklung dadurch, daß sich die Mobilität der Menschen in den Herkunftsregionen erhöhte. Zwischen 1963 und 1969 schlossen Deutschland, Frankreich, Belgien und die Niederlande Anwerbeverträge mit Marokko. Die Einwanderer waren in dieser Phase überwiegend männlich, kamen allein und legten ihren Aufenthalt für eine kurze Dauer von wenigen Jahren an.
Die Einstellung der europäischen Aufnahmeländer zur Arbeitsmigration änderte sich in dem Moment, als ihre Wirtschaft nach der Ölkrise von 1973 stagnierte: Der Anwerbeprozeß wurde gestoppt. Die Jahre 1973 und 1974 stellten deshalb einen Bruch in der modernen Arbeitsmigration nach Europa dar. Lediglich bestimmte Kategorien von Arbeitnehmern, wie Saisonarbeiter in der Erntezeit, wurden von den europäischen Aufnahmeländern weiterhin über bilaterale Abkommen angeworben.
Dennoch ging die Zahl maghrebinischer Migranten in Europa daraufhin nicht rapide zurück. Die maghrebinischen Gemeinden konsolidierten sich vielmehr im Zuge der Familienzusammenführung, die es Angehörigen bereits eingewanderter Migranten erlaubte, in die ehemaligen Anwerbeländer einzureisen. Die Familienzusammenführung veränderte das Profil der maghrebinischen Bevölkerung in Europa: Sie wurde jünger, der Anteil der Frauen und Mädchen nahm zu, die durchschnittliche Aufenthaltsdauer der Einwanderer verlängerte sich, und ihre klassischen Arbeitsfelder verlagerten sich vom produzierenden Gewerbe auf den Dienstleistungssektor. Die Zunahme der Bevölkerung maghrebinischer Herkunft läßt sich in den klassischen Aufnahmeländern nicht mehr nur auf vermehrte Einwanderung zurückführen, sondern ist auch eine Folge des natürlichen Bevölkerungswachstums in den bereits dort ansässigen maghrebinischen Gemeinden.
Mit dem Einwanderungsstop stieg auch die Bereitschaft, die Grenzen heimlich zu überwinden und sich ohne Aufenthaltspapiere im Land zu bewegen. Wegen des hohen Risikos eines illegalen Grenzübertritts bevorzugten viele Migranten und Migrantinnen verstärkt einen Aufenthalt in einem der bisherigen Durchreiseländer Spanien und Italien, die für Maghrebiner bis Anfang der neunziger Jahre keine Visumspflicht vorsahen. Auch heute noch gilt, daß die über 7000 Kilometer lange "blaue" Außengrenze Italiens extrem schwierig zu kontrollieren ist. Dies hat bereits zu Verstimmungen mit Deutschland und Österreich geführt, denn diese beiden Staaten befürchten, die illegalen Einwanderer befänden sich lediglich auf der Durchreise zu ihnen.
Die Länder Südeuropas sind aber nicht nur deshalb für Auswanderer aus dem Maghreb attraktiv, weil die Hürden bei der Einreise niedriger sind. Der Wirtschaftsaufschwung in den europäischen Mittelmeerländern hat dort auch eine verstärkte Nachfrage nach Arbeitskräften mit sich gebracht. Auf ihre neue Rolle als Einwanderungsländer waren diese ehemaligen Auswanderungsländer zunächst nicht eingestellt. Lediglich bestimmte Regionen, wie Sizilien oder Andalusien, hatten schon traditionell auf maghrebinische Saisonarbeiter in der Landwirtschaft zurückgegriffen.
Sowohl in Spanien als auch in Italien stellen heute die Marokkaner die größte Gruppe von Zuwanderern. Insgesamt ist die Zusammensetzung der Migranten jedoch vor allem in Italien von einer großen Vielfalt geprägt - über 170 verschiedene Nationalitäten sind vertreten, von denen die Marokkaner etwa 11 Prozent ausmachen. Seit den achtziger Jahren verliert die maghrebinische Einwanderung nach Südeuropa zunehmend ihren saisonalen Charakter. Die Aufenthalte sind auf längere Dauer, wenn nicht gar als endgülige Übersiedlung angelegt. 1993 waren schätzungsweise 1,5 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU nordafrikanischer Herkunft. Etwa zwei Millionen dieser Einwanderer besitzen heute die Staatsangehörigkeit des Aufnahmelandes; die meisten davon sind Franzosen.
Die Länder Südeuropas trugen der Einwanderung ab Mitte der achtziger Jahre durch verschiedene Gesetzesinitiativen und Amnestien Rechnung. Die Gesetzesinitiativen hatten durchweg zum Ziel, die Grenzen der Aufnahmeländer dichter zu machen und die Integration der bereits anwesenden Migranten zu erleichtern. Amnestien sollten es Migranten, die schon illegal im Land waren, ermöglichen, unter bestimmten Bedingungen eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten. Auf diese Weise sollten sie in den offiziellen Arbeitsmarkt des Landes integriert werden. Außerdem sollte die Anwesenheit von Einwanderern transparenter und damit kontrollierbarer gemacht werden.
Im Zuge solcher Amnestien erhielten in Italien etwa 900.000 irreguläre Einwanderer einen offiziellen Status; das sind mehr als die Hälfte all jener Migranten, die seit 1981 in Westeuropa einen solchen Status zugesprochen bekamen. Dennoch war die Amnestiepolitik nicht in jeder Hinsicht erfolgreich. Wo die Amnestieregelung vorsah, daß der betreffende Einwanderer ein Einkommen und einen Wohnsitz sowie die Abführung von Sozialabgaben nachweisen mußte, führte sie zu einem ausgedehnten Schwarzhandel mit falschen Papieren und Erklärungen. Häufig waren die tatsächlichen Arbeitgeber oder Vermieter nicht bereit, entsprechende Erklärungen auszustellen, da sie selbst die gesetzlich vorgesehenen Abgaben nicht entrichtet hatten. In einigen Fällen waren die Arbeitgeber bereit, einen befristeten Arbeitsvertrag auszustellen unter der Bedingung, daß der betroffene Migrant auch den Arbeitgeberanteil an den Sozialabgaben übernahm. Es bestand zwar die Möglichkeit, den unwilligen Arbeitgeber oder Vermieter anzuzeigen und auf diese Art eine Bescheinigung zu erhalten. Dies führte allerdings unweigerlich auch zum Arbeitsplatz- beziehungsweise Wohnungsverlust, den viele Migranten nicht riskieren wollten oder konnten. Auch die selbständig im informellen Sektor tätigen Straßenhändler mußten andere Mittel und Wege finden, ihren Status zu legalisieren.
Insgesamt führten die Amnestien zusammen mit der Verschärfung der Abschieberegelungen dazu, daß viele Migranten erpreßbar wurden und sich in die Hände zweifelhafter Zwischenhändler begeben mußten, um an falsche oder echte Unterlagen zu kommen. Im Zuge der Amnestien entwickelte sich schließlich auch ein gewisser "Amnestietourismus" sowohl aus den Herkunftsländern nach Europa als auch zwischen europäischen Ländern - etwa wenn illegale Einwanderer von einem Land in ein anderes gingen, weil sie dort einen legalen Status erhalten konnten. Spanien hat gerade ein neues Amnestiegesetz auf den Weg gebracht; danach sollen alle Einwanderer, die vor dem 1. Juli 1999 illegal eingereist sind, eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten.
Eine Aufenthaltsgenehmigung ist eine wichtige Voraussetzung für die Integration in die Gesellschaft des Aufnahmelandes. Sie garantiert ein vorübergehendes Bleiberecht und gewährt so eine gewisse Planungssicherheit und Schutz bei Polizeikontrollen. Auch die Eingliederung in den offiziellen Arbeitsmarkt ist nur mit einer Aufenthaltsgenehmigung möglich. Darüber hinaus erleichtert es eine Aufenthaltsgenehmigung den Migranten, Kontakt zum jeweiligen Heimatland zu halten, da sie nach einem vorübergehenden Aufenthalt im Maghreb eine reibungslose Rückkehr garantiert.
Die maghrebinischen Gemeinden der neuen Einwanderungsländer im Süden Europas unterscheiden sich von den Migranten, die im Zuge der Anwerbeverträge in den siebziger Jahren nach Europa gekommen waren. Während nach Frankreich, Deutschland, Belgien und in die Niederlande vor allem Männer aus ländlichen Gebieten des Maghreb mit sehr geringer Schulbildung kamen, befinden sich unter den Migranten der achtziger und neunziger Jahre verstärkt jüngere Männer und Frauen aus städtischen Gebieten mit mittlerer bis guter Ausbildung. Maghrebinische Frauen kommen nicht mehr ausschließlich im Zuge der Familienzusammenführung nach Europa, sondern verstärkt auch aus Gründen, die mit ihrem individuellen Lebensentwurf zu tun haben. Vor allem die jüngeren, gebildeteren Migranten verfolgen überwiegend individualistische Ziele wie die Fortsetzung einer Ausbildung und die Partizipation an einer modernen Gesellschaft.
Für die meisten Migranten spielt der "Mythos Europa" - das Bild von einer gerechten Gesellschaft, in der man viel Geld verdienen und sich selbst verwirklichen kann - eine wichtige Rolle. Natürlich zerplatzen diese Hoffnungen häufig schon bald nach der Ankunft im "gelobten Land". Doch kaum ein Migrant möchte seine Enttäuschung gegenüber der Familie offen zugeben. Der Erwartungsdruck der Familie im Maghreb ist zu groß, und das Bild der Konsumgesellschaften Europas ist dort zu positiv besetzt. Die Probleme des Einzelnen werden nur allzu leicht als sein persönliches Versagen interpretiert.
Für die Wahl des Wohnortes spielen neben den Einreiseformalitäten in den jeweiligen Ländern auch Netze von Familienbeziehungen eine wichtige Rolle. Darin sind die Familienangehörigen sowohl im Herkunfts- als auch im Aufnahmeland eingebunden. Wenn bereits Angehörige der Großfamilie in Europa sind, erleichtert dies das Zurechtfinden in einer neuen Umgebung wesentlich und sorgt gleichzeitig dafür, daß der Migrant oder die Migrantin in ein aus der Herkunftsregion stammendes Sozialgeflecht integriert bleibt. Auch alleinstehende Migranten unterliegen über die Verwandtschaftsnetze der sozialen Kontrolle ihrer Gemeinschaft. Die Migranten sind in ein gegenseitiges System der Solidarität innerhalb und zwischen Familien eingebunden, das die Bessergestellten verpflichtet, die Schwächeren oder Neuan-kömmlinge zu unterstützen. Die Verwandten werden als strategische Brückenköpfe wahrgenommen, die eine wesentliche Voraussetzung für die große Mobilität der Migranten sind. Sie machen es möglich, bessere Arbeitsmöglichkeiten in einer anderen Gegend zu erkunden und eine materiell abgesicherte Existenz aufzubauen. Männer sind in der Regel mobiler als Frauen und Alleinstehende mobiler als Familienväter.
Die Lebensweise der Migranten in Europa hängt stark davon ab, ob sie allein oder mit ihrer Kernfamilie dort leben. Erst die Anwesenheit einer Familie verwandelt einen Unterschlupf in ein Zuhause und zwingt die Migranten gleichzeitig dazu, einen größeren Teil ihrer Ersparnisse direkt im Aufnahmeland zu investieren. Je nachdem wie stark der Aufenthalt in Europa darauf ausgerichtet ist, für eine Investition im Maghreb zu sparen, kommt den Rimessen, den Geldüberweisungen der Migranten, für ihre persönlichen Entscheidungen eine mehr oder weniger wichtige Rolle zu.
Die Rimessen sind zu einer der wichtigsten Einnahmequellen der Maghrebstaaten geworden und stellen einen wichtigen Beitrag zum Ausgleich ihrer Zahlungsbilanz dar. Das Gesamtvolumen der Rimessen läßt sich nur schätzen, da viele Maghrebiner nicht die offiziellen Kanäle der Banküberweisungen nutzen, sondern ihr Geld über private Vermittler versenden. Darüber hinaus bevorzugen es viele Migranten, anstelle von Bargeld Haushaltswaren und andere Güter während eines Heimaturlaubes mitzubringen. Es wird geschätzt, daß beispielsweise die marokkanischen Migranten bis zu einem Drittel des transferierten Geldwertes in Gütern ausführen. Die Transformation der ehemaligen Auswanderungsländer Südeuropas in Einwanderungsländer läßt sich auch an den ein- und ausfließenden Rimessen ablesen: So überstiegen etwa die Rimessen, die von Migranten aus Italien in ihre Herkunftsländer transferiert wurden, 1998 erstmals die Überweisungen der italienischen Emigranten aus dem Ausland.
Die Einwanderung aus dem Süden und Osten in die EU ist das Produkt einer Weltwirtschaftsordnung, die von großen Ungleichgewichten in Wachstum und Wohlstand geprägt ist. Daß die EU sich abschottet, um ihren Wohlstand zu wahren, und gleichzeitig das wirtschaftliche Gefälle zu den Nachbarregionen ausnutzt, weckt bei der maghrebinischen Bevölkerung das Bedürfnis, am Wohlstand "innerhalb der Festung" teilzuhaben. Nachtsichtgeräte und Kontrollen auf dem offenen Meer sind keine wirksamen Instrumente, um potentielle Migranten zu entmutigen.
Eine Politik, die die Abwanderung aus dem Maghreb bremsen, die Migration regulieren und den damit verbundenen Wegzug von gut Ausgebildeten aus dem Süden verhindern will, müßte begleitet werden von einer gemeinschaftlichen Nord-Südpolitik der lokalen Entwicklung. Sie müßte auf eine Umverteilung des Wohlstandes abzielen, auch wenn dies nur durch eine Senkung des Lebensstandards in den satten Ländern zu erreichen ist. Ein angemessener Umgang mit Zuwanderung in Europa ist nur in Sicht, wenn das Phänomen der Migration unter pragmatischen Gesichtspunkten betrachtet wird und nicht darüber diskutiert wird, ob ein Land ein Einwanderungsland sein will oder nicht, wenn es doch faktisch eines ist.
aus: der überblick 04/1999, Seite 16
AUTOR(EN):
Simona Costanzo:
Simona Costanzo ist in Rom in der Bildungsarbeit mit internationalen Jugendorganisationen und NGOs tätig und auf Migration und interkulturelle Beziehungen spezialisiert. Sie hat in München im Fach Sozialgeographie über die Zuwanderung aus dem Maghreb promoviert.